Man würde Jahrtausende fallen, fiele man vom Ort eines der Großen Teleskope in Richtung Zentrum der Milchstraße. Man wäre dann immer noch nicht bis an den Rand der Staubwolken gelangt, welche die Sternenströme, die das Zentrum der Milchstraße rasant umkreisen, für unser Auge verdecken. […] Noch während der Perestroika war ein russischer Kosmonaut in den freien Raum abgestürzt. Er hatte Reparaturarbeiten an einer der robusten Raumkapseln russischer Bauart, die unseren Planeten umkreisen, durchgeführt. Beim Sturz vom Arbeitsgerüst waren die Halteseile, die den Kosmonauten mit dem Raumkörper wie eine Nabelschnur verbanden, gerissen. Und so war er blind in Richtung der nächstbesten (kombinierten und noch schwachen) Anziehungskraft gefallen. Den verheißungsvollen Orion und die beiden Bären mag er […] noch eine Weile gesehen haben. Verhungert, verdurstet. Kein Funk, kein Rettungsfahrzeug, das ihn hätte leiten oder heimbringen können. Dieses »Wrack eines Arbeiters« gelangte, bald von einer Umrundung der Sonne beschleunigt, zu dem BESONDEREN GRABEN, der unser Sonnensystem von der benachbarten Drei-Sterne-Konstellation trennt. Zuletzt […] wird sich der Verunglückte mit samt seiner »astronautischen Rüstung« in Partikel aufgelöst haben. Das bewirkt die kosmische Strahlung. Die Elemente, der Staub: ehemals ein Kosmonaut. Der Verunglückte wird nunmehr von einem neuen Attraktor, dem Centaurus-System, beschleunigt. Im mathematischen Sinne, aber nicht für unsere an festen Boden gewöhnte Orientierung, ginge es jetzt »aufwärts«. Bis der »nach oben fallende Rest«, nicht einmal von der Masse eines Fingerabdrucks, einen der drei Nachbarsterne (zu dritt bilden sie das Centaurus-System) umrundet, werden weitere Jahrtausende vergehen. Die schwach leuchtende Kleinsonne dort, ein roter Zwerg, steht von allen Sternen Rußland am nächsten.
Alexander Kluge: Sturz in den Abgrund der Sterne. In: Ders.: Russland-Kontainer. Berlin: Suhrkamp 2020, S. 20f.