Der Apparat

(Einleitung:)

Was hier gesagt werden soll, richtet sich nicht an jene notwendig immer große Masse von Menschen, für die das gute Geordnetsein des Daseins, wie es auch sei, zugleich dessen letztes und höchstes Etwas ist, die, wenn sie sich ins Philosophische erheben, darin das göttliche System des Lebens sehn und, wenn sie im Alltäglichen verbleiben, das warme Plätzchen spüren, das dabei nicht nur für andere, sondern auch für sie bereitet ist. Es könnte sich schon eher richten, wird aber wohl auch nicht verstanden werden von der zweiten Kategorie, den anderen, die – selber kräftige Naturen – diese gute Ordnung nicht für sich selbst, sondern deshalb wollen, weil sie in ihr die Grundlage der Kulturentfaltung zu spüren glauben oder vielleicht auch nur – eine heute immer größere Schar – die Garantie der Anteilnahme der schwächeren Schichten der Bevölkerung an der Kultur; und die von dieser Stellung her »Ordnung«, welche sie auch sei, vertreten. Gesprochen ist das hier zu Sagende zu Leuten, die ganz anders fühlen, die fühlen, daß im Leben und Geschichte nicht der Mechanismus, sondern die Auslösung der Kräfte die Grundlage des Großen ist, dessen, was der einzelne und dessen, was die Gesamtheit schafft. Und ganz verstanden – ich meine nicht nur äußerlich verstanden werden wird das, was hier gesagt wird, nur von denen, die fühlen, daß außerdem die großen Leistungen des Einzelnen und der Gesamtheit immer irgendwie zusammenhängen, daß auch das ganz Inkommensurable und Einzige, das geschaffen wird, in irgendeiner Weise doch nur Höhepunkt in Wahrheit kollektiver Kraftentfaltung ist, – und die, wenn sie es auch noch nicht wissen, wie es das ist, wie eigentlich die Kraftentfaltung der Nation und ihrer ganz großen Kinder innerlich zusammenhängen, doch weil sie glauben, daß zwischen beiden ein Konnex besteht, die psychische Entfaltung jedes Teils des Ganzen als wichtig und das geistige Absterben irgendeines Teils als gefährlich ansehen.
Für Leute, die so fühlen – es handelt sich um ein gemeinsames Kulturgefühl, mehr nicht bis jetzt – wächst heut ein ungeheures Problem herauf. Sie sehen, wie sich ein riesenhafter »Apparat« in unserem Leben erhebt, wie dieser Apparat die Tendenz besitzt, sich immer weitergehend über früher – sagen wir es zunächst einmal unklar – frei und natürlich gewachsene Teile unsrer Existenz zu legen, sie in seine Kammern, Fächer und Unterfächer einzusaugen, – sie fühlen, wie ein Gift der Schematisierung, der Ertötung alles ihm fremden, individuellen, selbstgewachsenen Eigenlebens dabei von ihm ausstrahlt, wie er an Stelle dessen ein riesenhaftes rechnerisches Etwas setzt, ein System, das mit einem toten Vor- und Nacheinander, brockenweisen Miteinander, seelenlosen Füreinander sich über alle Arbeit, alles Schaffen breitet. Und wenn sie sich dann sagen, daß man ja imstande sei, sich von dieser neuen Daseinsform doch innerlich zu distanzieren, sie, mag man auch äußerlich mit ihr verflochten bleiben, durch geistige Abstandnahme wenigstens von innen her zu überwinden, so sehen sie mit Entsetzen, wie die Psyche der Bevölkerung sich diesem »Apparate« anpaßt, wie sie in seine Kammern, Fächer und Unterfächer einkriecht, sich dort als in bequemen warmen Plätzchen häuslich festsetzt, wie sie die Leitern aufkriecht, die von einem zum andern warmen Plätzchen führen, wie sie mit anderen Worten einschrumpft zu der Sehnsucht nach Versorgtsein aus dem und zum Streben nach Karrieremachen in dem Apparat.
Kräfteabsorption durch einen toten Mechanismus sehn sie vor sich –, und Kräftelösung für das freie Leben, das fühlen sie als Unterlage jedes künftigen, jedes denkbaren weiteren kulturellen Schaffens.
Nur eine Seite des riesigen Problems, das darin liegt, soll hier besprochen werden; auch sie nur zum Teil. Nur die Frage der Möglichkeit sich vor dem neuen Mechanismus irgendwie zu retten, nicht seine Konstitution und seine innere Form soll behandelt werden; – nur die Frage also, die von ihm zu den außer ihm liegenden Kulturgrundlagen unseres Lebens hinüberführt. Und auch sie nur in der Begrenzung auf die Bedeutung, die das Hineingesogenwerden der mittleren und oberen Schichten der Bevölkerung in ihn hat, der Schichten, die er als Angestellte und Beamte in sich hineinzieht und durch deren Einsaugen er die heutige Bureaukratisierung der Gesellschaft schafft. Denn Bureaukratisierung der Gesellschaft ist ja nichts anderes als Verwandlung ihrer oberen Schichten in Beamte.

Alfred Weber: Der Beamte. In: Die neue Rundschau, H. 10 v. Oktober 1910 (XXIter Jahrgang der freien Bühne), S. 1321–1339, hier S. 1321f.

(Im Weiteren:)

Schon lange hatten wir in Riesenformen organisierte Teile der Gesellschaft. Wir hatten sie im Staat und in der Kirche. Und schon lange, anfangend vom vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, hatten wir die so organisierten Teile der Gesellschaft auch bereits als festgefügte rationale Organismen. Und so lange wir sie derart hatten, hatten wir auch schon den »Apparat«, der dann ihr Rückgrat bildet, der sie innerlich zusammenhält, sie gehen und funktionieren läßt; und hatten wir mit diesem Apparat die Bureaus und also Bureaukratisierung.

Ibid., S. 1322

Es war ein ungeheurer Rationalisierungsvorgang, der die Umschichtung des Lebens in die Großbetriebsgestaltung schuf, die wir heute im Gebiet der Technik Herrschaft der Maschine und der Arbeitsteilung, im Gebiet der Wirtschaft »kapitalistische Gesellschaft« nennen.

Ibid., S. 1323

[H]at einmal ein Gesellschaftskörper einen Umfang von bestimmten Größe angenommen, hat er ein gewisses Maß von Kräften in sich zu beherrschen, ist ein Umschlag seiner Elemente von bestimmter Größe zu vollziehen: nichts, auch nicht die größte Auflockerung der Verfassung kann ihn dann davor behüten, daß sich die Funktionen der Leitung, Ordnung, Aufsicht in ihm von den reinen Arbeitstätigkeiten absondern und daß sie, einmal gesondert, in dem Maße, als man rationalisierte und das heißt gelernte Arbeitskräfte für sie einstellt, auch »beachtlich« werden. Das kann nur vermieden werden, wenn die Rationalisierung selbst vermieden wird. Und gewiß mit Recht hat daher Schmoller immer überall hervorgehoben, daß die Bureaukratisierung technisch einfach ein Symptom entwickelter Gesellschaftsordnung ist. Es ist ihr in einer solchen nie und nimmer zu entfliehen.

Ibid., S. 1328

Am Beginn, dort an dem Tor, aus dem man ausfährt, steht das geheimnisvolle Wort »Matura«; und von diesem Tor fliegt man mit einigem Auf und Ab auf festen Schienen fort. Dort wird man auf der glatten Reise enden, wo das andere große Tor ist, über dem mit goldenen Lettern steht die Inschrift: »Herr Geheimrat«.

Ibid., S. 1331f.

[W]ir haben nicht bloß jenen ganz »vulgären« bureaukratischen Nimbus und die Kräfte, die allein von ihm ausstrahlen, – nein, wir haben ferner etwas, was Max Weber treffend als eine Metaphysik des Beamtentums bezeichnet hat, was man vielleicht besser noch die Theokratisierung des Beamten nennen sollte, seine ideelle Transsubstantiation ins Absolute. So stark ist noch die Empfindung jener künstlichen Bedingtheit unserer Existenz durch Organisation, so groß ist der Dank für all jene Elemente, die sie staatlich schaffen halfen, daß dies eine Stimmung bei uns brachte und auf Basis dieser Stimmung eine Lehre, von der man zutreffend allein das eben Angeführte sagen kann, – die – man muß ehrlich reden – einem Götzendienst vor dem Beamtentum verrichtet, ihn, den so viele unserer ersten Staatsrechtslehrer, angesehensten Historiker, wirkungsreichsten Volkswirtschaftler gleicher Art betreiben. Einen Götzendienst! Da aber jeder solche stets der Sache gilt – er will das wenigstens –, so heißt das Bestehen jener Lehre, daß in Wahrheit nicht der einzelne Beamte, sondern tatsächlich der »Apparat« erhoben und gesteigert wird; daß ein mystisch wunderbares Etwas aus ihm hergestellt wird, höchst merkwürdige Wolken um ihn ausgebreitet werden, daß er ausgestattet wird mit Kräften, die er sonst selbst in bureaukratischen Ländern doch nicht hat. Und das heißt wieder, daß der einzelne Beamte nur noch hoffnungsloser, unbedingter in ihn gänzlich eingezogen und verstrickt wird.

Ibid., S. 1332f.

Sicherlich auf keine Weise ist der bureaukratischen Organisation zu entfliehen. – Es ist gleichgültig, ob wir die Untergründe und Bedüftigkeiten unseres Lebens, das, was an ihnen organisatorisch ausgestaltet werden muß, dem Staat und seinen Untergliedern in die Hände legen oder, ob wir es dem überlassen, der es als Organisator und privater Unternehmer an sich zieht und und es für seine Geld- und sonstigen Zwecke zu verwerten weiß. In jedem Fall ist’s jene gleiche Maschinerie, jener gleiche ungeheure Bau, der herauskommt, in dessen öden ungezählten Kammern unsere Seele wie in Katakombenhöhlen ihres Daseins stirbt. Es ist gleichgültig, wer ihn schafft, wem er gehört, – der Käfig wird gebaut; er ist nun unser Schicksal. – Reden wir von dem, was wir wollen.
Das Ziel ist einfach: Wir wollen suchen uns vor dem Apparat als Menschen, als Personen, als lebendige Kraft zu retten. – Gut.

Ibid., S. 1334