Moby-Dick, Filet № 67 — vom Seriellen des Einschneidens, Abflensens, Ausbeutens; oder Shamble Nr. 67. (Kapitelkommentar veröffentlicht: Cutting In. Die Blutorange. In: Neue Rundschau H. 3/2020 [131. Jg.], S. 129– 136.)
Wenn Melvilles »Moby-Dick« auch als Roman der Gier und Verwertung, durchaus stellvertretend für viele Geschehnisse und Verläufe des 19. Jahrhunderts, die bis heute herauf Begründungszusammenhänge liefern, gelten mag, so hat dies ganz banal auch mit dem Trieb der damaligen Gesellschaft nach Licht und der bis knapp nach Erscheinen des Romans 1851 bestehenden Notwendigkeit der Ölgewinnung zur See zu tun. Die Wale waren aufzubringen und zu verwerten. »Blood’s a Rover« (James Ellroy) – as well as Oil. Es braucht verdammt viel Öl in diesem 19. Jahrhundert, dessen Gewinnung musste rasch vor sich gehen, es wurden serielle Vorgänge notwendig, wie man sie bis dahin und in anderen Maßstäben allenfalls vom Buchdruck kannte. Diese seriellen Abläufe zur See erfuhren bald eine verwandte Anwendung zu Land, als die Schlachthöfe für die wachsenden Großstädte eingerichtet wurden, es um massenhafte Fleischproduktion ging, um Serienschlachtung.
Das 19. Jhdt. erscheint als jenes der disassembly lines, vom Walfang und dessen Ökonomie des Ausschlachtens lernen die Schlachthöfe (Wien, Paris, Chicago [1] …); im 20. Jhdt. werden abgeleitet davon und parallel dazu assembly lines gespannt (Produktionslinien). Die beiden Formen des Fließbands bestehen mitunter sogar verflochten, so etwa unter Bedingungen des Krieges und Völkermords, bis in Kommandozeilen und Algorithmen: sie sind sowohl zur Generierung von Inhalten & Kommunikation als auch zur Zerstörung & Abtragung dienlich. (Und in gewisser Weise erinnert sogar noch der sog. »Warentrenner« am Fließband zur Supermarktkasse und dem damit letzten öffentlichen Ort der Verwertungsketten an die Speckspaten im »Moby Dick«, wie sie etwa in der Fußnote von Kapitel 66 vorgestellt oder in Kapitel 67 und zahlreichen anderen zum Einsatz gebracht werden.) Man denke sich an dieser Stelle einfach ein paar Verweise auf Marey, Muybridge (Serienfotografie zur Optimierung von Bewegungsabläufen), Gilbreth (zu eben dem genannten Zweck Leuchtspuren an den Arbeiterkörpern und lange Belichtungszeit), Taylor (»Principles of Scientific Management«), Ford (ab 1913 der Ford Model T am Fließband in Japan Schwarz), Londe, nochmals Muybridge und dann auch Anschütz (Körper- und Ballistikstudien für das Militär) … Systeme wurden auf Körper angewandt. Auf der Pequod musste man hingegen solche Optimierungen scheinbar nicht anwenden: ab und an ein Zuruf, die Aufnahme des Rhythmus, alle wissen um ihren Platz und ihre Handgriffe. (Und auch davon handelt dieser Roman.)
Und hier soll es doch nur um den ersten Absatz dieses 67. Kapitel gehen, auch das nur in aller Kürze – und außen vor lassend all die vielen anderen Zeilen dieses doch so erstaunlich kurzen Kapitels. Damit die Fragen der Geräusche, der Zerteilungsvorgänge, des schreckhaften Mastes, der Schwerarbeit an Bord (und insbesondere auch des Flensens), der Mechaniken und der Orange an sich. Dass eben das scheinbar Gewöhnliche dieses Handwerks, das in diesem Kapitel scheinbar handlungstragend wird, diese mögliche Pause in der literarischen Schnappatmung Moby-Dicks, hat auch dadurch Bedeutung, dass der Akt der Transformation ebenso einer der Transitorik ist. Hier wird in sehr präzise konzipierter und umgesetzter Sprachführung das Uhrwerk für die folgenden Kapitel aufgezogen. Erst aus der in Gang gesetzten Rotation des Walleibs kommt das Geschehen in Gang – das Geschehen, das ein Schreib- und Lesefluss, ein Beschreiben und Erzählen respektive Rezipieren ist ist: die Haut (Kap. 68), der Kadaver (Kap. 69), der Kopf (Kap. 70 ff.), der Schwanz (Kap. 80), der Salon und die Gentlemen (Kap. 98) … es folgt sozusagen Kapitel für Kapitel eine Indexierung der Walteile. Aus der Rotation des Wals beim Flensen speist sich eine Energie, die für den Antrieb der folgenden Kapitel wesentlich ist. Die Mutter aller Hekatomben wird für den Roman selbst geschlachtet. Der Wal gibt sich sozusagen selbst den Antrieb und er ist sich nach erfolgter Harpunierung selbst das Fließband, während die ihm abgeflenste »Haut«, seine ausgelassene Speckschicht, das Licht in die Schlachthöfe bringen wird. Das Kapitel darf nicht in seiner ästhetischen Qualität verkannt werden: es ist voll mit Metaphern, Tropen allerlei Art, Stilfiguren; es ist in sich perfekt strukturiert und semantisiert. Das Kapitel selbst hat Rhythmus, insbesondere wenn es diesen als funktionierend darstellt. Also der erste Absatz, die Pequod wird zur Schlachtbank und -platte, es wird geschändet und geopfert…
»It was a Saturday night, and such a Sabbath as followed! [2] Ex officio professors of Sabbath breaking are all whalemen. The ivory [3] Pequod was turned into what seemed a shamble; every sailor a butcher. You would have thought we were offering up ten thousand red oxen to the sea gods.« (303)
Ein Opfer dieser Größenordnung, eingebettet in religiöse Begründungszusammenhänge, benötigt einen Ritus. Es geht dabei um die wiederkehrende Ausführung von Handlungen mit medialer Qualität, die das Thema der Verwandlung in unterschiedlicher Weise deklinieren. Soll ein Opfer erfolgreich dargebracht, d.h. akzeptiert werden, bedarf es gemäß tradierter Mustererkennung bestimmter Handlungsroutinen zur Überwindung der Problemstellung. Beides ist an Bord der Pequod gegeben, somit die Aussicht auf Verwandlung/Transformation und die korrekte Ausübung des Handwerks – überdies die ›Opferung‹ begleitende Gesänge (wovon noch zu sprechen sein wird); auch kennen wir die Bedeutung des elfenbeinernen Fangschiffs und die intensiven Reinigungen von Schlachtbank und Schlächtern nach der Tat.
Meeresgöttern wird ebenso gehuldigt wie das Signalement »Sabbat« markant gesetzt wird. Doch es sind keine jüdischen Reglements, die hier verletzt würden. Ismael ist Presbyterianer und der »Sabbat« ein Sonntag. Mit dem Begriff wird jedenfalls ein monotheistischer Komplex aufgerufen, während am Ende des Absatzes Meeresgötter und Opfergaben eingeführt werden. Referenzen und die Wirkungsmächtigkeit mythologischer Anklänge scheinen wesentlicher als eine wie immer betriebene Kohärenz. Vieles ist nur scheinbar bei den Männer vom Stamm der Pequod, den »ex officio professors of Sabbath breaking«: »Es war, als brächten wir« (482) // »You would have thought we were offering« (303) – Dieses WIRinvolviert den Erzähler ins Geschehen. Er ist unter jenen, die eine Schlachtbank betreiben, auf der es so aussieht, als würden 10.000 rote Ochsen geopfert. Griech. hekatón steht für 100, die Hekatombe sind 100 Rinder und zehntausend von diesen zu opfern ist nummerisch besehen die Hekatombe der Hekatombe. Der Vergleich mit zehntausend Ochsen deutet die Darbringung eines ›Überopfers‹ an; einen Pottwal zu schlachten das neuzeitliche Äquivalent zur Vorzeit: qualitativ und quantitativ geht es um die Mutter aller Hekatomben, die Hekatombe-hoch-Zwo.
Eine »Hekatombe« entsprechend der im Mythos oktroyierten Ökonomie des Gebens wird auch von Adorno/Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung (im Zusammenhang mit Odysseus und den Sirenen) aufgerufen. Die Motivlage im »Moby Dick« ist zwar keiner anderen Notwendigkeit geschuldet als jener einer selektiven Ausbeutung – doch genau damit ist die Mannschaft der Pequodnahe an dem, wovon Adorno/Horkheimer wesentlich handeln: Dem Mythos und seinem Opfer sind stets Betrug, List und Schein notwendig eingeschrieben. Es ist kein einfaches Geben, sondern vielmehr ein Nehmen unter diametralen Vorzeichen. Die Ökonomie des Opferns ist eine des Betrugs zugunsten einer Kapitalismus wie Bürgertum (den eigentlichen Nutznießern auch des Walfangs) bekannten Orientierung auf maximale Gewinnziehung. Der Anschein des Verlusts ist von vornherein als trügerisch, notwendigerweise listig angelegt und wird so auch von Melvilles Erzähler dargestellt – wodurch die Schändung eben nicht nur Regeln einer ›Sabbat-Gottheit‹, sondern auch den polytheistischen Komplex der Vorkultur zu umfassen vermag. Das »Opfer« ist letztlich weder ein Speiseopfer (thysia) noch ein Brandopfer (sphagia) – die völlige Auslöschung im Kessel führt vielmehr zu einem noch wertvolleren Aggregatzustand. Das scheinbare Opfer ist tatsächlich nichts weniger als ein großer Trick.
Für all dies (Mythos/Opfer/Kapitalakkumulation et cetera) ist die präzise Wiederholbarkeit handwerklicher Fähigkeiten, die exakte Serialität der Ausschlachtung, unabdingbar: das Abflensen kennt wie ein Ritual genaue Regeln und Abläufe, die zu befolgen sind. Es hat dem zu entsprechen was davor der Fall war und danach immer wieder sein soll. Bis dem durch den Leviathan ein Ende gesetzt wird.
Melville schreibt nicht »slaughterhouse« sondern Shamble« und bezeichnet damit sowohl ein Schlachtfeld als auch eine Schlachtbank respektive Metzgerei. In diesem interpretatorischen Spielraum werden Schlachtung und Krieg enggeführt – und das Kapitel selbst verweist in seinen möglichen Bedeutungsaufrufen der weiteren Folge stets auf diesen ersten Absatz zurück. Schwertkämpfer schlagen auf vom Himmel herabhängende blutige Körperteile ein, durchtrennen »Schärpen«; höchste Konzentration aller ist erforderlich, Gesänge ertönen, der wie ein Weihrauchfass pendelnde Streifen Walblubber wird mit scharfen Spaten [4] bearbeitet, in Stücke geschnitten, bevor wenige Kapitel später die verbliebene Kadavermasse auf den Horizont zutreibt, von Haifischen und Vögeln zum Leichenschmaus erkoren.
Geopfert und gekämpft wird auch in der »Anabasis« [›Hinaufmarsch‹, ›Anmarsch‹] Xenophons, die um 370 v. der Zeitrechnung den »Zug der Zehntausend« darstellt. Die entscheidende Schlacht war an sich erfolgreich, doch der Anführer Kyros und seine wichtigsten Offiziere starben; der somit gescheiterte Feld- wird zum Rückzug, bei dem es unter Führung Xenophons nur noch um das Überleben der verbliebenen – 10.000 – Soldaten (griechischen Söldnern) geht. Immer wieder werden Opfer gebracht, um die Rettung zu gewährleisten und das Schwarze Meer bei Trapezunt zu erreichen – der bekannte Ruf des Θάλαττα, θάλαττα (Thálatta! Thálatta! – »das Meer, das Meer!«, Xenophon, an. 4, 7, 24) kündet schließlich vom glücklichen Ausgang. Dies aber wird der Mannschaft der Pequod nicht vergönnt sein, dass sie lediglich um ihre Führungsspitze beraubt und mit dem Erzähler Ismael als neuem Anführer nach Nantucket zurückkehrte.
Der 1. Absatz schlägt zwischen Opferritus und Schändung, Häutung und Mythos eine verdichtete Lesart dessen vor, wie die Handlungen des Kapitels sich im Gefüge des Romans auch einordnen lassen: als Sequenz aus einem auf Serialität und Routine angelegten Walfängerhandwerk, das trotz aller Listen an der Hybris des Unterfangens scheitert.
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[1] Wie kann man sich Schlachthäuser um 1850 vorstellen, sind das bereits Vorstufen zur Schlachtung am Fließband wie in den Fleischfabriken Chicagos, diesen »killing floors«, über die Thomas Pynchon (2006 in »Against the Day«) die »Freunde der Fährnis« 1893 mit der Inconvenience fliegen lässt (Thomas Pynchon: Against the Day. London: Penguin Books 2007, S. 10), so wie diese auch die Weltausstellung do. (1. Mai bis 30. Oktober 1893) besuchen? Ja, so in etwa, damals noch etwas kleinteiliger, zu ersten großen Zentralisierungen kommt es ab 1860–1870.
[2] Melville verwendet den Begriff »Sabbath« um auf den Sonntag zu referenzieren. Dies war durchaus üblich unter christlich Gläubigen des 19. Nordamerikanischen Jahrunderts (und ist es in manchen Gegenden bis heute). Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, durch die verstärkte Einwanderung von Juden vor allem aus dem Osten Europas – die den mörderischen Pogromen zu entkommen suchten, dem damals schon rasenden Antisemitismus, der schließlich Millionen derer die geblieben waren in die Vernichtungsmaschinerien der Nationalsozialisten warf –, kam es wieder zu einer Begriffsverwendung im ursprünglichen Sinn, in der Bedeutung ›Samstag‹.
[3] Dass die Pequod als elfenbeinweiß ausgewiesen wird, ist kein Hinweis auf ihre Unschuld, sondern vielmehr auf die bereits vielfach an Deck verarbeiteten Wale und deren Öl (seit 30 Jahren steht sie in Diensten des Walfangs) sowie das anschließende Säubern (Kapitel 98: »This is the reason why the decks never look so white as just after what they call an affair of oil.«), u.a. mit einer Lauge, die aus Meerwasser und Walöl gewonnen wird. Die ›Reinheit‹ vor dem Flensen steht für den seriellen Fangerfolg und – so lässt sich daraus unschwer der Rückschluss ziehen, dass knapp vor dem Eingangs ins Kapitel 67 ein Trantag anstand, Beute gemacht und verarbeitet worden war, nur um anschließend das Schiff erneut vollständig zu reinigen.
[4] Cf. die Fußnote in Kapitel 66 (489).