»Du willst doch nicht behaupten, daß man es dabei bewenden lassen kann?!«
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Gesamtausgabe Bd. 1. Hg. v. Walter Fanta. Salzburg: Jung und Jung 2016, S. 344–346 (Kapitel 54).
»Ich möchte es dabei bewenden lassen« sagte Ulrich ruhig. »Unsere Anschauung von unserer Umgebung, aber auch von uns selbst, ändert sich mit jedem Tag. Wir leben in einer Durchgangszeit. Vielleicht dauert sie, wenn wir unsere tiefsten Aufgaben nicht besser anpacken als bisher, bis zum Ende des Planeten. Trotzdem soll man, wenn man ins Dunkel gestellt ist, nicht wie ein Kind aus Angst zu singen beginnen. Ein solcher Gesang aus Angst ist es aber, wenn man so tut, als wüßte man, wie man sich hienieden zu benehmen hat; da kannst du grundstürzend brüllen, es ist doch nur Angst! Übrigens bin ich überzeugt: Wir galoppieren! Wir sind noch weit von den Zielen entfernt, sie rücken nicht näher, wir sehen sie überhaupt nicht, wir werden uns noch oft verreiten und die Pferde wechseln müssen; aber eines Tags – übermorgen oder in zweitausend Jahren – wird der Horizont zu fließen beginnen und uns brausend entgegenstürzen!«
Es war dämmerig geworden. »Niemand kann mir ins Gesicht sehn« dachte Ulrich. »Ich weiß nicht einmal selbst, ob ich lüge.« Er sprach, wie man in einem Augenblick, der seiner selbst nicht gewiß ist, das Ergebnis jahrzehntelanger Gewißheit zusammenfaßt. Er erinnerte sich daran, daß doch dieser Jugendtraum längst hohl geworden war, den er Walter vorhielt. Er wollte nicht mehr weiter reden.
»Und wir sollen« erwiderte Walter mit Schärfe »auf jeden Sinn des Lebens verzichten?!«
Ulrich fragte ihn, wozu er eigentlich einen Sinn brauche? Es ginge doch auch so, meinte er.
Clarisse kicherte. Sie meinte es nicht bös, die Frage war ihr so spaßhaft vorgekommen.
Walter zündete Licht an, denn es schien ihm nicht nötig zu sein, daß Ulrich vor Clarisse den Vorteil des dunklen Mannes ausnütze. Ärgerliche Blendung überschüttete die drei.
Ulrich erläuterte verstockt: »Was man im Leben braucht, ist bloß die Überzeugung, daß das Geschäft besser geht als das des Nachbarn. Das heißt: deine Bilder, meine Mathematik, irgendjemandes Kinder und Frau; alles das, was einem Menschen versichert, daß er zwar in keiner Weise etwas Ungewöhnliches ist, aber in dieser Weise, keinerweise etwas Ungewöhnliches zu sein, doch nicht so leicht seinesgleichen hat!«
Walter hatte sich noch nicht wieder hingesetzt. Unruhe war in ihm. Triumph. Er rief aus: »Weißt du, was du da sagst? Fortwursteln! Du bist einfach ein Österreicher. Du lehrst die österreichische Staatsphilosophie des Fortwurstelns!«
»Das ist vielleicht nicht so übel, wie du denkst« gab Ulrich zur Antwort. »Man kann aus einem leidenschaftlichen Bedürfnis nach Schärfe und Genauigkeit oder Schönheit dahin kommen, daß einem Fortwursteln besser gefällt als alle Anstrengungen in neuem Geiste! Ich wünsche dir dazu Glück, daß du Österreichs Weltsendung entdeckt hast.«
Walter wollte erwidern. Aber es zeigte sich, daß das Gefühl, das ihn in die Höhe getrieben hatte, nicht nur Triumph war, sondern – wie sagt man es? – auch der Wunsch, einen Augenblick hinaus- zugehen. Er schwankte zwischen den zwei Wünschen. Aber beides ließ sich nicht vereinen, und sein Blick glitt von Ulrichs Augen ab auf den Weg zur Türe.