Romantische Datenverarbeitung

Am 30. Juni 1945, zwei Wochen bevor er in Alamagordo, New Mexico, der Explosion seiner ersten Atombombe beiwohnte, verfaßte John von Neumann, der Mathematiker des Zweiten Weltkriegs, den First Draft Of A Report On The EDVAC [Electronic Discreet Variable Arithmetic Computer], Adressat war das Heeresbeschaffungsamt der USA, Thema eine neuartige Rechnerarchitektur, die seitdem Epoche gemacht hat. Von Neumann-Maschinen, wie jenes geniale Fragment sie in die Welt setzte, sind durch ihre Befehle, Daten und Adressen vollständig spezifiziert. Jeder Befehl, den die Zentrale Recheneinheit (CPU) ausführen soll, hat parallel zu seiner Binärzahl eine Nummer oder Adresse, die ihn aus dem Festwertspeicher (ROM) abrufbar macht. Jede Variable, die der Schreiblesespeicher (RAM) auf solche Befehle hin aufnimmt oder ausgibt, steht gleichermaßen unter einer Adresse, die ein und nur ein Datum lokalisiert. Speicherung, Übertragung und Verarbeitung von Information, alle Operationen einer Intelligenz also, sind damit zur Maschine geworden. Registerplätze speichern, Busadressen übertragen, und CPU-Befehle verarbeiten. Deshalb laufen Von Neumann-Maschinen keine Gefahr, aus der Bürokratie ihrer logischen Sequenzen auszubrechen. Möglichen Verwechslungen zwischen Daten und Adressen, Befehlen und Daten, Adressen und Befehlen ist die Rechnerarchitektur selber vor.
Was von Neumanns technisierte Mathematik mit Röhren (und alsbald Transistoren) aufbaute, vollendet aber die Organisation von Wissen überhaupt. Das Wissen, wo Wissen steht, wohin es gehört und was damit geschieht, entscheidet über sogenannte Inhalte oder Erfahrungen. Auch Kapitel oder Seitenzahlen, Anmerkungen oder Querverweise in Büchern fungieren als Adressen und Befehle, die Daten für Zugriffe und Verarbeitungen bereitstellen. Daß die Laufzeiten von Leseraugen oder gar -händen weit unter denen von Schaltkreisen liegen, macht noch keinen Unterschied. [☞ 1] Er beginnt erst bei den Architekturen selber, die jeweils Befehle, Adressen und Daten koordinieren. Zwischen welchen Instanzen, auch und gerade unter Bedingungen des längst gebrochenen Büchermonopols auf Information, die Speicherung, Übertragung und Verarbeitung von Daten gelaufen ist, unterscheidet historische Systeme des Wissens voneinander.
Ich streiche deshalb zunächst und zuerst den provisorischen Titel, der mich angekündigt hat. Über den Anachronismus der Frühromantik zu reden, wäre historisch kaum weniger redundant als informationstheoretisch.

Friedrich A. Kittler: Über romantische Datenverarbeitung. In: Die Aktualität der Frühromantik. Hg. v. Ernst Behler u. Jochen Hörisch. Paderborn u.a.: Schöningh 1987, S. 127–140, hier S. 127. [Hervorhebung im Original]

☞ Fußnote 1: »Vgl. Alan M. Turing, Lecture to the London Mathematical Society, 20 February 1947, zitiert in: Andrew Hodges, Alan Turing: The Enigma, New York 1983, S. 319« [der Aufsatz erscheint auf Deutsch im gleichen Jahr wie Kittlers Aufsatz »Über romantische Datenverarbeitung« in der Übersetzung durch Peter Gänssler, dessen Übersetzung Bernhard Dotzler überarbeitete, als: Alan M. Turing: The State of the Art. Vortrag vor der London Mathematical Society am 20. Februar 1947. In: Ders.: Intelligence Service. Schriften. Hg. v. Bernhard Dotzler und Friedrich Kittler. Berlin: Brinkmann & Bose 1987, S. 183–207]


Die Speicherplatzersparnis mußte Umwege nehmen, unter denen die Veröffentlichung von Buchmeßkatalogen selber eine der wichtigsten (und von Novalis sichtlich begriffene) war. Nennt man, einigermaßen formalisiert, rund 3500 deutsche Bücher von 1798 die Daten, dann war ihr Meßkatalog das Buch der Bücher, die Bibel oder technischer gesprochen: das Adreßregister sämtlicher Daten. Relativ auf Professoren, die „das gesammte Buchwesen der Welt noch einmal setzten“, brachte der Katalog Speicherplatzersparnisse um einen Schätzfaktor von 107 (bei 3500 Büchern zu 150 Seiten und 20 Eintragungen pro Meßkatalogseite).
Die Verhältnisse zwischen Adressen, Daten und Befehlen, auch wenn erst von Neumanns Computertechnologie sie zu biunivoker Pefektion brachte, erlauben es, beliebige historische Systeme zu messen. Frühromantik hieß einfach, die ungeheure Last Buchstaben systematisch zu adressieren und diese Adressierbarkeit selber in ein Subjekt als Befehlsspeicher zu setzen.

Friedrich A. Kittler: Über romantische Datenverarbeitung. In: Die Aktualität der Frühromantik. Hg. v. Ernst Behler u. Jochen Hörisch. Paderborn u.a.: Schöningh 1987, S. 127–140, hier S. 129.

Auf der Basis solch überlieferter Realien hieß Poesie einfach, ihnen den Schmuck rhetorischer Wörter anzulegen. Auch die Rhetorik, einst als systemnotwendige Mnemotechnik mündlicher Kulturen entstanden, geriet mit Gutenberg zum Buchzugriff. Das Wort Kopie (für die Machart gedruckter Bücher) stammt nicht umsonst von der copia verborum (für den Speichervorrat rhetorischer Tropen und Figuren). [☞ 2]

Friedrich A. Kittler: Über romantische Datenverarbeitung. In: Die Aktualität der Frühromantik. Hg. v. Ernst Behler u. Jochen Hörisch. Paderborn u.a.: Schöningh 1987, S. 127–140, hier S. 130.

☞ Fußnote 2: »Vgl. Niklas Luhmann, Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. In: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer, hrsg., Stil. Geschichten und Punktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt/M. 1986, S. 663 [recte: S. 633; Anm. PP] f.: „Rein wortgeschichtlich gesehen, meint copia zunächst ja eine positive Wertung, sie bringt in der Rhetorik die Reichhaltigkeit der zur Verfügung stehenden Formen und Redensarten zum Ausdruck; und erst nach dem diese im Buchdruck leicht zugänglich für jedermann zur Verfügung gehalten werden, wendet sich die Bedeutung des ,Copierens‘ ins Negative.“«


Statistik also löst bei Novalis die Speicherplatzprobleme, die seine Zeitgenossen mit den berühmten idealistischen Systemprogrammen beantworten. Daß Zufallsserien anstelle planender Autoren treten können, hat gute mathematische Gründe. Die Kombinatorik, einst unter rhetorischem Vorzeichen aus Kirchers Kabbala und Pacals [sic] Poker entstanden, geht spätestens mit Laplace in Wahrscheinlichkeitstheorie über, wird also den klassischen Verfahren der Analysis zugänglich. Statt Hörsäle eines Philosophen zu frequentieren, kann man – zumindest seit Fouriers Theorem – Wahrscheinlichkeiten als Frequenzen anschreiben. Information, heißt das, wird zur abhängigen Variabeln der Zeit. Datenkalküle betreffen nicht mehr nur den Bedarf an Speicherplätzen, ob in Büchern oder in Büchsen; sie schließen vielmehr die Übertragungsgeschwindigkeit mit ein. Um den Preis, verfallene Daten auch wieder zu vergessen, beginnt das System kalkulierter Nachrichtentransmission. 

Friedrich A. Kittler: Über romantische Datenverarbeitung. In: Die Aktualität der Frühromantik. Hg. v. Ernst Behler u. Jochen Hörisch. Paderborn u.a.: Schöningh 1987, S. 127–140, hier S. 137f.

Das Postsystem von 1800 überträgt erstens Personen, zweitens Güter und drittens Nachrichten oder Schriftsachen (also Adressen, Daten und Befehle) alle mit gleicher Technik, Frequenz und Kutschengeschwindigkeit. […] Seitdem Charles Babbage im Todesjahr Goethes den ersten Rechenautomaten baute, der von Neumanns strikte Trennung zwischen Befehlen, Daten und Adressen begann, seitdem Eisenbahn und Elektrotelegraphie den postalischen Gleichlauf von Personen, Gütern und Nachrichten sprengten, herrschen andere Systeme. Daran scheitern Reaktualisierungen der Frühromantik. Die durch allgemeine Alphabetisierung gestartete, aber auch nur gestartete Big Number Avalanche (wie Ian Hacking das 19. Jahrhundert nennt) hat alle Macht auf technische Medien verschoben. „Der Mensch“ als Befehlshaber über Daten und Adressen überhaupt verschwand in Statistik. Ein romantischer Dichter hatte Babbage Verse übersendet, in denen es hieß:
»Every minute dies a man, / Every minute one is born.«
Woraufhin der Rechenautomatenbauer seinem Briefpartner Tennyson postwendend vorschlug, „Ihr treffliches Werk in der nächsten Auflage dergestalt zu verbessern, daß es lautet: ,Täusche dich nicht, in jeder Minute erblicken eins Komma eins sechs sieben Menschen das Licht.’“ [☞ 3] Und als ein anderer Romantiker Babbages Analytical Engine mit dem Satz kommentierte, nächstens würde der Mathematiker wohl eine Maschine erfinden, die Romane schreiben könne, kam zur Antwort ein Satz, der Buchmessendialoge für immer beendete: „Der Saumarkt zu Padua und die Leipziger Buchmesse – ein und dieselbe Menagerie.“ [☞ 3]

Friedrich A. Kittler: Über romantische Datenverarbeitung. In: Die Aktualität der Frühromantik. Hg. v. Ernst Behler u. Jochen Hörisch. Paderborn u.a.: Schöningh 1987, S. 127–140, hier S. 140.

☞ Fußnote 3: »Zitiert bei Hans Magnus Enzensberger, Mausoleum. 37 Balladen aus der Geschichte des Fortschritts, Frankfurt/M. 1975, S.65«. [Das Fußnotenzeichen »38« wird im Aufsatz an den hier als »[☞ 3]« ausgewiesenen Stellen zwei Mal angeführt und mit der gleichen Fußnote aus-/nachgewiesen.]


Friedrich Adolf Kittler, als man noch in der Schreibmaschinenzeit war.

Anm.: »Friedrich A. Kittler, Freiburg«, heißt es lapidar im »Verzeichnis der Teilnehmer«. Die Tagung vor dem Band aus 1987 fand vom 28.–30. August 1986 statt, in Bad Homburg.