Telephonfräulein

Eine Passage aus Prousts Recherche nebst drei Anmerkungen von Luzius Keller:

Eines Morgens gestand mir Saint-Loup, er habe an meine Großmutter geschrieben, um von mir Nachricht zu geben und um ihr den Gedanken nahezulegen, sie solle, da eine Telephonverbindung zwischen Doncières und Paris bestand, einmal mit mir sprechen. Kurz, am gleichen Tag noch werde sie mich an den Apparat rufen lassen, und er riet mir, gegen drei Viertel vier auf der Post zu sein. Das Telephon war in jener Epoche noch nicht so gebräuchlich wie heute. [☞ 1] Und doch braucht die Gewohnheit so wenig Zeit, die heiligen Kräfte, mit denen wir in Kontakt stehen, ihres Geheimnisses zu berauben, daß ich, als die Verbindung nicht sofort zustande kam, einzig den Gedanken, die Sache sei sehr langwierig und sehr unbequem, sowie beinahe die Absicht hegte, mich deshalb zu beschweren: Wie wir alle jetzt, fand ich, daß der an jähen Überraschungen reiche, bewunderungswürdige, märchenhafte Vorgang nicht rasch genug funktioniere, obwohl nur ein paar Augenblicke notwendig sind, um das Wesen, mit dem wir sprechen wollen – unsichtbar und doch gegenwärtig, während es selbst in der Stadt, die es bewohnt (im Falle meiner Großmutter also Paris) unter einem anderen Himmel als dem unseren, bei einem Wetter, das nicht unbedingt das gleiche sein muß wie bei uns, am Tisch sitzt inmitten von Umständen und Beschäftigungen, über die wir nichts wissen, von denen jenes Wesen uns aber berichten wird –, über Hunderte von Meilen hinweg (es selbst sowie die ganze Umgebung, in der es verhaftet bleibt) in dem Augenblick, da unsere Laune es befiehlt, an unser Ohr zu bringen. Wir sind dann wie eine Gestalt im Märchen, der auf ihren Wunsch eine Zauberin in übernatürlicher Helle die Großmutter oder Verlobte erscheinen läßt, wie sie gerade in einem Buche blättert, Tränen vergießt, Blumen pflückt, ganz dicht bei dem Betrachter und dennoch fern, das heißt an dem Ort, an dem sie sich wirklich befindet. Wir brauchen, damit sich dieses Wunder vollzieht, unsere Lippen nur der magischen Membrane zu nähern und – manchmal etwas zu lange, ich gebe es zu – die wachsamen Jungfrauen zu rufen, deren Stimme wir täglich hören, ohne je ihr Gesicht zu kennen, und die unsere Schutzengel in jenem schwindelerregenden Dunkel sind, über dessen Pforten sie eifersüchtig wachen; die Allmächtigen, durch die die Abwesenden neben uns aufsteigen, ohne daß es erlaubt wäre, sie zu gewahren; die Danaiden des Unsichtbaren, die unablässig die Urnen der Töne leeren, füllen und einander übergeben; die ironischen Furien, die, während wir einer Freundin etwas Vertrauliches zuflüsterten, in der Hoffnung, daß niemand uns höre, uns grausam »Hier Amt« zurufen; die ewig gereizten Dienerinnen des Mysteriums, die argwöhnischen Priesterinnen des Unsichtbaren, die Telephonfräulein! [☞ 2]
Und sobald unser Ruf in der Nacht voller Erscheinungen, der allein sich unsere Ohren öffnen, ergangen ist, ertönt ein leises Geräusch, ein abstraktes Geräusch – das der überwundenen Entfernung –, und die Stimme des teuren Wesens spricht zu uns.
Sie ist es, die Stimme erreicht uns, ist da. Doch wie fern sie ist! Wie oft vermochte ich sie nicht ohne Beklemmung zu vernehmen, als ob ich im Bewußtsein, nur nach langen Reisestunden diejenige sehen zu können, deren Stimme meinem Ohr so nahe war, um so besser spürte, was an Enttäuschendem im bloßen Schein einer noch so süßen Annäherung liegt und wie fern wir oft geliebten Personen in dem Augenblick sind, da es scheint, wir brauchten nur die Hand auszustrecken, um sie festzuhalten. Realpräsenz dieser so nahen Stimme – bei tatsächlicher Trennung! Aber Vorwegnahme auch einer ewigen Trennung! Oft, wenn ich in der Weise zuhörte, ohne die zu sehen, die von so weit her zu mir sprach, schien es mir, als riefe diese Stimme aus Tiefen, aus denen man nicht wieder hinaufsteigt, und so habe ich die Angst kennengelernt, die mich eines Tages ganz umfangen sollte, wenn eine Stimme (sie allein, einem Körper enthoben, den ich niemals wiedersehen sollte) auf ähnliche Weise wiederkam, um an meinem Ohr Worte zu flüstern, die ich im Vorüberhuschen von Lippen hätte küssen mögen, die für immer zu Staub zerfallen sind.
An jenem Tage in Doncières fand leider das Wunder nicht statt. Als ich auf dem Postamt erschien, hatte meine Großmutter schon angerufen; ich trat in die Kabine, die Leitung war besetzt, jemand sprach, der sicher nicht wußte, daß niemand da war, um ihm zu antworten, denn als ich den Hörer aufnahm, begann das Stück Holz zu reden wie Pulcinella; ich zwang es zur Ruhe wie beim Puppenspiel, indem ich es wieder an seinen Platz zurücklegte, aber, wie Pulcinella, fing es, sobald ich es wieder aufnahm, von neuem zu schwatzen an. Ich gab die Sache schließlich auf, hängte den Hörer endgültig ein, erstickte damit die Zuckungen dieses tönenden Stumpfes, der bis zur letzten Sekunde plapperte, und suchte den Beamten auf, der mir sagte, ich möge einen Augenblick warten; dann sprach ich, und nach ein paar Augenblicken der Stille hörte ich auf einmal die Stimme, die ich zu Unrecht so gut zu kennen meinte, denn bis dahin hatte ich jedesmal, wenn meine Großmutter mit mir sprach, das, was sie sagte, in der aufgeschlagenen Partitur ihres Gesichts verfolgt, auf der die Augen so viel Platz einnahmen; doch ihrer Stimme selbst lauschte ich heute zum erstenmal. Da aber diese Stimme mir in ihren Proportionen von dem Augenblick an, da sie ein Ganzes darstellte, ganz verändert schien und isoliert zu mir drang ohne die Begleitung der Gesichtszüge, entdeckte ich erst, wie sanft sie war; vielleicht übrigens war sie es nie in diesem Maße gewesen, denn meine Großmutter, die spürte, daß ich fern und unglücklich war, glaubte sich einer überströmenden Zärtlichkeit hingeben zu dürfen, die sie sonst, aus erzieherischen »Prinzipien« heraus, zurückhielt und verbarg. Sie war sanft, doch gerade in ihrer Sanftheit auch unendlich traurig, wie abgeklärt, mehr als nur wenige menschliche Stimmen es jemals gewesen sein mögen, ohne jede Härte, ohne jedes Element von Widerstand gegen andere, ohne jede Spur von Egoismus; verletzlich vor lauter Zartheit, schien sie in jeder Sekunde nahe daran, zu brechen, in einem reinen Tränenstrom zu enden; zudem nahm ich jetzt, da ich sie allein vor mir hatte, ohne die Maske des Gesichts, zum erstenmal darin die Kümmernisse wahr, die sie im Laufe des Lebens zermürbt hatten.
War es übrigens wirklich nur die Stimme, die mir durch ihr isoliertes Auftreten jenen Eindruck machte, der mir das Herz zerriß? Wohl nicht; vielmehr schien mir das Alleinsein der Stimme ein Symbol zu sein, das geisterhafte Bild, der unmittelbare Effekt eines anderen Alleinseins, jenes meiner Großmutter, die zum erstenmal von mir getrennt war. Die Befehle oder Verbote, die sie mir im normalen Verlauf des Lebens unaufhörlich erteilte, der Unmut des Gehorchens oder das Fieber der Auflehnung, die meine zärtliche Liebe zu ihr neutralisierten, das alles trat in diesem Augenblick zurück und war vielleicht auch künftig gebannt (da meine Großmutter ja nicht mehr verlangte, mich in ihrer Nähe und unter ihrer Aufsicht zu haben, sondern gerade im Begriff war, ihrer Hoffnung Ausdruck zu geben, daß ich ganz in Doncières bliebe oder jedenfalls meinen Aufenthalt dort so lange wie möglich ausdehnte, weil es meiner Gesundheit und meiner Arbeit zuträglich sein könnte); so war denn auch, was ich unter der kleinen, an mein Ohr gepreßten Glocke festhielt, unsere von allen diametralen, täglich auf sie Gegendruck ausübenden Kräften befreite, und jetzt, da sie mein ganzes Gewicht aufhob, unwiderstehlich gewordene gegenseitige Liebe. Der Vorschlag meiner Großmutter, ich solle doch noch bleiben, flößte mir ein angstvolles, wahnwitziges Verlangen ein, auf der Stelle heimzukehren. Die Freiheit, die sie mir nunmehr ließ und die von ihrer Seite zu erlangen ich nie für möglich gehalten hätte, schien mir mit einem Mal so traurig, wie es meine Freiheit nach ihrem Tod sein könnte (wo ich sie noch lieben würde, sie aber für immer auf mich verzichtet hätte). Ich rief: »Großmutter, Großmutter«, und hätte sie am liebsten geküßt; aber nur die Stimme war bei mir, so ungreifbar wie die geisterhafte Erscheinung, die mich vielleicht wieder aufsuchen würde, wenn meine Großmutter tot wäre. »Sprich zu mir!« – doch da trat ein, was mich noch einsamer machte: ich hörte die Stimme auf einmal nicht mehr. Meine Großmutter nahm meine nicht mehr wahr, sie stand nicht mehr in Verbindung mit mir, wir hatten aufgehört, uns einander gegenüber zu befinden, eines für das andere hörbar zu sein, ich rief sie noch weiter im Dunkel tappend an und hatte das Gefühl, daß auch ihre Rufe sich verlieren mußten. Ich zitterte vor Angst, dieselbe Angst, die ich in weit entlegener Vergangenheit als kleines Kind einmal empfunden hatte, als ich sie in einer Menschenmenge verloren hatte, weniger die Angst, sie nicht wiederzufinden, als jene, zu spüren, daß sie nach mir suchte und sich sagen mußte, daß auch ich sie suche; einer Angst, die jener überaus ähnlich war, die ich an dem Tag empfinden würde, da man zu denen spricht, die nicht mehr antworten können und denen man doch zumindest alles zu verstehen geben möchte, was man ihnen nicht gesagt hat, samt der Zusicherung, daß man selbst nicht leidet. Es kam mir so vor, als habe ich bereits einen geliebten Schatten unter anderen Schatten sich verlieren lassen, und allein vor dem Apparat wiederholte ich immer wieder vergeblich: »Großmutter, Großmutter«, so wie Orpheus nachdem er allein geblieben ist, immer wieder den Namen der Toten vor sich hinspricht. Ich entschloß mich, das Postamt zu verlassen und Robert in seinem Restaurant zu treffen, um ihm zu sagen, ich würde vielleicht eine Depesche erhalten, die mich zu sofortiger Abreise zwänge, und wollte für alle Fälle einen Blick in den Fahrplan werfen. Und doch, bevor ich diesen Entschluß faßte, hätte ich gern ein letztes Mal die Töchter der Nacht angerufen, die Botinnen des Wortes, die Gottheiten ohne Antlitz; aber die launenhaften Hüterinnen hatten die Zauberpforten nicht wieder auftun wollen, vielleicht konnten sie es auch nicht; wie unermüdlich sie auch den ehrwürdigen Erfinder des Buchdrucks und den jungen Prinzen, den Liebhaber von impressionistischer Malerei und Automobilen (der ein Neffe des Rittmeisters Borodino war), beschwörten, Gutenberg und Wagram [☞ 3] ließen ihr Flehen ohne Antwort, worauf ich ging, denn ich spürte, das Unsichtbare würde gegen alles Bitten taub bleiben.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 3: Guermantes. Aus d. Franz. übers. v. Eva Rechel-Mertens; revid. v. Luzius Keller u. Sibylla Laemmel. Hg. v. Luzius Keller. Frankfurt/M. Suhrkamp 2011, S. 182–188

☞ 1: Stellenkommentar v. Luzius Keller:

Nach Steel […] S. 119-122 gab es 1880 in Paris 300 Anschlüsse; 1883 waren es 3500; noch in den neunziger Jahren war das Telephon nicht eigentlich verbreitet. In der Folge nimmt Proust ein Thema auf, mit dem er sich zu verschiedenen Zeitpunkten seines Lebens beschäftigt hat. Auf biographischer Ebene geht das Thema auf ein Telephongespräch Prousts mit seiner Mutter vom 22. Oktober 1896 zurück. Proust hatte sich, um ungestört an seinem Roman (Jean Santeuil) arbeiten zu können, im Hôtel de France et d’Angleterre in Fontainebleau eingerichtet, seine Mutter befand sich in Paris. Das betreffende Gespräch wird im Briefwechsel mit der Mutter mehrmals erwähnt. Proust schreibt: »Du warst gestern am Telephon nicht wie sonst. ›Das ist nicht mehr Deine Stimme‹« (Briefwechsel mit der Mutter [18] S. 46), und die Mutter spricht scherzend von den »Telephonfräuleins« (ibid., S. 39). Sechs Jahre später schreibt Proust an Antoine Bibesco, der eben seine Mutter verloren hatte: »Als meine Mutter ihre Eltern verloren hatte […] sah ich sie täglich und zu jeder Stunde, doch einmal, als ich mich nach Fontainebleau begeben hatte, telephonierte ich mit ihr. Plötzlich hörte ich im Telephon ihre gebrochene, gequälte Stimme […] da spürte ich zum erstenmal, was für immer in ihr zerbrochen war« (vgl. Correspondance [9] Bd. iii , S. 182). Unmittelbar nach dem Gespräch schrieb Proust das Kapitel »Die Stimme von Jeans Mutter am Telephon« (Jean Santeuil [17] S. 268), das er seiner Mutter sandte mit der Bitte, die Seiten aufzubewahren (vgl. Brief vom 21. Oktober 1896). In dem Artikel »Journées de lecture« (Le Figaro, 20. März 1907, vgl. Essays [12] S. 306) hat Proust das Bravourstück über die Telephonfräuleins, das er offenbar für ein Meisterwerk hielt, wiederverwendet, und während der Arbeit an Guermantes (am 24. Juli 1919) fragt er seinen Freund Robert Dreyfus: »Hast Du nicht zufälligerweise einen Artikel von mir über die Telephonfräuleins (im Figaro), der ›Journées de lecture‹ hieß. Es wäre für mich sehr nützlich, ihn auch nur einen Tag zu haben.« Vgl. Robert Dreyfus, Souvenirs sur Marcel Proust, Paris, Grasset, 1926, S. 334. Wie anderen zuvor als Zeitungsartikel publizierten Bravourstücken (z. B. die Kirchtürme von Martinville) verleiht Proust den Telephonfräuleins in seinem Roman strukturelle und thematische Funktionen. Das Telephongespräch mit der Großmutter motiviert die Rückkehr Marcels nach Paris und bringt so die Doncières-Episode zum Abschluß. Auf thematischer Ebene beginnt mit dieser Szene die zentrale Episode von Guermantes, nämlich Krankheit und Tod der Großmutter.

☞ 2: Stellenkommentar v. Luzius Keller:

In der Parade mythologischer Figuren, die den als Pointe gesetzten Telephonfräuleins vorangehen, wird an zwei Stellen sichtbar, daß es Proust nicht nur um virtuoses Spiel mit Bildung geht. Mit den Danaiden, die in der Unterwelt den Mord an ihren Ehemännern sühnen, und den Furien (den Erinnyen), die insbesondere Vater- und Muttermörder verfolgen, nimmt Proust jenes Thema auf, das er kurz nach dem Tod seiner Eltern auch in dem Artikel »Sohnesgefühle eines Muttermörders« (ebenso virtuos und mit ebenso großer Zurschaustellung von Bildung) behandelt hat, nämlich das Bewußtsein, willentlich oder unwillentlich den Tod von Vater und Mutter verursacht zu haben. Vgl. Essays [12].

☞ 3: Stellenkommentar v. Luzius Keller:

Proust spielt mit den Namen zweier Telephonzentralen, die nach der Straße benannt waren, in der sie lagen. Dabei geht es auch um Johannes Gutenberg (1400-1468), den Erfinder des Buchdrucks, und den Prinzen Wagram (1883-1918), einen begeisterten Kunst- und Automobilliebhaber.


Cf. weiters: