Formular/e (2)

[Im Anschluss an Formular/e 1 und damit verwoben:]

Bei Formularen und deren jahrhundertealter Anwendungszeit, diachron zu allen medientechnischen Entwicklungen, handelt es sich um normierte Dispositive, die auf eine serielle Nutzung ausgelegt sind. Die lange Entwicklungsgeschichte (in der für das 19. Jahrhundert beispielsweise Charles Babbage eine Rolle spielte) und die Etymologie der Begrifflichkeit spielen bei einer Bewertung dieser Erscheinungsform ebenso mit herein, wie die Abneigungen ihr gegenüber, die Ansprüche an leichte Nutzbarkeit, die Standardisierung von Daten und Auswertung derselben, Verfahren ihrer Zurichtung von handgeschriebenen Formularbüchern über Vordrucke für militärische und steuerliche Erfassung bis hin zu den digitalen Formularen und den Social Media. Nicht zuletzt diese brachten die Formularfelder im 21. Jahrhundert mit zahlreichen weiteren Möglichkeiten der Nutzung (und Datenerfassung) auf nahezu jedes Endgerät und öffneten sie derart zusätzlich zum staatlichen und halbstaatlichen Bereich für die kommerzielle Nutzung; die Grenze von Bürger und Kunde scheint im neoliberalen Geist längst in beide Richtungen überschritten worden zu sein und gerade das Formular ist hierbei dieSchnittstelle, die zuvorderst in Anschlag zu bringen ist und gebracht wird. So wie Facebook, Alphabet, Amazon, Apple, Microsoft und selbst kleine bis mittelständische Unternehmungen auf bis vor kurzem ungekannte (Formen der) Datengenerierung setzen, lösen staatliche Institutionen zunehmend ihre Schalter auf, setzen »24/7« als Amtszeit auf ihre Websites und sehen zu, dass Formulare so mobil werden wie die StaatsbürgerInnen und ihre Smartphones. Nach der Eingabe und der Legitimierung, dem Existenznachweis, folgt da wie dort die Ver- und Aufarbeitung.

Die algorithmischen Steuerungsprozesse ›unter‹ den hinterleuchteten Schreiboberflächen des 21. Jahrhunderts – als wüsste die Oberfläche nichts von ihrer Tiefe – bedingen andere Schnittstellen und Anschlussfähigkeiten als noch die analoge Datenverwaltung. So wie aus Einzelmedien durch v.a. elektronische Verschaltungen Medienverbünde entstanden, sind es heute statt (im Wortsinn) manipulativer Registraturen zunehmend – ohne weitere Eingriffe zweibeiniger Rechner – kanalisierbare Datenverbundströme, die funktional die mit den Formularfeldern verschalteten Datenbanken bespielen. Die Fragen, was ein Formular ist, welche Geschichte es durchlief und wie sich seine mediale Grammatologie änderte, welche Erscheinungsformen sich feststellen lassen, wie der Wechsel von analogen zu digitalen Formatierungen zu bestimmen ist, ob es Möglichkeiten der Partizipation und Kontrolle ebenso gibt wie jene der Manipulation, wären aufzugreifen. Hier spielen Fragen der Text- und Sprachwissenschaft, der Kulturtechnik, von Herrschaft und Kontrolle, Standardisierung und Formen des Widerstands wesentliche Rollen, und das Formular erweist sich vielfach als Schnittstelle von Individuen und einem ›Apparat‹. 

Ausgehend von einem offensichtlich gemeinsamen Erkenntnisinteresse – was sind Formulare, welche Geschichten sind zu erzählen und welche Implikationen sowie Grammatologien zu beachten, welche Zusammenhänge sind herzustellen, wer entwirft sie, welche Regeln gibt es und wer unterwirft sich diesen im Rahmen von sowohl Schreib- als auch (Aus-)Leseakten – sollten Möglichkeit eröffnet werden, eine Verhandlung der sozusagen 4. Kränkung – jener des Stolzes der bürgerlichen Bürokratie wie anderer Professionen, dass Rechenprogramme zunehmend übernehmen – anhand eines ubiquitären Phänomens wie eben des Datentransformationsmediums »Formular« anzusetzen. Entscheidungen werden (die Frage nach der Rechtssicherheit wäre nur eine von vielen dabei zu stellenden) nach den analog gesetzten Feldbegrenzungen und gedruckten Schreibanleitungen zunehmend durch Software-Steuerungen vorgenommen und unterminieren damit scheinbar die Erzählung von der Unabdingbarkeit des professionellen menschlichen Eingriffs zugunsten einer korrekten Entscheidung. 

Die oft angeführten Verluste (Geld und Leben), die in Speichersystemen festgeschriebene Dokumentation von Lebensabschnitten und das Begehren nach dem Schutz von Daten gegenüber als unbefugt deklarierten ›Dritten‹ (die Frage stellt sich: wer ist das Gegenüber?) sind wohl mit jene Faktoren, die ein weit verbreitetes Unwohlsein gegenüber dem Aufschreibesystem Formular seit Jahrhunderten befördern. Vielleicht waren es unterirdische Kanäle des Wissens oder gedruckte der Literatur, die über Jahrhunderte hin die Assoziation von Formularen mit Zensus, Fiskus, Militär transportierten. Mit der Privatisierung, Kapitalisierung und Digitalisierung von Formularen kommt jedoch etwas in Bewegung.

Die Schreibfläche Formular ist nicht mehr einfach als starre Größe mit Bezugsrahmen zu denken und bleibt doch bis auf weiteres ein Gestell der Verwaltung, Teil von deren mechané. Um im Bild zu bleiben: es ist ratsam, darauf zu achten, dass nicht bald ein ganz neuer Minotaurus am digitalen Schalter sitzt.

Richtlinien für die Verfassung von Dienstschriften und die Verwendung von Formularen im Sicherheitswachdienst. Wien 1965