Halluzinationen

»… die fortwährende Unruhe der Dinge«:
In Robert Musils Nachlass findet sich eine zweiseitige Skizze, die als erste Textstufe zum späterhin zu Triedere (15.10.1926, Berliner Tagblatt; jetzt in GA 11, 117–123) bzw. Triëdere! (1935 [Datum am Titelblatt 1936; Anm.], in der Sammlung Nachlass zu Lebzeiten; jetzt in GA 8, 475–482) entwickelten und unter diesem Titel bekannt gewordenen Text. (Sämtliche Fassungen finden sich bereits hier.)
Walter Fanta kommentiert die Entstehungsgeschichte wie folgt:

Triëdere: Eine Vorstufe als zweiseitige Skizze unter dem Titel »Halluzinationen, Unfestigkeit des Weltbilds u dgl« (Mappe VII/6, S. 253–254) entstand 1919/1920 als Teil loser Aufzeichnungen zum Romanprojekt Der Spion. Als Beobachter tritt hier der Protagonist Achilles auf. Die Notizen dienten vielleicht als Anhaltspunkt, nicht aber als direkte Vorlage für den Text, der am 15. 10. 1926 erstmals im Berliner Tageblatt veröffentlicht und in Der Tag am 21. 11. 1926 sowie in der Prager Presse am 9. 1. 1927 nachgedruckt wurde. Erhalten haben sich Korrekturnotizen (Mappe VI/1, S. 183), deren Datierung sich an Briefentwürfen von Juli und August 1931 auf der Rückseite orientieren. Offenbar erfolgten die Korrekturen für das im Sommer 1931 geplante unverwirklichte Projekt Kleine Literaturgeschichte, eine geplante Sammlung literaturkritischer Glossen, in die u.a. Der DoppelmäzenDer MalstellerDer bedrohte Ödipus integriert werden sollten (Mappe VI/1, S. 178–180). Für die Endfassung in Nachlaß zu Lebzeiten nahm Musil gegenüber den Zeitungsfassungen noch einschneidende Änderungen vor, was Triëdere! gemeinsam mit Der Riese Agoag und Eine Geschichte aus drei Jahrhunderten zum am stärksten überarbeiteten Feuilletontext Musils macht. Die Varianz betrifft auch den Titel: Die sonst immer vorhandenen Punkte am ë – welche die Augen bezeichnen könnten – fehlen im Erstdruck ebenso wie das Rufzeichen.

Fanta, Nachwort; in: GA 11, 591f.

Die Skizze »Halluzinationen, Unfestigkeit des Weltbilds udgl.« entstand zwischen dem Frühjahr 1919 bis Dezember 1920, gehörte späterhin zum Clarisse-Komplex (Sigle C) und trägt zudem die Sigle AN (i.e. ›Anfänge und Notizen‹; gehört zur Schreibphase 1919–1923, Musil sammelte unter dieser Sigle Aufzeichnungen zu noch unverwirklichten literarischen Projekten), zählt damit zur größten Siglengruppe in Musils Mappenordnung für die Arbeit am bzw. im Kontext des Romans. NB: Die Wahrnehmungen sind hier noch jene von Achilles (1918–1921 die Hauptfigur im Projekt Der Spion; 1921–1922 Anders in Der Erlöser und 1923–1926 Die Zwillingsschwester; ab Ulrich im Mann ohne Eigenschaften). Der Haupttext wurde mit schwarze Tinte abgefasst, die Siglierungen mit Rot- und Bleistift vorgenommen; das Format der karierten, chamoisfarbenen Zettel ist 99×145 mm (Abdruck bei GW 5, hg. v. Adolf Frisé, S. 1794f.)

»… die fortwährende Unruhe der Dinge« heißt es somit 1919/1920:

Musil, Nachlass, Mappe VII/6, S. 253

Halluzinationen, Unfestigkeit des Weltbilds udgl.
Bei der Wahrnehmung tritt zu den eigentlichen
Sinnesinhalten eine Auslese u Erweiterung
zentral hinzu. AN 180 [mit Rotstift; Anm.]
Man beachtet nicht die verschiedenen Schattierungen
u. Tönungen eines Kleides, man begnügt
sich damit »denselben« Stoff zu sehn. Ebenso
sind unwahrgenommene Doppelbilder im
Gesichtsfeld, Nachbilder, subjektive Gesichtser-
scheinungen. Das Ohr überhört Geräusche des
eigenen Körpers, die Haut, Gelenke, Muskeln,
das Vestibularorgan wird durch Bewegungen
gereizt. Organempfindungen auch.
Erweiterung: Wenn ich auf die Straße blicke, sehe ich,
ob es warm oder kalt ist, – ich sehe, daß Menschen
lustig, traurig, gesund, kränklich sind. Ich
sehe, ob ein Hut ein harter oder ein weicher ist.
Der Geschmack an einer Frucht sitzt manchmal
schon in den Fingerspitzen. Selbst normaliter
kann man schwer Sinnesinhalt u. Zutat unter-
scheiden. C-42 [mit Bleistift; Anm.]
Wenn man etwas verkehrt ansieht zb. in der Kamera

Musil, Nachlass, Mappe VII/6, S. 254

bemerkt man übersehene Dinge – Ein Hin u Her-
schwanken von Bäumen u Sträuchern oder Köpfen,
das man sonst übersieht. Man ist erstaunt
über die fortwährende Unruhe der Dinge. Der
hüpfende Charakter des menschlichen Ganges
kommt einem zu Bewußtsein.
Clarisse: Ein Förster sieht bei einem Waldspazier-
gang anderes als ein Botaniker oder ein Mörder.
Cl. kommt durch Nietzsche u a. auf die Idee, sich
nichts entgehen lassen, alles vereinigen zu
wollen. Zu sehen wie ein Künstler erhöht ihr
sthenisches Gefühl u sie sieht jetzt mit allen
Sinnen. Allmählig übergeht das in Halluzi-
nationen u. andrerseits in eine Erkenntnis
von der ungeheuren Unsicherheit des Welt-
bilds, die auch auf Achilles Eindruck macht.
Bei ihr entsteht durch solche Übergänge die
Manie.
Vgl. Synthese Seele – Ratio 2)

Die Bedeutung der beiden Seiten mag in der Frage sich erschließen, wie Musil Aspekte der Wahrnehmung im Verlauf der 1920er Jahre konzipiert und dann in die Arbeit am Roman (sowie anderen literarischen Arbeiten) übernimmt. Als stetig wiederkehrendes Motiv für den Gewinn spezifischer Wahrnehmungen wird die Isolation notwendig. »Auslese u Erweiterung« heißt es 1919/1920, »Isolierung« ab 1926.