Guillotine & Buch

Ein Gebäude ist auch ein Grundsatz und eine Maschine eine Idee.

La Torgue war das verhängnisvolle Ergebnis der Vergangenheit, was in Paris Bastille hieß, in England Tower, in Deutschland der Spielberg, in Spanien Escurial, in Moskau Kreml, in Rom Castello Sant’Angelo. In La Torgue hatten sich fünfzehn Jahrhunderte zusammengedrängt, das Mittelalter mit Leibeigenschaft und Lehenswesen. In der Guillotine verkörperte sich das eine Jahr 93. Und diese zwölf Monate hielten jenen fünfzehn Jahrhunderten die Wage.

Victor Hugo: Dreiundneunzig. Ü: A. Wolfenstein; EA: 1874

Hugos Roman #1793 dekliniert Revolution und Konterrevolution, Verrat und Verzweiflung, Mittelalter und Moderne souverän durch – und sieht dabei auch von manchen revolutionären Köpfen nicht ab:

»Robespierre, Sie nannten die, welche den Umsturz aller Throne anstrebten, die Don Quijote des Menschengeschlechts.«

Die Guillotine ist eine Jungfrau,« unterbrach ihn Marat, »man lagert sich auf ihr, aber befruchtet sie nicht.« – »Was wissen Sie davon?«, versetzte Danton. »Ich würde sie befruchten!« — »Das wird sich zeigen,« sagte Marat und er lächelte.

Postrevolutionäres Souvenir

Es gelte: »Korrektheit in der Wildheit kennzeichnet überhaupt die Revolution.« Und: »Auf düstere Art wollen die Katastrophen die Dinge ordnen.«

So übernahmen die tragischen Wälder ihre alte Rolle und spielten bei diesem Aufstand wie in allen früheren die Diener und Genossen.
So geben zwei Worte den ganzen Krieg der Vendée wieder: Heimat und Vaterland
Die Unglücklichen sind auch die Fürchterlichen. Eine Bäuerin, belanglos, unwissend und unbewußt, hatte plötzliche die göttliche Form erinyenhafter Raserei angenommen.

Zurück in die Bretagne, Showdown in den Vendée:

Lange hatte La Torgue einsam dagestanden, und stand noch da […] mit dem Verlies voller Gebeine und der Folterkammer, wo man räderte. Eine ungeheure Tragik füllte den Bau […]. Dieser Turm hatte hier regiert, mit unbeschränkter Barbarei und sah nun mit einem Male, wie Etwas, mehr als Etwas: Jemand! vor ihm und gegen ihn aufstand, ebenso grauenhaft wie der Turm, die Guillotine.
Der Stein scheint manchmal geheimnisvolle Augen zu bekommen, eine Statue beobachtet, ein Turm lauert, eine Schloßwand betrachtet. Es war, als starrte La Torgue die Guillotine an, als fragte sie sich, was das sei. […] am bestimmten Tage war die unbekannte Rächerin, die harte schwerttragende Maschine emporgestiegen und 93 sprach zur alten Welt:
Da bin ich.
Mit Recht konnte die Guillotine zum Schloßturm sagen: Ich bin deine Tochter.

(Wenn man sich an Hugos »Notre-Dame de Paris« aus 1831, präzise: das Fünfte Buch – und im thematischen Anschluss das Sechste –, erinnert: ebendiese binäre Formel vom Alten und dem Neuen gibt es bereits dort, etwa in der Übersetzung von Bremer:)

Wehe! Wehe! Das Kleine folgt dem Großen auf dem Fuße nach; ein Zahn siegt über eine Masse. Die Nilratte tödtet das Krokodil, der Schwertfisch den Wallfisch, das Buch wird das Gebäude vernichten!

Die Kanzel und die Handschrift, das gesprochene und das geschriebene Wort waren es, die über das gedruckte Wort in Schrecken geriethen; etwas der Bestürzung eines Spatzen Aehnliches, wenn er die himmlische Legion ihre sechs Millionen Flügel ausbreiten sehen würde.

Es war das Vorgefühl, daß der menschliche Gedanke mit der Aenderung seiner Form die Ausdrucksweise zu ändern sich anschickte; daß der Hauptgedanke jedes Menschenalters nicht mehr mit demselben Material und in derselben Weise dargestellt werden würde; daß das so solide und dauerhafte Buch aus Stein dem noch solidern und dauerhafteren aus Papier den Platz einräumen sollte.

Apotheose:

Der menschliche Gedanke hat ein Mittel entdeckt, sich nicht nur dauerhafter und widerstandsfähiger, als durch die Baukunst, sondern auch einfacher und leichter fortzupflanzen. Die Architektur wird vom Throne gestoßen. An die Stelle der steinernen Buchstaben des Orpheus treten nun die bleiernen Lettern Guttenbergs.
Das Buch wird einst das Baudenkmal vernichten.
Die Erfindung der Buchdruckerkunst ist das größte Ereignis der Geschichte. Es ist die fortzeugende Revolution.


Schweizer Elektrolyte als basisdemokratischer Beitrag zur Dekapitationsfrage. (2020)