Informalität und Interaktion

Call for Papers für das Themenheft 29 (01/2024) der Sozialen Systeme: »Die Rigidität des Unverbindlichen: Informalität und Interaktion in Organisationen« (Hg. von Maren Lehmann und Peter Plener).
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Die Unterscheidung von Informalität und Formalität gehört sowohl in soziologischer als auch in verwaltungswissenschaftlicher Hinsicht zum Standardrepertoire der Organisationstheorie. Die Aufmerksamkeiten wechseln zwar gelegentlich die Seiten, häufig verbunden mit einer Identifikation ›der‹ Organisation mit der jeweils in den Blick genommenen Seite. Aber gerade die Unterscheidung selbst wird in solchen Seitenwechseln bestätigt; sie lässt sich als theoretisch wie praktisch brauchbare Arbeitsdefinition des Organisationsbegriffs voraussetzen – als »funktionierende Simplifikation«, mit Luhmanns (1997, 237) Bestimmung der Technik. Semantisch dominiert dadurch die Seite der Formalität, und ihr gegenüber – was ein beachtlicher Teil vor allem der jüngeren Literatur schätzt [☞ 1] – wird die Seite der Informalität zwar durch die Unterscheidung gerahmt, aber auf bemerkenswerte Weise zugleich von ihr ausgenommen. Informalität scheint derart die Funktion zuzukommen, die Umwelt der Organisation im System der Organisation beobachtbar und zurechenbar zu machen; Luhmann (1995, 285) spricht von »anderen Erwartungen«, die »ihr eigentümliches Gepräge aus der bewussten, wenn auch stets vorläufigen, Ausklammerung formaler Verbindlichkeit [gewinnen]«: »Deren Negation ist ihr Ordnungsprinzip«. Das System der Organisation (etwa einer Verwaltung) selbst kann dadurch auf Formalität festgelegt werden, was wiederum den Konventionen des Systembegriffs entgegenkommt [☞ 2] und mit jenen der Bürokratiekritik zu einem Syndrom verschmolzen werden kann. Demgegenüber verspricht »faktisches Verhalten« (Luhmann 1995, 18 u.ö.) – das weithin als auf sinnliche Wahrnehmung unter füreinander Anwesenden Wert legende Interaktion (bzw. als »Interface« [☞ 3]) verstanden wird – eine weit größere Variabilität subversiver Stile, beiläufiger Taktiken und latenter Routinen, die Formalität wesentlich als »Abrundung« (Luhmann 1995, 285) in Anspruch nimmt. [☞ 4]

Das Themenheft der Sozialen Systeme lädt dazu ein, diesen skizzenhaften Überlegungen – die sich u.a. unseren aktuell laufenden Beobachtungen von Kanzleiordnungen und anderen ausverhandelten Organisations-Reglements verdanken – in theoretischen oder empirischen Fallstudien genauer nachzugehen. Gesucht sind Problematisierungen der Handhabung des Verhältnisses von Formalität und Informalität in bestimmten Organisationen (sozusagen Inside Jobs) und bestimmten Funktionssystemen.

So lässt sich etwa vermuten, dass die in Verwaltungsorganisationen oder im Unternehmensmanagement praktizierte ›Abrundung‹ des Informalen durch Formales z.B. in Schul- und Universitätsorganisationen invers gehandhabt wird, für die nicht die formalen, sondern die informalen Erwartungen und die entsprechenden Verhaltensstile zum ›abrundenden‹ Decorum werden. Je näher die Programme und das Selbstverständnis einer Organisation diesen Bildungsorganisationen stehen, desto wahrscheinlicher wird diese Variante – mutmaßlich fallen darunter die Organisationen auch weiterer vormals klassischer Professionen des »people-processing« (Goffman 1983, 8), etwa Kirchen oder Krankenhäuser, sowie die Organisationen politischer Parteien, und letztere umso eher, je näher diese einer Protestbewegung stehen oder sich ungeachtet ihrer Institutionalisierung fortgesetzt als ›Bewegung‹ verstehen und die Formalstruktur entsprechend negieren oder als nachrangig darstellen. Systematische »Unterwachung« etwa (Luhmann 2016), so ließe sich denken, soll das Informelle, Kollegiale, stärken; verordnete Formularien wie »Amtsinstructionen« schließen wiederum Informalität – da es sie nicht geben darf – bereits durch Nichtnennung ostentativ aus (und umso bedeutsamer wird diese). Organisationen entwickeln je nach Leitbild und Erfahrungsgrad der Mitarbeitenden einen ›Stil‹ für die Außendarstellung, eine Gemengelage von Formellem und Informellem, in deren Bezugnahmen Interaktionen – Interventionen und Reaktionen – je spezifische, teils sehr volatile Bedingungsgefüge vorfinden.

So strikt wie es nationalstaatlichen Behörden (auf allen Ebenen verwalteter Gewaltenteilung) nicht gestattet ist, sich zu Informalität anders als über deren Ausschluss (verbatim, negierend) zu verhalten, ist es bemerkenswert, dass diese Abwehr wesentlich über den ›Apparat‹, Vor-Schriften und hierarchische Entscheidungsabläufe, Kanzleiordnungen und Geschäftseinteilungen, organisiert werden soll. (Bürokratiekritik aller Art, durchaus gegenüber einer Verwaltung das Lob auf die formal nicht so restriktiv erscheinende Wirtschaft singend, meint stets auch eine Verlustanzeige hinsichtlich informeller Interventionsmöglichkeiten.) Der Akt bzw. das Geschäftsstück wird dabei einem als nicht anders denn durch die Sachlage bestimmt vorgestellten Entscheidungsprozess überantwortet, einem von nicht protokollierten Interventionen sozusagen abgekoppelten Bearbeitungskreislauf und damit anderen Interaktionsmustern. (Ob diese Trennschärfe tatsächlich nicht nur auf dem Papier, sondern auch zwischen den Zeilen stehen bleibt, wäre zu fragen.)

Wenn sich Informalität und Interaktion unter den Bedingungen des Formalen in den Griff kriegen (auf den begrifflichen Punkt bringen) ließen, könnte sich auch über betriebsinterne Verschwörungen, ›Palastrevolutionen‹, Bossing und Mobbing, ›Betriebsgeheimnisse‹ und die Ausverhandlung von Arbeitsbedingungen ohne entsprechende Protokollierung (d.h. ohne Einsatz von bekundeten Emotionen) sprechen lassen. Möglicherweise machen ja diese das ›stahlharte Gehäuse‹ und seine inneren Abläufe nicht unwesentlich mit aus. Die Belletristik ist jedenfalls voll davon, derartige Zusammenhänge und Bedingungsgefüge populären Kulturgeschehens bedienen zuverlässig die Berichterstattungen, beschäftigen Arbeitsgerichte und die Nutzer:innen Sozialer Medien. 

Wir hoffen auf Beiträge aus soziologischen und literaturwissenschaftlichen, aber auch historischen und juristischen Perspektiven. Zusagen und Abstracts mögen bis Ende Mai 2023, ausgearbeitete Texte spätestens Ende November 2023 vorliegen. Die Beiträge sollten 40-60.000 Zeichen inkl. Leerzeichen (eine Heftseite entspricht 2.900 Zeichen) umfassen.

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Hinweise zu Formatierung etc.


☞ 1: Vgl. als Überblick zuletzt Tacke 2015.Vgl. als Überblick zuletzt Tacke 2015.
☞ 2: Den Ton setzt spätestens Habermas 1971.
☞ 3: Vgl. die Matrix von »disciplines« bei White 1992, 38–48 u.ö.
☞ 4: Vgl. v.a. Meyer/Rowan 1977 und Weick 1976 sowie bereits Stinchcombe 1965; außerdem grundlegend ders. 2001.


Literaturhinweise:

  • Goffman, Erving (1983): The Interaction Order. American Sociological Association, 1982 Presidential Address. American Sociological Review 48 (1), 1-17.
  • Habermas, Jürgen (1971): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, in: ders./Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 142–290.
  • Luhmann, Niklas (1995 [1964]): Funktionen und Folgen formaler Organisation. 4. Aufl., mit einem Epilog 1994. Berlin: Duncker & Humblot.
  • Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Luhmann, Niklas (2016): Unterwachung oder Die Kunst, Vorgesetzte zu lenken, in: ders., Der neue Chef, hg. von Jürgen Kaube. Berlin: Suhrkamp, 90–106.
  • Meyer, John W./Rowan, Brian (1977): Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony. The American Journal of Sociology 83 (2), 340-363.
  • Stinchcombe, Arthur L. (1965): Social Structure and Organizations, in: James G. March (Hg.), Handbook of Organizations. Chicago: Rand McNally, 142–193.
  • Stinchcombe, Arthur L. (2001): When Formality Works. Authority and Abstraction in Law and Organizations. Chicago/London: The University of Chicago Press.
  • Tacke, Veronika (2015): Formalität und Informalität. Zu einer klassischen Unterscheidung der Organisationssoziologie, in: Victoria von Groddeck/Silvia M. Wilz (Hg.), Formalität und Informalität in Organisationen. Wiesbaden: Springer, 38–92.
  • Weick, Karl E. (1976): Educational Organziations as Loosely Coupled Systems. Administrative Science Quarterly 21 (1), 1–19.
  • White, Harrison C. (1992): Identity and Control. A Structural Theory of Social Action. Princeton, N.J.: Princeton University Press.