Vexierfrage

Keine Maske hilft jedenfalls gegen die gesunde junge Frage, auch am ›Welttheater‹: ob nicht die Gebrauchsgegenstände, jenseits des Gebrauchs, einer immerhin queren Welt angehören, aus der noch keiner zu uns kam. Obst, Rosen, Wälder, gehören auch ihrem Material und Lebenslauf nach zu den Menschen, aber die Kerze aus Stearin, selbst aus Wachs, der schöne Schrank aus Holz, gar aus Eisen, das steinerne Haus, die Glut im Ofen, gar in der elektrischen Birne gehören einer anderen Welt, einer in die menschliche nur eingesprengten. Das Meer, dem wir unsere ganz verschiedenen Zwecke anvertrauen, und das sie sogar trägt, schlägt ungeheuer in die Nacht, die ihm keine ist; der Blitz, aus dem das Licht auf den Schreibtisch kommt, findet seinen Weg in der Nacht, in der man nichts sieht, und macht den Weg erst hell, während er ihn geht, fast gegangen ist. Das Leben hat sich unter und auf den Dingen angesiedelt, als auf Objekten, die keine Atmung und Speise brauchen, ›tot‹ sind, ohne zu verwesen, immer vorhanden, ohne unsterblich zu sein; auf dem Rücken dieser Dinge, als wären sie der verwandteste Schauplatz, hat sich die Kultur angesiedelt. Deshalb konnte sich auch der Jugendeindruck von Wallensteins Kerzen und Tisch mit einem ganz anderen ›Phantasma‹ leicht verbinden, mit einem Märchen jenseits des Theaters, in der weiten Welt selbst, die wir bewohnen, mit dem Märchen Sindbads des Seefahrers und einem Motiv seines Unsterns. Hier markierte sich das abgewendete Gesicht der Dinge, ihr noch ›irrationales‹ Eigenleben sogar drohend als das X, das es jenseits der Gebrauchsmasken ist. Das Gleichnis ist stark: wie Sindbad Schiffbruch erlitt, mit einigen Gefährten rettet er sich auf eine kleine, wohlbestandene Insel voller Früchte, Kokospalmen, Vögel, jagdbarer Tiere und im Wald ein Quell. Aber wie die Geretteten gegen Abend ein Feuer anzünden, um die Jagdbeute zu braten, krümmt sich der Boden und die Bäume zersplittern; denn die Insel war der Leib eines riesigen Kraken. Jahrhundertelang hatte er über dem Meeresspiegel geruht, nun brannte das Feuer auf seinem Rücken und er tauchte unter, ›so daß alle Schiffer in dem wirbelnden Wasser ertranken‹. Manche dieser und noch andre, vielleicht weniger unheimliche, doch ebenso sprengende Möglichkeiten stecken in der Vexierfrage, wie das Zimmer aussieht, wenn man es verläßt. Vorn ist es hell oder hell gemacht, aber kein Mensch weiß noch, woraus der Rücken der Dinge besteht, den wir allein sehen, gar ihre Unterseite, und worin das Ganze schwimmt. Man kennt nur die Vorderseite oder Oberseite ihrer technischen Dienstwilligkeit, freundlichen Eingemeindung; niemand weiß auch, ob ihre (oft erhaltene) Idylle, Lockung, Naturschönheit das ist, was sie verspricht oder zu halten vorgibt.

Ernst Bloch: Der Rücken der Dinge, in: Ders.: Spuren, Leipzig, Weimar 1990, S. 177-180, hier S. 178ff.

Cetologische Anmerkungen:

Ernst Bloch wird sich für seine Wiedergabe der Sindbad-Episode – die auch Poes Scheherazade in jener 1002. Nacht erzählt, bevor sie in die Realität abgleitet – also an einen jahrhundertlang geschlafen habenden Kraken erinnern und dass die Kaufleute Schiffbrüchige gewesen wären, die alle umkamen. Jedoch geht die Erinnerung an die besagte Episode der ersten Reise Sindbads in Tausendundeine Nacht mit einer Fehlsicht einher; Sindbad und andere Kaufleute gelangen auf eine vermeintliche Insel, die sich als großer Fisch – was nur ein Wal gewesen sein kann, ein Leviathan – erweist. Sindbad, der in fast allen seinen Geschichten wenig Glück mit den Inseln hat, wird diesen Untergang auf einem Brett überleben, so wie Ishmael sich mit einem Sarg aus dem Untergang der Pequod in seinen »Epilog« retten kann.

Bemerkenswert ist auch, dass der Wal/Krake über Jahrhunderte schlafend, jedenfalls untot auf dem Meer liegt – und erst das Feuer bringt in zum Tauchen. Als würde ein Prometheus zu strafen sein, ein Erkenntnisträger (denn alles was Bloch als erinnert schildert hat mit paradiesischen Zuständen zu tun: bis auf das Feuer, das nicht Gott den Menschen gab, sondern diesen von Menschenhand gebracht wurde).

1861 paraphrasiert Jules Michelet in einem dem Wal zugedachten Abschnitt von La Mer recht ungefähr ein paar Zeilen Miltons, wonach ein Fischer in nördlichen Meeren eine Insel erblickte, vor Anker ging und seinen Irrtum wohl erst erkannte, als er vom erwachten Wal samt seinem Schiff in die Tiefe gerissen wurde. Die Stelle findet sich im ersten Buch von John Miltons Paradise Lost (wo der Wal stets als »Leviathan« gehandelt wird) etwas anders erzählt, aber Michelet verzinst die kleine Unschärfe mit einer weiteren cetologischen Täuschungsgeschichte, die aus den Berichten des französischen Entdeckers Jules Dumont d’Urville stammt, um schließlich bei Außerirdischen im Fesselballon zu landen, die ohne weitere Kenntnisse und nur dem Augenschein folgend – von oben auf deren Rücken hinabblickend – Wale als die »Herren des Planeten« erkennen.

Von hier aus lässt sich nochmals auf das 69. Kapitel von Melville Moby-Dick (1851 herausgekommen; das Jahr in dem Schopenhauer in den Parerga und Paralipomena seinen »Versuch über Geistersehn und was damit zusammenhängt« vorlegt und Matthew Fontaine Maury seine Weltkarten von den Walfanggründen und -routen, die er den Logbüchern der Walfänger abgelesen hatte), wenn ein abgeflenster, enthaupteter Wal – sein ohne Transchicht/Haut weiß scheinender, für die Walfänger nutzloser Rumpf – von der Pequod wegtreibt und von Dritten, die mit der von Haifischen gesäumten Masse nichts anderes anzufangen wissen, falsch zugeordnet wird:

Desecrated as the body is, a vengeful ghost survives and hovers over it to scare. Espied by some timid man-of-war or blundering discovery-vessel from afar, when the distance obscuring the swarming fowls, nevertheless still shows the white mass floating in the sun, and the white spray heaving high against it; straightway the whale’s unharming corpse, with trembling fingers is set down in the log—shoals, rocks, and breakers hereabouts: beware! And for years afterwards, perhaps, ships shun the place; leaping over it as silly sheep leap over a vacuum, because their leader originally leaped there when a stick was held.

Herman Melville: Moby-Dick; or The Whale (1851), Chap. 69: The Funeral

Weshalb es diese Untiefen inmitten des Meeres geben sollte, ist ebensowenig zu klären wie die Frage, woher die raubgierigen Vögel kommen – und insofern könnte man die Stelle als einen küstennahen Witz Melvilles einstufen. Was für Walfänger und ihre -erzähler/-leser Ergebnis einer angewandten Technik ist, stellt sich für zwei seltsame Oxymora als tektonischer Sachverhalt dar: ängstliche Kriegsschiffer und irrende Entdeckungsreisende zur See. Mit diesem ironischen Schlenker aus der Sicht des einstigen Walfängers Melville werden derartige Signalempfänger, die in Ermangelung einschlägiger Erfahrung und daraus ableitbaren kognitiven Wissens die abgezogenen Walleiber falsch verstehen müssen, als unzuverlässige Interpreten der See und ihrer Erscheinungen ausgewiesen. Das wäre zumindest unterhaltsam. Eine doppelte Pointe ist aber darin zu ersehen, dass künftig auch Logbücher studierende Walfänger die scheinbar gefährlichen Riffe meiden dürften, sodass Wale hier am Meeresfriedhof zunehmend ungestört leben würden. Damit wird die Kartierung der cetologisch bedeutsamen Seegräber zum Schwarzbuch, zur Negativfolie der Karte von den weltweiten Walrouten und -fanggründen. Maurys Karten von den Fanggründen werden die Karten von den Gefahrenstellen gegenübergelegt sich finden.

Whale Chart by M. F. Maury A. M. Lieut. U. S. Navy. Published at the National Observatory by Authority of Commo. L. Warrington Chief of bureau of Ordnance & Hydrography 1851

Nacht wie bei Sindbad und Kollegen, damit Unsichtbarkeit nebst der Frage nach der tatsächlichen Substanz, geht ja stets noch ein Stück weiter, als Grundproblem, das sich immer wieder stellt:

Die europäische Nacht, im Unterschied zur amerikanischen, zählt also zwischen 1925 und dem Jetztpunkt vier Phasen: erstens ein göttliches Alphabet [1295: Einem Schüler des Afulabias geraten nächtens seine Operationen anhand der 22 Konsonanten des hebräischen Alphabets zur »schieren Weisheit« statt dem »Wahnsinn« kombinatorischer Mechanik; Anm.], zweitens eine menschlich philosophische Tiefe [1806: Hegel rettet seine aus Zettelkasten nebst Kopf destillierte Philosophie des Geistes in einer »Nacht der Aufbewahrung«; Anm.], drittens eine Analogtechnik aus Medien und Sensoren [1945: Schützenpanzer werden mit Nachtsichtgeräten ausgestattet, deren Wärmesensoren Infrarot-Frequenzen in sichtbare Informationen umwandeln helfen; Anm.] und schließlich jene Digitaltechnik, die nach Turings Beweis seit 1936 alle anderen Maschinen (oder Menschen) ersetzen kann, weil sie diskret und damit universal ist.

Friedrich Kittler: Die Nacht der Substanz. In: Claus Pias et al. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. 4. Auflage. Stuttgart 2002, S. 507-524, hier S. 510

(Darüber wurde 2006 schon zu dilettieren versucht, als es per Gutenberg durch die Turing-Galaxis gehen sollte; cf. do.)