oder Von blutigen Köpfen und Schädelstätten
(Konsolidierte Fassung von »Geisterwelt« [s. dort hinsichtlich Zitatnachweisen und Links], für einen 20minütigen Gastbeitrag im Seminar »Gespenstererzählungen«; aus zeitlichen Gründen unter weitgehender Missachtung des an sich zwingend notwendigen Abschnitts hinsichtlich optischer Medien wie Fotografie und Film, zudem wesentlich auf das 19. Jahrhundert fokussiert. Hinzu kommt, dass hinsichtlich des als Vorbereitung zu lesen gewesenen Textes das 69. Kapitel aus Melville »Moby-Dick« gewählt wurde, weshalb darauf einzugehen ist. Den blutroten Faden, der das zusammenhalten soll, gibt es vielleicht nicht – daher Teil II: Filet № 69 (2). Jedenfalls genug blutige Köpfe, weiße Gestalten und Medien.)
»Velut aegri somnia, vanae. [/] Finguntur species« [quasi: Wie Fieberträume eines Kranken werden Wahngebilde erdichtet], zitiert Michael de Montaigne 1580 im ersten Band seiner »Essais«, in einem Abschnitt über den Müßiggang, aus Horaz’ Brief »De arte Poetica«. »Kein Hirngespinst gibt es, kein Wahngebilde, das [der Geist] in diesem Zustand der Erregung nicht hervorbrächte, ›gleich den Fieberträumen eines Kranken [/] nichtige Gesichte und Gedanken.‹« (Ü: Hans Stilett)
Durchaus motivisch adressiert dann 1765 Horace Walpole mit der 2. Auflage seines Romans »The Castle of Otranto. A Gothic Story«, der heute an den Anfang jeder Literaturgeschichte des Schauerromans gesetzt wird, die Horaz-Worte an die p.t. LeserInnen. Für den Erstdruck 1764 verbarg er sich noch hinter einer Autorfiktion, setzte noch kein »Gothic« und (folglich?) auch keinen Horaz aufs Titelblatt.
Immanuel Kant wird 1766 dieses Zitat – anders als Walpole exakt in der Abschreibweise Montaignes – seiner im ersten Abdruck noch anonym publizierten Abhandlung »Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik« voranstellen.
Horaz hatte im Kontext des paar Zeilen noch seine Ablehnung einschlägiger Bild- und Textelemente zum Ausdruck gebracht (»credite, […], isti tabulae fore librum [/] persimilem, cuius, velut aegri somnia, vanae [/] fingentur species, ut nec pes nec caput uni [/] reddatur formae« [/] Glaubt mir, […], einem solchen Gemälde wird ein Buch sehr ähnlich sein, dessen phantastische Formen wie Träume eines Kranken erschaffen werden, so dass weder Kopf noch Fuß sich zu einer Gestalt fügen; De arte poetica 6ff.) – Die »Königsberger Normaluhr« wird jedoch wie schon Montaigne (wobei: es ist auch denkbar, dass Kant die Sentenz abschrieb und auf die Quelle MdM vertraute) eine kleine Änderung beim Tempus vornehmen und statt des Horazschen Futurs »fingentur« das Präsens »finguntur« setzen; er hebt damit die Passage aus dem Zusammenhang des Jahres 14 vor unserer Zeitrechnung zweifach in den seinen. Auch bei Walpole bleibt das überlieferte ›Original‹ nicht unverschont, es wird sogar in sein Gegenteil verkehrt: »… … Vanae [/] Fingentur species, tamen ut Pes, & Caput uni [/] Reddantur formae« [Leere Gebilde werden erschaffen, nichtsdestotrotz sich Kopf und Fuß zu einer Einheit fügen] – und prompt setzt die Handlung damit ein, dass ein riesiger Helm den präsumtiven Erben des Schlosses erschlägt.
Köpfe und Füße und Erschlagene; Kant wird jedenfalls bezugnehmend auf Swedenborgs Geistersichtungen und -erörterungen sich zunächst (u.a. für Schiller) folgenreich mit der Frage beschäftigen, wie und ob überhaupt Geistererscheinungen möglich seien. Metaphysik als »Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft«. Zu Lebzeiten sei es nicht möglich, Geister zu sehen, dies würde erst nach dem Tod möglich sein. Aber/Und: »Ich kann nicht zugleich in dieser und auch in jener Welt seyn.« Das Problem ist natürlich, dass der Griff zu einschlägiger Literatur mit genau so einem Versprechen verknüpft ist. Kant wird zumindest die Denkmöglichkeit entsprechender Erscheinungen zugestehen und darauf verweisen, dass derartige Effekte und Wahrnehmungen evozierbar sind. Nicht zuletzt deshalb setzt er Horaz das Präsens in die Zeilen. Schwärmerei, Einbildung, Halluzination sei es, was da erzeugt wird – und er hat sehr genau im Blick, was mit Mitteln der Laterna magica und ähnlichen Tricks möglich war. Schiller wird ihm im »Geisterseher« da um nichts nachstehen, wenn es darum geht, den Kopf der LeserInnen im Dienste der Aufklärung zurechtzurücken. Und Friedrich Kittler konnte ganz richtig in einem einschlägigen Aufsatz aus 1994, betreffend Schillers und Hoffmanns Medienstrategien, feststellen: »Modell für romantische Wirkungspoetiken stand also weniger die Camera obscura als vielmehr ihre technische Umkehrung: die Laterna magica.« Quasi: Vom Kopf auf die Füße stellen und umgekehrt …
Ein Kopf ist es, der dem jungen Hegel 1805/06 in der Nacht des reinen Selbst, der Jenaer Realphilosophie, erscheinen wird: »in phantasmagorischen Vorstellungen ist es rings um Nacht, hier schießt dann ein blutig Kopf, – dort eine andere weiße Gestalt plötzlich hervor, und verschwinden ebenso«, als würde ausgeleuchtet von optischen Apparaten, mit ihren Auf- und Abblendfunktionen, den Möglichkeiten des Zooms, auf künstliche Nebelschwaden projiziert, kein Weg aus den Wonnen der Schauerromantik führen wollen.
Schockeffekte, eine ungefähre Erinnerung an einstige Revolutionstage (als eine Maschine wie die Guillotine zur Idee und Realität wurde, nunmehr zu solchen ernannte »BürgerInnen« im weißen Hemd zum Schafott gebracht wurden, um sich einen blutigen Kopf zu holen) und ein von etwas mangelhaftem Differenzierungsvermögen gekennzeichnetes Selbst. Schiller – der in seinem ersten Anlauf zur Dissertation, der »Philosophie der Physiologie«, dem »Nervengeist« wesentlichen Platz samt Bedeutung als Schnittstelle/Interface für den Austausch von Innen-Außen samt Wahrnehmungen eingeräumt hatte – ließ in seinem »Geisterseher« ähnlich sortierte Gestalthaftigkeiten aufmarschieren (und wie seine LeserInnen wissen, liegt allem Spuk dieser Séance bloß ein Trickbetrug, ein künstlich herbeigeführter Täuschungseffekt, im Dienste der Aufklärung des Kant-Lesers Schiller [u.a. wenn alle Apparate und Mechaniken genau erklärt werden], auf der Romanebene im Sold der Macht und des Kampfes um religiöse Vormachtstellung, zugrunde):
Unter den heftigsten Zuckungen rief er den Verstorbenen dreimal mit Namen, und das dritte Mal streckte er nach dem Kruzifixe die Hand aus – – [/] Auf einmal empfanden wir alle zugleich einen Streich wie vom Blitze, daß unsere Hände auseinander flogen; ein plötzlicher Donnerschlag erschütterte das Haus, alle Schlösser klangen, alle Türen schlugen zusammen, der Deckel an der Kapsel fiel zu, das Licht löschte aus, und an der entgegenstehenden Wand über dem Kamine zeigte sich eine menschliche Figur, in blutigem Hemde, bleich und mit dem Gesicht eines Sterbenden. […] Hier erzitterte das Haus von neuem. Die Türe sprang freiwillig unter einem heftigen Donnerschlag auf, ein Blitz erleuchtete das Zimmer, und eine andere körperliche Gestalt, blutig und blaß wie die erste, aber schrecklicher, erschien an der Schwelle. Der Spiritus fing von selbst an zu brennen, und der Saal wurde helle wie zuvor.
Besuche im Geisterreich wie jene von Hegel oder Schiller erfahren unweigerlich ihre Markierungen und Eindrücke, auch wenn diese kurze Zeit später eine geglättete Wiedergabe, zu einer »Phänomenologie des Geistes« hin, aufweisen:
Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien, in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit.
Von der Revolution des Schauers zur Wissenschaft des erscheinenden Wissens, en passant ein Bacchanal des Geistes.
Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen. (Deutsche Ideologie)
Menschen und Ereignisse erscheinen als umgekehrte Schlemihle, als Schatten, denen der Körper abhanden gekommen ist. Die Revolution selbst paralysiert ihre eigenen Träger und stattet nur ihre Gegner mit leidenschaftlicher Gewaltsamkeit aus. (Der Achtzehnte Brumaire)
Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken. (Das Kapital)
Es geht nicht nur »ein Gespenst um in Europa« (Manifest der Kommunistischen Partei), es sind ganze Heerscharen, befeuert von Schauerromantik und optischen Faszinationsmaschinen. Soviel Vernichtungsenergie zeitigt aber auch sehr reale Spuren:
Betrachten wir nun das Residuum der Arbeitsprodukte. Es ist nichts von ihnen übriggeblieben als dieselbe gespenstige Gegenständlichkeit, eine bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit, d.h. der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ohne Rücksicht auf die Form ihrer Verausgabung. (Das Kapital)
Es geht um den Tauschwert der Ware, Kern kapitalistischer Ökonomie, von dessen Erstellung (an Assembly- und zuvor noch Disassembly-Lines) nichts als eine formlose Masse übrigbliebe. Vergleicht man dieses Sprachbild von der »Gallerte« mit Edgar Allan Poes gut zwanzig Jahre davor erschienener und furios erfolgreicher Geschichte »The Facts in the Case of M. Valdemar«/»Die Tatsachen im Falle Valdemar« (1845) – wenn dieser im finalen Moment zerfällt, rapide verwest, während seine Zunge noch wie ein Telegraf die letzten Signale funkt – liegt eine weitere Querbeziehung des Gespenstischen und der Gestaltwandlung:
As I rapidly made the mesmeric passes, amid ejaculations of ›dead! dead!‹ absolutely bursting from the tongue and not from the lips of the sufferer, his whole frame at once—within the space of a single minute, or even less, shrunk—crumbled—absolutely rotted away beneath my hands. Upon the bed, before that whole company, there lay a nearly liquid mass of loathsome—of detestable putridity.
An dieser Stelle möchte ich wieder deutlicher den medialen Aspekt – die »extension of man« – berücksichtigen, wenn es um die Geister und Gespenster geht. Wendet man die Frage nach dem medialen Mehrwert auf Marx’ Erörterung des Fetischcharakters der Ware an, ginge es um ›das Geheimnisvolle der Medienform‹, die natürlich von der Warenfrage kaum isoliert zu betrachten ist, und haben wir es mit Innen-Außen-Projektionen, mit Reflexionen zu tun. Was man sich vorstellt, ist nicht selten der Geist. Nur wird es dann blutig (Hegels Kopf!), wenn das Kapital damit zusammenstößt:
Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt. (Das Kapital)
(Zwanzig Jahre danach erscheint mit »Dracula« eine brauchbare Fortsetzung.)
Geister in den Dingen, Apparaten, Maschinen und Netzwerken sind eine Übersetzung – alle Geister und Gespenster sind Über-Setzungen; auch: Projektionen – dessen, was sich als Eigengesetzlichkeit derselben, als ihre Materialität und Funktionsweise benennen lässt. Diese wird jedoch nicht vollständig begriffen, d.h. ihre Verweissysteme & -möglichkeiten können nicht restlos ausgedeutet und verstanden, eingeordnet werden. Es gibt mithin – durch die Black Boxes der Medien – einen Überhang an Nichtfassbarem und damit auch Nichtbenennbarem festzustellen, dem Geister und Gespenster zugeordnet werden.
Hierin liegt vielleicht eine Parallele zu Fragen der Psychoanalyse: erst die Aufklärung dessen, was Neurosen, ›Störungen‹, normativ gesehen Dysfunktionalitäten ausgelöst hat, kann den Gesundungsprozess einleiten. Auch Geister verschwinden erst aus den Apparaten und Schlosszimmern, Bergwerksschächten und Häusern, wenn der ›Grund‹ für ihre Anwesenheit dechiffriert und zugeordnet werden kann. Nicht vollständiges Verstehen ist die Voraussetzung – wer versteht schon vollständig, wie seine Kindheit verlief oder ein Smartphone funktioniert? – sondern die Gewissheit, zuordnen zu können. Geister sind Platzhalter (bzw. in den Apparaten und damit in die medialen Transmissionsriemen eingeflochten), ihr aufzulösendes Rätsel ist ein Über-Setzungsproblem. Kann dieses richtig zugewiesen oder gar gelöst werden, verschwinden sie. Vielleicht. (Vielleicht sind es auch nur »Worte, die in Phrasen, Geister, die in Gespenster verwandelt« wurden – cf. »Achtzehnter Brumaire«)
Eine Fortsetzung des Gedankengangs bietet sich mit dem ungeheuerlichsten Roman zumindest des 19. Jahrhunderts an, der präzise in seiner Mitte erscheint (wie lang oder kurz man dieses Jahrhundert zu ziehen für erforderlich ansieht): Melvilles Moby-Dick. Es gibt nicht wenig Geisterhaftes an Bord der Pequod und auch das Werk Melvilles nach dem Weißen Wal wird diesem nicht entraten. Es geht wesentlich um blutige Köpfe und weiße Gestalten, Schemen, Irrungen, um das verzweifelte Begehren nach Wahrschau und die Wahrnehmung der unaufhaltsame Anbahnung eines Untergangs.
Teil II: Filet № 69 (2)
Bei den Geistern – und die existieren insofern, als Menschen davon erzählen, lesen, sie ins Kino mitnehmen oder auf Fotografien festzuhalten meinen – gibt es Analogien zu Oberflächenphänomenen und deren spezifischer Zurichtung für Zwecke der Interpretation zu beobachten. Die auf unterschiedlichen Medienkanälen einschlägig popularisierte ›Literatur‹ sieht für Gespenster und Geister zumeist eine Art Dematerialisierung der Körper vor. (Dieses Ungefähre, die twilight-zone – zwischen materiell Fassbarem und Unfassbarem –, einordnen; wodurch wird es herbeigeführt und wie ist es um ein Naheverhältnis zu Filmbildern bestellt?) Die Oberfläche ist eine angenommene, einen feststofflichen Kern gibt es eher nicht; das Phänomen ist wesentlich Träger von Botschaften. Die »Geister« sind akustisch (Klopfgeräusche) oder visuell wahrnehmbar, bevorzugt zwischen weiß und semi-transparent. Es sind durchaus viele Geister im 18. und 19. Jahrhundert unterwegs, die als präsente Begleiter aufgerufen werden (denken ließe sich u.a. an Marx’ »Achtzehntem Brumaire«); so ähnlich wie es heute die Vermittlungsinstanzen der elektronischen Medien sind, sintemal die als »social« apostrophierten bis perhorreszierten und als Geistererscheinungsbedürfnisanlagen zu bezeichnenden.
Das alte Wissen, dass es Geister gibt, Beobachter/Begleiter, d.h. dass wir nicht allein sind – hier wird es nun Realität: wir sind ebenso wenig allein wie die Mannschaft der Pequod. Immer ist da jemand: ein weißer Wal, geheimnisvolle asiatische Schatten, Blutsauger, Feen und Elfen, ein Vermisster … Der Leviathan (schon vor Moby Dick) hat ein Gesetz eingeführt und es war selten so sehr in Kraft gesetzt wie heute: dass wir nie wieder allein sein werden und dies auch noch öffentlich wurde. Wir ›wussten‹ es schon seit langem, auf unterirdischen Kanälen wurde uns das Wissen um Geister vermittelt. Da ist *etwas*/*jemand*. Der Faltenwurf ist eine Spur der Bewegung und die Geister der elfenbeinweißen Pequod hält man nun ohne mehr über sie zu wissen im Apparat in den eigenen Händen. (Wenn der Akku sich leert, ändert sich nichts, im Gegenteil: es ist schlimmer insofern als man sie dann nicht mehr verfolgen und auch nicht mehr Teil des gespenstischen Schwarms sein kann.)
Die Neuen Medien führen mit sich den Posthornton der scheinbar alten. Jedoch stellt sich ab nun nicht mehr die Frage nach kalten und heißen Medien, nach dem Arbeiten in der medialen Parataxe vor 1914, da die Medienverbundmaschinen (die nichts weniger und auch nichts mehr als Geistererscheinungsbedürfnisanlagen sind) in Erscheinungs- und Wirkweise, in Algorithmen und Penetrationsfähigkeit von Aufnahmeschranken, im Wechselspiel der Kanäle zu vielfältig sind und insgesamt den Dorfladen übernommen habe.
In Gespenstern, Geisterdarstellungen, sind stets Formen des Wissens mit angelegt; mit ihrem ›Erscheinen‹ im Text, der Erzählung, dem Film oder auf der Fotografie, geht ein Verweis auf Etwas einher, das bis zu diesem Punkt abwesend war, es vielleicht fortgesetzt ist – nun aber konkreter adressiert werden kann. Eine Person, ein Verbrechen, eine Schuld, eine Peinlichkeit, durch Tod oder räumliche Distanz im Leben ebenso geliebt gewesene wie nunmehr unerreichbare Menschen, oder auch das zumeist wohlgehütete Wissen und Bedauern um die eine versäumte Chance … ob Rachegeister, Klopfgeister im Ja/Nein-Schema, dem Medienphänomen des 0/1 zwischen Leibniz und Turing, seufzend sich ausnehmend & zur Nacht seriell geschaltete Spektren, in Séancen aufgerufene paraphysische Kraftfelder, in der Literatur behauptete und im Film tatsächlich hingestellte Doppelgänger, Elfen auf Fotopapier und Ektoplasmen im Silbernitrat auf Platten: ein sich von Beginn an manifestierendes oder über die Rezeption der Erscheinung entbergendes Wissen ist stets mit im Spiel. Geister und Gespenster sind, anders gesagt, nie bedeutungslos. Und sie sind, dies ist ebenfalls evident, medien- und kommunikationstechnisch höchst versiert.
Geister/Gespenster können in ihrem Erscheinen und aufgrund des mitgeführten Wissensanspruchs gegen die Ordnung gerichtet sein, gegen staatliche Strukturen und Raumansprüche; quasi nicht hierarchisch unterworfen, nicht auf Kapitalgewinn aus, vielleicht unangenehme Wahrheiten und Aufbegehren mit sich führend. Es sind nicht unbedingt ›gute‹ Geister, aber: sie sind unabhängig – die andere Gruppe sind die per se bösen Geister, heimsuchend oder manchmal sogar im Bund mit den Mächtigen (Geheimbünde und Verschwörungstheorien) Repressalien androhend.
Erwähnungen unheimlicher Erscheinungen, von Untoten und Wiedergängern, unbekannten Schemen und sowohl mahnenden wie entbergenden Gespenstern, die Berichte von Unheimlichem und nicht in den bestehenden Indices verzeichneten Ansprüchen, mit einem Tiefenwissen ausgestattet, sind – bei allen damit je vollzogenen Wandlungen! – in der Geschichte aller Medienformen belegbar; je jüngeren Datums diese Distributionsmedien, Medienverbünde und Kommunikationskanäle sind, desto anschaulicher. Scheinbar.
Um dieses Durcheinander noch etwas zu verdichten, sei auch auf die gespenstischen Semantiken über sämtliche Zeitgrenzen hingewiesen. Die Schemen kommen ja nicht nur aus der Vergangenheit: Ökonomische und politische Gespenster haben die Angewohnheit, aus der Zukunft her zu kommen und von heute einzulösenden Handlungen zu berichten, um überhaupt schuldfrei in die Zukunft weiter gehen zu können. Erst wenn man sich ihren Oktroyierungen gefügt hat, geben sie, so das ›Versprechen‹ aus der kommenden, einer dann neuen Zeit, Ruhe. Gespenster aus der Vergangenheit sind hingegen zumeist solche, die mit Handlungen im Wortsinn gekoppelt sind, mit schuldhaftem Verhalten, Verbrechen und Versäumnissen. Ihre Umtriebigkeit und ihre notwendigerweise kommunikativen Handlungen werden durch Taten ausgelöst und ihre Zeichensysteme bedürfen gleichzeitig des Rückblicks. Die Trennlinie zwischen den Geistern und Gespenstern von Früher und denen von Morgen verläuft entlang des Grades der eigenen Handlung im Heute. Zukunftsgespenster haben ein anderes Regelsystem, dem man sich zu unterwerfen hat, als jene Vergangenheitsgespenster, die zunächst einmal die Feststellung ihrer präteritalen Verfasstheit einfordern. Davon ausgehend lässt sich eine interpretative Wiedergutmachung als präsentische Handlung ansetzen, die mitunter einfach darin bestehen kann, dass dem korrekt zuordnenden Erkennen ein Anerkennen an sich folgt.
In dem Maße, in dem die Klopfgeister im 19. Jhdt. verschwinden, während nach den optischen Telegraphen die Telegraphendrähte singen und glühen und Telegramme üblich werden, tauchen sie in den neuen Medien auf: Fotografie und Film. In der Literatur bleiben sie, allerdings zunehmend auch zuständig für das Unheimliche im Sinne einer Gesellschafts- (und Medien-) Diagnose.
Aus der Sicht der Medienhistorie zeigt sich, dass Geistererscheinungen bzw. -bekundungen jedweder Art mit dem jeweiligen Erscheinungsmedium nicht synchron gehen, eher vor- bzw. nachläufig sich zuordnen lassen.Aus der Sicht der Philologie – wenn man von deren Behauptungscharakter Fakt/Fiktion absieht – erweisen sich derartige Motive wesentlich als Bedeutungsträger respektive Marker, indem sie – wie die Spur respektive das Indiz im Kriminalroman – etwas Wichtiges anzeigen.
Berücksichtige Literatur (in Auswahl):
- Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Realphilosophie (1805/06) // Phänomenologie des Geistes (1807)
- Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766)
- Karl Marx (& Friedrich Engels): Die deutsche Ideologie (1845/46) // Manifest der Kommunistischen Partei (1848) // Das Kapital Bd. 1 (1867)
- Herman Melville: Moby-Dick; or The Whale (1851)
- Jean Paul: Titan (1800—1803)
- Friedrich Schiller: Der Geisterseher. Aus den Papieren der Grafen von O** (1787—1789)
- Arthur Schopenhauer: Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt (1851)
- Andriopoulos, Stefan: Gespenster. Kant, der Schauerroman und optische Medien. Übers. v. Uwe Hebekus. Göttingen: Wallstein 2018 (Konstanz University Press)
- Clarke, Roger: Naturgeschichte der Gespenster. Eine Beweisaufnahme. Übers. v. Hainer Kober. Berlin: Matthes & Seitz 2015 (Naturkunden)
- Doering-Manteuffel, Sabine: Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung. Von Gutenberg bis zum World Wide Web. München: Siedler 2008
- Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien. Hg. v. Moritz Baßler, Bettina Gruber, Martina Wagner-Egelhaaf. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005
- Gespenster des Wissens. Hg. v. Ute Holl, Claus Pias, Burkhardt Wolf. Zürich: Diaphanes 2017
- Ghostarbeiter. Über technische und okkulte Medien. Hg. v. Carolin Meister, Laurence A. Rickels. Berlin: Kadmos 2015
- Kaulbarsch, Vera: Untotenstädte. Gespenster des Ersten Weltkriegs in der literarischen Moderne. München: Fink 2018
- Knoefel, Thomas: Okkultes Brevier. Ein Versuch über das Medium Mensch. Berlin: Matthes & Seitz 2019
- »Lernen, mit den Gespenstern zu leben«. Das Gespenstische als Figur, Metapher und Wahrnehmungsdispositiv in Theorie und Ästhetik. Hg. v. Lorenz Aggermann, Ralph Fischer, Eva Holling, Philipp Schulte, Gerald Siegmund. Berlin: Neofelis 2015
- Stiegler, Bernd: Spuren. Elfen und andere Erscheinungen. Conan Doyle und die Photographie. Frankfurt/M.: Fischer 2014