Vereinigung Europas

Im Ausgleichsverfahren der Konzessionen nach hüben und drüben, mit objektivem Gerechtseinwollen und Abwägen von Überzeugung und Opportunität ist nichts zu machen. Sozusagen statische Versöhnungspolitik, die ein Gleichgewicht dem einseitig belasteten Zustand geben, zugleich aber sich nicht von Ort und Stelle rühren will, wirft um! Man kann nur etwas mit einem großen Schwung erreichen: ich möchte andeuten, wie ich ihn für möglich halte.
Uns Deutschen ist ein unerträgliches Unrecht zugefügt worden. Es ist unvermeidlich, daß wir nach einer Neugestaltung Europas streben. Es ist unvermeidlich, daß wir eine Revision der Frieden fordern. Aber sie soll keine restitutio in integrum sein, sondern sie muß aus der Machtpolitik und Revanchekette hinausführen. Statt der Konstitution Europas in rivalisierenden Bestialstaaten muß eine Form der Vereinigung der in sich geeinten Völker untereinander gefunden werden, überstaatlich und möglichst unstaatlich. Ich glaube, daß der tschechische Staat ein großes Interesse daran hat, daß solche Anschauung entsteht, denn wenn er sich nur auf die Macht stützt, so ist er zwar heute gesichert, für die ganzen nächsten hundert Jahre möchte ich aber nicht die Garantie übernehmen müssen. Sein staatspolitisches Interesse deckt sich mit dem menschlichen und er hätte eine Mission, wenn er sie nicht gerade so verabsäumt wie es das alte Öst.-Ung. getan hat. Daß man die Zukunftsvorstellung verschieden ausgestalten kann, ist natürlich und ich habe mich mit Absicht in einer ganz vagen Andeutung gehalten. Nur das eine soll man nicht sagen: daß dies eine Utopie ist. Denn natürlich ist es heute nicht aktuell, aber glauben Sie mir, ohne ein allgemeines Gefühl des Raums, in dem man sich befindet, kann man den allernächsten Gegenstand nicht erreichen!
Solche Versöhungspolitik nach vorwärts zu unterstützen, würde ich jeden geistigen Menschen für verpflichtet erachten. Weiß man, daß es sich darum handelt, kann man der nationalen Beschränktheit im eigenen Lager entgegentreten. Kann man es auch tun, wenn es sich nicht darum handelt? Meine Meinung ist, daß Sie nach einiger Zeit schwer jemand dafür finden würden außer journalistischen Prostituierten, so daß die Zeitung bald uninteressant und einflußlos sein würde.

Robert Musil an Arne Laurin, 23. Aril 1921