Wunder und Wunde

2004 fand in der Drahtwarenhandlung (unter weiterer Beteiligung von ballesterer/Der Standard/Kakanien revisited/cenex/picto) mit der Ausrichtung des »Ballestrischen Nachmittags – Wunder und Wunde / csoda és csapás« eine Veranstaltung statt, die anlässlich 50 Jahre Wankdorf und zugleich EM-Finale 2004 aufzuspannen versucht wurde. Insofern passend, weil beide Ereignisse die Vernichtung des je wunderbaren Fußball zeitigten – Deutschland trat die Ungarn in den Schlamm und Griechenland die Portugiesen; die je spielerisch limitierte Mannschaft gewann.

Das konnte bei Planung und im Ablauf noch niemand ahnen (wie sollte so etwas auch nur denkbar gewesen sein?). Das Ganze stand unter dem stets passenden und Bill Shankley (früherem Coach von Liverpool) zugeschriebenen Motto »Some people think, soccer is a matter of life and death. I don’t like this attitude. It’s much more serious than that.« Natürlich ging es darum, sich ausgehend von der damaligen Finalniederlage der Ungarn Fragen nach den arbiträren Formen eines Selbstverständnisses, nach Mythenbildungen und national codierten Diskursformen zu stellen. Aber es ging eben auch um viel Ernsteres: um die Lust am Spiel, an all dem, was auf dem Rasen, in den Kabinen, im Äther, am Papier und in der ballestrischen Pop-Kultur insgesamt sein Wesen zeigt.


Vier Beiträge waren u.a.:

• Nicolas Pethes: Fußlümmelei oder Sphärenharmonie? Intellektuelle und Fußball [.pdf]
Der Beitrag sucht nach Erklärungen für das wachsende Interesse der sog. Intellektuellenkultur am Phänomen Fußball und versucht, den gängigen Feuilletonisierungstendenzen ein Modell entgegenzusetzen, das Fußball als Fußball (und nicht als Philosophie-, Politik- oder Kunstersatz) ernst nimmt und intellektuell attraktiv erscheinen lässt.

• Wolfgang Weisgram: Ach du grüne Neune [.pdf]
Einige Bemerkungen über den mitteleuropäischen Fußball, seine Zusammenhänge mit der Nachkriegspolitik und das Ende des calcio danubiano im Finale der WM 1954, als die BRD die Ambitionen der österreichischen und ungarischen Kicker und Fans demolierte.

• Manfred Moser: Stirb und werde Österreicher. Beitrag zur Wunder- und Wundheilung [.pdf]
Der Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wer man denn nun sei: Deutscher, Österreicher? Einfach nur fußballbegeistert zu sein reicht nicht, und die Zuweisungen erfolgen ohnehin.


• Peter Plener: Emotion (1954), Kultur (1958), Rauschen (1962), Peng! (1966)
Anhand div. Radioübertragungen/-stimmen und medientheoretischer Analysen wurden einerseits die Entwicklung der Sportübertragungen in anbrechenden Wirtschaftswunderzeiten und unter nationalstaatlichen Auspizien verfolgt, andererseits der Weg von der Radio- zur TV-Übertragung des Fußballs skizziert.

Die 4 Beispielgruppen:

1954 – emotio(n)[Schweiz, erste WM auf europ. Boden nach dem Krieg, Bern] – Nachkriegszeit, erste WM in Europa, D qualifiziert, Trennung in Besatzungszonen, Wirtschaftswunder bestenfalls angelaufenMärz: legislative Voraussetzungen für Wiederbewaffnung der BRD geschaffen, die sowjetische Zone wird zur DDR

  1. Heribert Meisel (zum 4:1 für D gegen Ö, »sprachlos«)
  2. Herbert Zimmermann (nach dem 0:2, beruhigend, »seien wir nicht so vermessen«)
  3. Herbert Zimmermann (bei 2:2-Stand, Klimax »Toni Turek« – »Teufelskerl« – »Fußballgott«)
  4. Herbert Zimmermann (in der 2. Hälfte, »rettet-rettet-rettet«)
  5. Wolfgang Hempel (zum 3:2), 40 sec. Schweigen auf Radio DDR
  6. György Szepesi (zum 3:2, O-Ton (»Bozsik mit csinálsz, Bozsik, Bozsik mit csinálsz«, »bassza meg«, und Kommentar, Jahrzehnte später)

1958 – radio in rhetoricis[Schweden, Göteborg]

  1. Herbert Zimmermann | Rudi Michl (Halbfinale gg. Schweden; Schlachtrufe »Heja!«)
  2. Herbert Zimmermann (Halbfinale gg. Schweden, 2. Hälfte, 1:1-Stand, rote Karte Juskowiak, Foul an Fritz Walter, ungarischer Referee, Herberger, »Cannae wird das«)
  3. Heinz Florian Oertel (DDR-Kommentar; Halbfinale gg. Schweden; 3:1 für die Schweden; erneut langes Schweigen; »die westdeutsche Mannschaft ist jetzt fix und fertig«; »Fanfan der Husar«; Mauritius-Tor)

1962 – rauschen[Chile, Probleme für Liveübertragung]

  1. Rudi Michl (über die technischen Voraussetzungen; Kurzwellensender)
  2. Rudi Michl (Akustik verzerrt, 1:0 und Entscheidung für Jugoslawien gegen Deutschland)
  3. Kurt Brummer (Akustik verzerrt, Finale Brasilien gegen die CSSR; »Streub, Streub, Streub, was hast du da gemacht«)
  • Je mehr unterschiedliche Personen medial eingebunden und in der Folge tätig sind, je mehr sie in den selben Medienverbünden sich bewegen, d.h. je mehr crossover und vorgebliche Konkurrenz zwischen früher als ge­trennt an­ge­sehenen Bereichen besteht, umso stärker werden Kapa­zi­täten be­an­sprucht und umso intensiver werden die Nebengeräusche, wird das Rau­schen – zur ersten und bis heute wohl wesentlichsten Theoriebildung hinsichtlich der Kommuni­ka­tionskanäle und den Möglichkeiten, diese zu schreiben cf. Shannon 2000 – (das seinerseits produktiv sein kann).
  • (Als rein auf das Material bezogener Querverweis war im Dienste der Perspektive anführen, dass zum gegen­wärtigen Zeit­punkt die Produktion von Speicherchips an eine sog. »thermische Mauer« stößt, d.h. »Moore’s Law«, wonach alle 18 Monate doppelt so leistungsfähige Prozessoren auf den Markt kämen, mit dem momentanen Stand der Technik erstmals nicht mehr argu­men­tier­bar ist. Denn zwar lassen sich nach wie vor immer mehr Transistoren immer dich­ter auf einen Chip packen, bloß erhitzt sich das derart hochgetunte Silizium (eines der von Ecos zumindest in der Metaphorik mit­ge­dachten »mineral memories«) inzwischen zu stark und sind entsprechende Produkte in weiterer Folge deutlich langsamer als die Vorgän­ger­modelle. Die Technologie der Zukunft wird also gerade im Hochleistungsbereich und unter Rücksicht auf die verwendeten Materialien eine gekühlte sein müssen; dieser Umstand wird die Kulturwissenschaften freuen.)
  • Der Vorteil davon findet sich bei der Analyse: Denn erst das Nebengeräusch und die Störung – scheinbar Gegensätze zu Ordnung, Struktur oder Information, wobei das eine nicht ohne dem anderen zu denken ist – erlauben diese. Eine Unordnung wie das Rau­schen, gerade wenn es in einem Naheverhältnis zur differánce gefasst wird, kann somit als konstitutiver Bestandteil jedweden Erkenntnis­zugangs angesehen werden und ließe sich insofern im Rahmen medien- bzw. infor­mationstheoretischer Diskurse fruchtbar einbringen.

1966, London, 30.07. Finale

  1. Herbert Zimmermann im Radio
  2. Rudi Michl im TV: Verlängerung, Hurst-Schuss, Reaktionen des Stadionpublikums in Wembley!

Die Oberflächenpräsentation zu den Stimmen und bewegten Bildern:


Worum es an diesem Nachmittag und in den Beiträgen wie Diskussionen sehr grundsätzlich und vielfältig ging:

Die Fußball Weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz war ein in mehrerlei Hinsicht legendäres Turnier. Es war die erste WM auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg, es gab dem taktisch revolutionären und spielerisch spektakulärem Fußball der ungarischen Nationalelf eine internationale Bühne, und es endete mit dem völlig überraschenden Triumph der krassen Außenseiter aus Deutschland. 

Die Legenden, die sich um die WM 54 ranken, wurden in den beteiligten Fußballnationen in Form von Zeitungsberichten, Radioreportagen, Filmdokumentationen und rückblickenden Berichten auf sehr unterschiedliche Weise geschrieben. Die Veranstaltung zum Jahrestag des Endspiels dient der Rekonstruktion und Wiedererinnerung dieser Vielschichtigkeit. 

Zentral sollte es dabei um eine Problematisierung des ›Siegerdiskurses‹ gehen, der mit der Marke »Wunder von Bern« einhergeht und die Bedeutung des WM-Siegs für die Wiedergeburt eines (bundes-)deutschen Selbstbewusstseins betont. Dieser Diskurs hat mehrere Implikationen:

  • Er übertüncht die sporthistorische Tatsache, dass die ungarische »arany csapat« nicht nur spielerisch besser, sondern aufgrund der Niederlage für alle Zeiten ohne Titel geblieben ist (was, außer vielleicht dem Holländischen foetball total der 70er Jahre, keinem anderen sog. großen Team je wieder widerfahren ist). Die Geburt des Mythos, deutsche Nationalmannschaften würden schönen Fußball kämpferisch bezwingen, hat seine Geburtstunde in Wankdorf und ist in seinen Folgen für das fußballerisches Selbstverständnis und die Semantik von ›Sieg‹ zu reflektieren. 
  • Er blendet – ganz im Gegensatz zur nimmer endenden Debatte um das Wembley-Tor – aus, dass die Ungarn in der 87. Minute höchstwahrscheinlich um einen regulären Ausgleich (durch Puskás, Abseits entschieden) gebracht wurden. Welchen Stellenwert haben solche ‚Ungerechtigkeiten‘ im Fußball? Welche Funktion haben revisionistische Diskurse? Was ist die Legitimität einer Tatsachenentscheidung im Horizont einer umfassenden fußballhistorischen Perspektive?
  • Er ignoriert vollständig, dass Ungarn 1954 mindestens ebenso sehr auf die Wiedergeburt eines Selbstbewusstseins angewiesen war, wie die Bundesrepublik. Die Vorbereitungen für die Siegesfeierlichkeiten in Budapest waren auf Hochtouren gelaufen und in ein Wasser gefallen, dessen Eiseskälte sich rückblickend nur noch erahnen lässt. Wie verhält sich die deutsche Wahrnehmung eines Wunders zu dem – in der offiziellen Fußballgeschichte stets nur erwähnten, nie jedoch gleichwertig mitberücksichtigen – Trauma in Ungarn? Beide, Wunder wie Wunde, prägen den Fußball beider Länder bis heute, sportlich wie gesellschaftlich. 
  • Er hat jegliche Reflexion darüber verhindert, wie sehr das Wunder von Bern dazu beigetragen hat, dass die gesellschaftliche Kommunikation in der BRD 20 Jahre lang ohne jede Reflexion auf die NS-Zeit betrieben wurde. Aufgrund der auffallenden Parallele zum Begriff „Wirtschaftswunder“ scheint es mir offensichtlich, dass dieser ‚magische‘ Diskurs gezielt als Mittel eingesetzt wurde, mit dem die Geister des Dritten Reichs vertrieben werden konnten. Was wäre aber passiert, wenn Deutschland sportlicher Zweiter geworden wäre? Die Helden von Bern wären durchaus auch zu Helden geworden – aber eben keine Sieger, was vielleicht auch seine heilsamen Seiten gehabt hätte. Was wäre umgekehrt in Ungarn geschehen, wenn die goldene Mannschaft mit dem Pokal nach Hause gekommen wäre? Wie lassen sich anhand dieser Fragen die beiden das WM Turnier rahmenden Aufstände 53 in der DDR und 56 in Ungarn neu perspektivieren?

Es kann bei alledem selbstredend nicht darum, den deutschen Erfolg schlecht- oder wegzureden; ebensowenig sollten Verschwörungstheorien à la Puskás einfach an die Stelle der Wunderlegende treten. Ganz im Gegenteil geht es darum, auch die Theorie Puskás’, hinter der Niederlage stünden westliche Agenten, die den Sieg eines kommunistischen Landes (wenn nicht: Armee, denkt man an die vielen Militärspieler in den Reihen der Ungarn) hätten verhindern wollen, ebenfalls als Diskurs zu analysieren. Und auch die beiden prekär neutralen Blickwinkel zwischen West und Ost, der österreichische (Halbfinalgegner der Deutschen und schließlich WM-Dritter und damit bestplatziert in der Geschichte) und der schweizerische (Gastgeber, im Achtelfinale ausgeschieden), sollte mit zur Sprache kommen, um der WM 1954 diejenige diskursive Vielschichtigkeit zurückzugeben, die ihr zukommt – bevor diese Vielschichtigkeit gerade auch in der Folge von Wortmanns aktuellem Film vollständig begraben wird.