Gedanken zu verbergen (1)

Im 52. Kapitel von Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« heißt es:

Er [Sektionschef Tuzzi; Anm.] erinnerte sich an den Ausspruch Voltaires, daß die Menschen die Worte nur anwenden, um ihre Gedanken zu verbergen, und der Gedanken sich nur bedienen, um ihre Ungerechtigkeiten zu begründen. Gewiß, das war immer Diplomatie gewesen.

Ist das Voltaire? Lässt man die »Quelle: Internet« beiseite, sind hier noch viel mehr Optionen für einen Urheberschaftsstreit auszumachen, als dass Musil sich in Form einer sehr präzisen Verschleifung das hätte entgehen lassen. 

Im »Büchmann« von 1898 (Link bzw. s.u.) wird zu der seitens Robert Musil der Figur des Sektionschef Tuzzi zugeschriebenen, erinnerten Bemerkung an Voltaires Sentenz angeführt:

Barère (“Mémoires”, Par. 1842, T. 4, p. 447) erzählt, dass Talleyrand (1754-1838) 1807 in einer Unterredung mit dem spanischen Gesandten Jzquierdo, der ihn an seine zu Gunsten Karls IV. von Spanien gemachten Versprechungen erinnerte, gesagt habe:
La parole a été donnée à l’homme pour déguiser sa pensée.
Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen,
was als eine witzige Umdrehung des Satzes von Molière (“Le mariage forcé” Sc. 6. Pancrace) erscheint:
“La parole a été donnée à l’homme pour expliquer sa pensée.”
Heinrich Heine hingegen schreibt (“Ideen. Das Buch Le Grand” 1826. Kap. XV; Ges. W. I, 296) ersteres Wort Fouché in der Form zu:
Les paroles sont faites pour cacher nos pensées.
Vor Talleyrand und Fouché jedoch liess Voltaire (Dialog 14 “Der Kapaun und das Masthuhn”) den Kapaun sagen: “Die Menschen bedienen sich des Gedankens nur, um ihre Ungerechtigkeiten zu begründen, und sie wenden die Worte nur an, um ihre Gedanken zu verbergen”; und vor Voltaire sagte Young († 1765) in der Satire “Universal passion, the love of fame”, II, v. 207:
Where nature’s end of language is declined,
And men talk only to conceal the mind.
Wo man den Zweck der Sprachnatur verneint
Und man nur spricht, zu hehlen, was man meint.
Der Gedanke ist den Alten entlehnt; denn schon in der Spruchsammlung des sogenannten Dionysius Cato lautet das 26. Distichon des 4. Buches:
Perspicito tecum tacitus quid quisque loquatur;
Sermo hominum mores et celat et indicat idem;
Ganz im Stillen bedenk’ es mit dir, was Einer gesprochen;
Menschliche Rede verhüllt die Gesinnung so, wie sie sie anzeigt;
nachdem längst zuvor Plutarch (“de recta ratione audiendi” c. 7, p. 41 D.) bemerkte: αἱ δὲ τῶν πολλῶν διαλέξεις καὶ μελέται σοφιστῶν … τοῖς ὀνόμασι παραπετάσμασι χρῶνται τῶν διανοημάτων … (Die meisten Sophisten brauchen in ihren Streitübungen und Kunstreden die Worte als dichten Schleier für die Gedanken.)—

Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des deutschen Volkes. Gesammelt und erläutert von Georg Büchmann. Fortgesetzt von Walter Robert-tornow. 19. verm. u. verb. Auflage, Berlin: Haude & Spener’sche Buchhandlung [F. Weidling] 1898, S. 487f.

Der Duden Bd. 12 (Zitate und Aussprüche. Herkunft und aktueller Gebrauch) hat offensichtlich bei Büchmann Anleihen genommen:

Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen.
Das sentenzhafte Zitat (im Original: La parole a été donnée à l’homme pour déguiser sa pensée) ist ein Ausspruch von Napoleons Minister Talleyrand aus dem Jahr 1807 gegenüber den spanischen Gesandten Izquiero, als dieser ihn an seine Versprechungen erinnerte. Heinrich Heine legt in ›Ideen. Das Buch Le Grand‹ 1826 eine abgewandelte Formulierung dem Polizeiminister Joseph Fouché in den Mund: Les paroles sont faites pour cacher nos pensées (›Die Worte sind dazu da, unsere Gedanken zu verbergen‹). In einem sehr ähnlichen Zitat, das Talleyrand benutzt haben könnte, sagt Voltaire (16996–1778) in seinem ›Dialogue du Chapon et de la Poularde‹ von den Menschen: ›Sie gebrauchen ihren Verstand nur, um ihr Unrecht zu rechtfertigen, und ihre Sprache allein, um ihre Gedanken zu verbergen‹ (im Original: Ils ne se servent de la pensée que pour autoriser leurs injustices, et n’emploient les paroles que pour déguiser leurs pensées).

Das einschlägige Zitat für den diplomatischen Hausgebrauch – um darauf zurückzukommen, worum es anfangs so einfach ging – findet sich somit möglicherweise in Voltaires »Dialogue xiv, Le Chapon et la Poularde« (l763), wenn im so vielleicht übersetzbaren »Dialog zwischen dem Kapaun und der Poularde« die Masthenne über die Menschennatur und deren Böses aufgeklärt wird; gleich im Anschluss an die Mitteilung der ultimativen Erkenntnis …

Sie haben hunderterlei Ausflüchte, hunderterlei Sophismen erfunden, ihre Gesetzesübertretungen zu rechtfertigen. Sie bedienen sich der Gedanken nur, um ihre Ungerechtigkeiten zu beschönigen und brauchen die Worte nur, um ihre Gedanken zu verkappen.

Voltaire: Der Kappaun und die Kappaunhenne. In: Voltair’s sämmtliche Schriften. Erster Band. Berlin: Arnold Meyer 1786, S. 475–484, hier S. 483.

… wird das philosophierende Federvieh seiner Bestimmung und also der Schlachtung zugeführt. Der Kapaun kam nach seinen famous last words auf die Schlachtbank, die Worte aber bekamen Flügel und flogen von Voltaire (mit einem Stop-over bei Talleyrand) zu Tuzzi.