Wien, 2. Mai 1890, 7 Uhr 46.

Der Orientexpreß, seinem Namen zuliebe schon eine Stunde verspätet, hat Zwischenhalt. Einen Augenblick lang kreuzt der Weg Jonathan Harkers, Büroangestellten aus Exeter in England, den Weg eines jungen Arztes aus Mähren, der unter die Kulturträger gegangen ist, um ihnen die Pest zu bringen. Aber weil es poetische Gerechtigkeit nicht gibt, nimmt das Unheil seinen Lauf. Der Orientexpreß [im Roman ist es einfach ein Expresszug; Anm.] hat leider keinen Maschinenschaden, Freud schreibt weiter an seiner funktionellen Auffassung der Aphasien und Harker an seinem stenographischen Reisetagebuch. Die bündige Widerlegung hirnphysiologischer Sprachzentren-Lokalisierungen, sobald sie erst einmal mit den gesammelten Versprechern hysterischer Mädchen verschaltet ist, wird einen psychoanalytischen Diskurs inaugurieren. Das handschriftliche Tagebuch, sobald es erst einmal mit Phonographen und Schreibmaschinen, Leichenbefunden und Zeitungsberichten verschaltet ist, wird den Herrn über Nacht und Orient töten, um ihm nur die elende Unsterblichkeit eines Romanhelden zu lassen. 1897, während dem Doktor Freud eben das Geheimnis der Traumdeutung aufgeht, erscheint Bram Stokers Dracula. Und wenn schon der Gast des Grafen nicht Zwischenstation bei Freud gemacht hat, verbreitet poetische Gerechtigkeit wenigstens das Gerücht, daß der Romancier des Grafen ins neue Wissen eingeweiht worden sei. Stoker soll 1893 in der Society for Psychical Research durch begeisterte Referate Freuds Vorläufige Mitteilung über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene empfangen haben. Und in der Tat: Leute, selbst wenn sie nur Büroangestellte und Romanfiguren sind, nach Transsylvanien, ins ›Land hinter den Wäldern‹ zu schicken, dürfte niemandem beifallen, der nicht gehört hat, daß Ich werden kann, wo Es war.

Friedrich Kittler: Draculas Vermächtnis. In: Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig: Reclam 1993, S. 11–57, hier S. 18f.