Smegma

 »Mein Schreibtisch im Bureau war gewiß nie ordentlich, jetzt aber ist er von einem wüsten Haufen von Papieren und Akten hoch bedeckt, ich kenne beiläufig nur das, was obenauf liegt, unten ahne ich bloß Fürchterliches.« (F. Kafka → F. Bauer, 3. Dezember 1912)

There must be cubicles like this all over the ETO: only the three dingy scuffed-cream fiberboard walls and no ceiling of its own. Tantivy shares it with an American colleague, Lt. Tyrone Slothrop. Their desks are at right angles, so there’s no eye contact but by squeaking around some 90 degrees. Tantivy’s desk is neat, Slothrop’s is a godawful mess. It hasn’t been cleaned down to the original wood surface since 1942. Things have fallen roughly into layers, over a base of bureaucratic smegma that sifts steadily to the bottom, made up of millions of tiny red and brown curls of rubber eraser, pencil shavings, dried tea or coffee stains, traces of sugar and Household Milk, much cigarette ash, very fine black debris picked and flung from typewriter ribbons, decomposing library paste, broken aspirins ground to powder. Then comes a scatter of paperclips, Zippo flints, rubber bands, staples, cigarette butts and crumpled packs, stray matches, pins, nubs of pens, stubs of pencils of all colors including the hard-to-get heliotrope and raw umber, wooden coffee spoons, Thayer’s Slippery Elm Throat Lozenges sent by Slothrop’s mother, Nalline, all the way from Massachusetts, bits of tape, string, chalk… above that a layer of forgotten memoranda, empty buff ration books, phone numbers, unanswered letters, tattered sheets of carbon paper, the scribbled ukelele chords to a dozen songs including “Johnny Doughboy Found a Rose is Ireland” (“He does have some rather snappy arrangements,” Tantivy reports, “he’s a sort of American George Formby, if you can imagine such a thing,” but Bloat’s decided he’d rather not), an empty Kreml hair tonic bottle, lost pieces to different jigsaw puzzles showing parts of the amber left eye of a Weimaraner, the green velvet folds of a gown, slate-blue veining in a distant cloud, the orange nimbus of an explosion (perhaps a sunset), rivets in the skin of a Flying Fortress, the pink inner thigh of a pouting pin-up girl… a few old Weekly Intelligence Summaries from G-2, a busted corkscrewing ukelele string, boxes of gummed paper stars in many colors, pieces of a flashlight, top to a Nugget shoe polish can in which Slothrop now and then studies his blurry brass reflection, any number of reference books out of the ACHTUNG library back down the hall – a dictionary of technical German, an F.O. Special Handbook or Town Plan – and usually, unless it’s been pinched or thrown away, a News of the World somewhere too – Slothrop’s a faithful reader.

Thomas Pynchon: Gravity’s Rainbow. Viking Press 1973

Verschläge wie diesen hier muß es überall auf dem europäischen Kriegsschauplatz geben: nur drei schäbige, zerkratzte Wände aus Spanplatten, oben nicht einmal eine eigene Decke. Tantivy teilt diese Zelle mit einem amerikanischen Kollegen, Lt. Tyrone Slothrop. Ihre Schreibtische stehen im rechten Winkel zueinander, so daß sie keinen Augenkontakt haben, außer, sie machen eine quietschende 90-Grad-Drehung. Tantivys Schreibtisch ist aufgeräumt, der von Slothrop ein grauenhafter Verhau. Auf einer Tischplatte, deren Oberfläche seit 1942 niemand mehr gesehen hat, haben sich Ablagerungen in groben Schichten niedergeschlagen: das Fundament bildet ein bürokratisches Smegma, das stetig von oben nach unten durch den Wust hindurchsintert, ein Gemisch aus Millionen von winzigen, roten und braunen Radiergummikrümeln, Holzspänen vom Bleistiftspitzen, getrockneten Pigmenten aus Tee- oder Kaffeeflecken, Spuren von Zucker und Milchpulver, jeder Menge Zigarettenasche, fusseligem, schwarzem Farbbandabrieb, eingetrocknetem Bücherleim und zerbrochenen, pulverisierten Aspirintabletten; darüber folgt eine Lage aus Büroklammern, Zippo-Feuersteinen, Gummiringen, Heftklammern, Zigarettenkippen und zerknüllten Schachteln, einzelnen Zündhölzern, Stecknadeln, zersplitterten Schreibfedern, Farbstiftstummeln aller Schattierungen, einschließlich der schwer erhältlichen Töne Heliotrop und rohes Umbra, hölzernen Kaffeelöffeln, Thayer’s-Slippery-Elm-Hustenbonbons (von Slothrops Mutter Nalline aus dem fernen Massachusetts geschickt), Schnipseln von Klebstreifen und Schnüren, Kreideresten … darauf als nächstes eine Schicht aus vergessenen Memoranden, leeren, bereits vergilbten Lebensmittelkartenheftchen, Notizzetteln mit Telephonnummern, unbeantworteten Briefen, eingerissenen Bogen Kohlepapier, Ukulelenoten mit Begleitakkorden für ein Dutzend Songs, darunter »Johnny Doughboy Found a Rose in Ireland« (»er hat ein paar wirklich zündende Nummern drauf«, berichtet Tantivy, »er ist ’ne Art amerikanischer George Formby, wenn du dir darunter was vorstellen kannst«, was Bloat allerdings lieber nicht tut), einer leeren Haarwasserflasche der Marke Kreml sowie übergebliebenen Teilchen diverser Puzzlespiele, auf denen man das bernsteingelbe linke Auge eines Weimaraners, grüne Samtfalten eines Abendkleides, schieferblaues Geäder in einer fernen Wolke, den orangeroten Widerschein einer Explosion (Sonnenuntergang?), Nieten in der Haut einer Fliegenden Festung und den rosigen Innenschenkel eines Schmollmund-Pin-ups erkennen kann … obenauf dann ein paar alte Nummern der wöchentlichen Geheimdienstpostille von G 2, eine gerissene spiralige Ukulelesaite, Schachteln mit gummierten Papiersternen in vielen Farben, Teile einer Blitzlichtlampe, der Deckel einer Nugget-Schuhkremdose, in welchem Slothrop hin und wieder sein verschwommenes Messing-Spiegelbild studiert, jede Menge Nachschlagewerke aus der ACHTUNG-Bibliothek am anderen Ende vom Flur (ein Wörterbuch für technisches Deutsch, ein F. O. Special Handbook oder Stadtplan) – und eigentlich müßte auch noch, falls sie nicht geklaut oder weggeschmissen worden ist, eine News of the World irgendwo rumliegen, ja, Slothrop ist ein treuer Leser.

Thomas Pynchon: Die Enden der Parabel. Roman. Deutsch v. Elfriede Jelinek u. Thomas Piltz. Rowohlt 1981

Schreibtischhintergrund für V […]

a million bureaucrats are diligently plotting death and some of them even know it / eine Million Bürokraten schmiedet sorgfältig Todespläne, und einige von ihnen wissen’s sogar [ibid.]

☞ Cf. in Sachen Kafka und dem Schreibtisch zuhause (ho. zuoberst ein Briefzitat betr. seinen amtlichen Schreibtisch – cf. dazu Bureau – in der AUVA): Parterre und Schreibtisch. Kafkaeske Weihnachten 1910