Historisches Erzählen nach 1945 | Projektionsflächen [3]

In den Medien, den Speicher-, Wahrnehmungs-, Kommunikations- und nicht zuletzt Waffentechnologien, ist das Grundrauschen des Geistes nicht nur angelegt, dort ist es auch abzuhören (die Mechanischen Bräute chiffrieren nicht nur, sie helfen auch bei der Dechiffrierung). Und dort wird der Materialismus immer noch davon erzählen können, wie es war und gewesen sein wird, wenn es der Historie zuzusetzen galt und gegolten haben wird. Doch wozu das Ganze?

Friedrich Kittler benennt es für sich in einem auch auf Youtube ansehbaren Video, in »Abschied von der Sophienstraße«, ganz zu Schluss. Er formuliert es als Auftrag – es ginge darum, die Geschichte Europas weiterzutragen: 

[I]ch denke vielleicht schon, dass während die Philosophie zu einer historischen Fachwissenschaft zu verkommen droht, die Mediengeschichte eine Gelegenheit ist, oder eine einmalige Gelegenheit ist, die Geschichte zumindest Europas als unsere Geschichte weiter zu denken und weiter zu tragen.

Es geht Kittler nicht allein um die Verabschiedung einer spezifischen, genau festzumachenden Topografie, es geht ihm mit dieser auch um eine Verabschiedung atmosphärisch bedingender Zurichtungen – und um sowohl das, was bleiben, als auch das, was nun noch folgen kann.

In Siegfried Kracauers »Abschied von der Lindenpassage« (Kracauer, Siegfried: Abschied von der Lindenpassage. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachw. V. Karsten Witte. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, p. 326-332) aus dem Dezember 1930 war es in dieser Einrichtung noch um die Kritik, die Desavouierung einer Daseinsform (der bürgerlichen Welt) gegangen, die in dieser Zwischenwelt des Konsums beständig ausgeübt wurde. Kracauer sah, dass die Umgestaltung und der Versuch einer Neuzurichtung der alten Lindenpassage das alles zu einem Ende gebracht, ihr mit der Renovierung ein kühles »Marmormassengrab« beschert hatten. Hinter den Fassaden wirkten vormals die »geschändete Existenzen«, die im »Dämmerlicht des Durchgangs eine wirksame Protestaktion gegen die Fassadenkultur draußen« veranstalteten. Jetzt sind »[a]lle Gegenstände mit Stummheit geschlagen«. Die Architektur ist nun neutral gestellt, kein Motor mehr für Kritik und Veränderung. Was kommt, weiß Kracauer nicht zu prognostizieren, nur mehr zu insinuieren: »– vielleicht de[r] »Fascismus oder auch gar nichts. Was sollte noch eine Passage in einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist?«

Kittler geht es in seinen Abschiedsworten, den eigenen Tod vor Augen, durchaus und immer noch ums Erzählen, nota bene um ein – auf Basis der Philosophie, v.a. aber auch der Mediengeschichte gemäß seinem Schaffen, seiner Bücher – reflektiertes Erzählen von der Historie. Dem bietet sich das Erzählen als sozusagen einmalige Gelegenheit, die nicht ungenützt bleiben dürfe. Was nichts weniger heißen kann, als dass Erzählen immer noch möglich und zugleich nötig ist. Gewiss erweist es sich, darauf läuft es hinaus, als unendlich komplex. Dennoch muss es betrieben werden.

Aber gibt es aus dem Hintergrund nicht noch eine Frage zum Historischen Erzählen hervorzuholen, die insbesondere vor den poetologischen Entwicklungen nach, sagen wir, 1945 von großer Bedeutung ist? Dies könnte m.E. mit Ja beantwortet werden – und dabei meine ich v.a. die Frage nach der Gattung an sich, nach dem jeweils eigenen Umgang mit entsprechenden Schemata – Kaum einer der im Sinne der genannten Beobachtung angeführten Autoren (wenn man so will: gehen wir zurück bis auf Brecht, Schnitzler, Kleist, Büchner, Goethe) hat ein gattungstheoretisch nach herkömmlichen Mustern je sauber zu schubladisierendes Werk geschaffen (wenngleich die Homogenisierungs-Strategien der Rezeption stets gegeben waren).

Hier könnte man natürlich auch mit den Überlegungen von Pierre Bourdieu ansetzen – Stichworte: Habitus, Kapital, Gruppierung! Wobei sich sogleich eine Vermutung anhängen ließe, die über den Aspekt der Gruppierung hereinspielt und darauf abzielt, den durchaus massiv zu bezeichnenden Einfluss medial-materieller Erscheinungen ins rechte Licht zu rücken. Zu besprechen wäre also die Frage, inwieweit Historisches Erzählen heute auch noch nach Kriterien der bekannten Gattungszuteilung – ein Geschäft v.a. für Literaturhistoriker, Lehrer und Rezensenten – funktionieren kann. Welche Formen greife ich im Rahmen von derart mitbedingten Gruppierungen auf und bediene ich im Zusammenhang je spezifischer Wertekanonices; auf welche Weise setze ich diese schlussendlich auf Basis welcher medial beeinflussten Reflexion um? Es geht mir nicht um das Lamentieren über die oft beschworene »Fragmentierung«, ausgehend von einem sich so verstehenden Olympic View Point auf die Moderne Literatur, es geht um die jeweils anerkannte Zurichtung des Werks als ein Etwas. Die Fragestellung nach dem Historischen Erzählen wird damit nicht einfacher und hat doch zugleich ihren Gegenstand von jedem Anklang an postmoderne Beliebigkeiten und Strategien des Vergessens entfernt. Dadurch wird das Historische Erzählen fruchtbarer, präziser und gegenwärtig – und ist somit das, was es ohnehin schon immer gewesen wäre: Eine Erzählung aus der Gegenwart.