Gedanken zu verbergen (2)

Wie anzudeuten war, gibt es noch eine Bemerkung betreffend Heine zu ergänzen. 

Folgt man dem bereits zitierten »Büchmann«, scheint es angezeigt, dass es neben Voltaire/Talleyrand noch einen Franzosen hinsichtlich der Urheberschaft dieser Geistessentenz à la Tuzzi et al. geben könnte: Heine schrieb eine sehr ähnliche Joseph Fouché zu. Ausgerechnet Fouché, der nicht als begnadeter Rhetoriker auffiel – und der dem einstigen Kriegspropagandisten/Heldenfriseur und Pazifisten post quem Stefan Zweig in der gleichnamigen Biographie als erster Diener vieler Herren und Regime erschien. Im Zusammenhang mit dem von Heine so dargestellten Krieg der wenigen Vernünftigen gegen die vielen Unvernünftigen heißt es jedenfalls hinsichtlich des Verbergens von Gedanken wie der Anwendung von Listen:

Ihre Kriegslisten sind oft von sehr schlauer Art. Einige Häuptlinge der großen Armee hüten sich wohl, die geheime Ursache des Kriegs einzugestehen. Sie haben gehört, ein bekannter, falscher Mann, der es in der Falschheit soweit gebracht hatte, daß er am Ende sogar falsche Memoiren schrieb, nämlich Fouché, habe mal geäußert: les paroles sont faites pour cacher nos pensées; und nun machen sie viele Worte, um zu verbergen, daß sie überhaupt keine Gedanken haben, und halten lange Reden und schreiben dicke Bücher, und wenn man sie hört, so preisen sie die alleinseligmachende Quellen der Gedanken, nämlich die Vernunft, und wenn man sie sieht, so treiben sie Mathematik, Logik, Maschinenverbesserung, Bürgersinn, Stallfütterung usw. – und wie der Affe umso lächerlicher wird, je mehr er sich den Menschen ähnlich zeigt, so werden auch jene Narren desto lächerlicher, je vernünftiger sie sich gebärden.

Heinrich Heine: Ideen – Das Buch Le Grand. In: Heines Werke in fünf Bänden. Band 3.Berlin, Weimar: Aufbau 1986, S. 4–71, hier: S. 59f.

Dies führt wieder zu dem von Musil dem Tuzzi zugeschriebenen Satz »Er erinnerte sich an den Ausspruch Voltaires, daß die Menschen die Worte nur anwenden, um ihre Gedanken zu verbergen, und der Gedanken sich nur bedienen, um ihre Ungerechtigkeiten zu begründen. Gewiß, das war immer Diplomatie gewesen. Aber daß ein Mensch soviel sprach und schrieb wie Arnheim, um seine wahren Absichten hinter Worten zu verbergen, das beunruhigte ihn als etwas Neues, hinter das er kommen mußte.« (MoE I.52) 

Es ließe sich bedenken, dass Musils Sektionschef Tuzzi in der gesamten Entwicklung des Romans »Der Mann ohne Eigenschaften« eine durchaus eigentümliche Rolle spielt und nebstbei ein eigenes Spiel betreibt, das durchaus geplant auf einen veritablen Krieg hinausläuft (NB: es gibt eine real existiert habende Entsprechung, die Vorbild Musils für die Ausarbeitung dieses Tuzzi war; nicht, wie Corino dachte Schwarzwald, der Sektioner im Finanzministerium, dies keinesfalls – sondern Rudolf Pogatscher, cf. Das verwaltete Wissen, politischer Sektionschef in besagtem Ministerium, rechte wie linke Hand des Grafen Berchtold, mit den Ersten Weltkrieg befördert habender mächtigste Figur im Beamtenkorps und wie Tuzzi ein Aufsteiger, ein Bürgerlicher). Dessen Frau Diotima mag den Salon der Parallelaktion führen, er jedoch hat (wie an vielen Stellen erwähnt) Zugang zu den geheimen Informationen seines »Ministeriums des Äußern« (durchaus auch jene, mit denen die Rolle Arnheims, d.i. die dem Großindustriellen Rathenau nachgeschriebene Figur, ausreichend beleuchtet wird – diesem geht es wesentlich um Rohstoffe im galizischen Boden und weniger um erotische Aufwallungen hinsichtlich Diotima, der »Antike mit einem wienerischen Plus« (MoE I.46)).  

Und hier sei, im Zusammenhang mit Rathenau eingeflochten, an Musils Rezension von ebendessen »Zur Mechanik des Geistes« (die 1914 dritte Publikation des großen Geistes aus großindustriellen Verhältnissen, vulgo militärisch-industrieller Komplex) erinnert. Musil hält von dem Buch nichts (und darf dies nicht allzu deutlich werden lassen, da Fischer ihr gemeinsamer Verleger ist und obendrein Musil für dessen “Neue Rundschau” die Rezension schreibt). Ebenso ließe sich hinsichtlich der Begrifflichkeiten auf Musils Schilderung seiner ersten Begegnung mit Rathenau und die damit verbundenen Eindrücke (Tagebuch) hinweisen – nimmt man die zitierte Heine-Stelle, so ergibt sich eine feine Übereinstimmung mit dem, was Musil zu Rathenau notiert. 

Und dies alles zusammen – das verschrammte Voltaire-Zitat der Romanfigur Tuzzi mit ihren diplomatischen Hintergedanken wie auch die vieldeutig zuweisenden Urheberschaften mit den je kleinen distinktiven Unterschieden der Gedankensentenz im »Büchmann« wie »Duden« – könnte [!] eine dieser gar nicht zwanglosen Verdichtungen sein, mit denen Musil den ganzen MoE durchzieht. Der böse Witz des Voltaire, die diplomatische Kaltblütigkeit des Talleyrand, das Spitzelwesen Fouchés werden in eins geführt – und dann noch mit einer Volte gegen Arnheim, gegen Rathenau, versehen. 

Ein wenig verhält es sich wie mit dem Rauschen in den Digitalen Medienerscheinungen und Kanälen (und zuvor bereits im Radio): Erst in der Mehrdeutigkeit und den Überlagerungen, in den unterschiedlich motivierenden Zuweisungen der Urheberschaft qua eines Zitatenlexikons, ist eine Spur der Wahrheit zu finden. Und es geht um den Krieg – bei Musil und in der Tuzzi-Figur um den von 1914 ff.


cf. (u.a. ad Pogatscher Rudolf) ☞ Das verwaltete Wissen