Nestbeschmutzer

Soll man dem nationalen Kretinismus ernsthaft auch noch über Prozesse der geistigen Natur Rechenschaft ablegen? Wenn er es hören will, so empfange er das Bekenntnis, daß ich kein Vaterland habe außer meinem Schreibtisch, den ich aus irgendwelchen Gründen privater Art nicht in eine Gegend übersiedeln kann, deren Lebensform meinen Nerven tatsächlich genehmer ist und die mir vor allem den wünschenswertesten aller Vorteile bietet: daß ich da immerhin sicherer wäre, wenigstens die Sprache, in der ich denke und der ich darum als einer Herrin diene, nicht prostituiert zu sehen, nicht stündlich in Lettern und Lauten geschändet zu empfangen. Nun, man möge zur Kenntnis nehmen, daß ich wirklich das bin, was sie mit der dümmsten, niedrigsten, ungesehensten Metapher zu bezeichnen lieben: Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt. Ich frage den Menschen, der die Tierwelt durch den Vergleich mit sich beschimpft, der es wagt, seine schäbige Denkart in die Sphäre freier Gottesgeschöpfe einzuschmuggeln, und der seine Eitelkeit im wahrsten Sinne des Wortes mit fremden Federn schmückt — ich frage ihn, ob er denn wirklich glaubt, daß ein Vogel es vorziehen wird, das fremde Nest zu beschmutzen, weil der Mensch ihm das zutraut und weil er seinerseits solche Gemeinheit für praktisch hält. Der Mensch, der die Redensart ersonnen hat, in der seine ganze Selbstsucht mit so naiver Schamlosigkeit zum Ausdruck kommt, ist da offenbar in eine falsche Redensart hineingetreten, in die vom Kuckuck, der seine Eier in fremde Nester legt, und hat diesen Akt des Egoismus in der ihm nächsten Richtung des Schmutzes ausgebaut und vertieft. Doch die Seichtigkeit des Anwurfs, der dieser Redensart zugrundeliegt, ist gar nicht auszuschöpfen. Um Schmutz handelt es sich allerdings. Aber weil der Vogel, der sein Nest schmutzig findet, der Vogel, den sein eigenes Nest beschmutzt, es reinigen möchte, weil er Lust und Mut hat zu dieser Arbeit, so sagen die anderen Vögel, die sich im Schmutze wohl fühlen, er »beschmutze« das Nest. Der Zusammenstoß zwischen einer Wirklichkeit und einer Metapher ist immer eine Katastrophe: der Zustand der Schmutzigkeit und dessen Darstellung, die ein Beschmutzen genannt wird von jenen, die den Schmutz zwar haben, aber verbergen wollen. Nun, ich habe mein ganzes Leben hindurch nichts anderes als dieses Beschmutzen getrieben und mir dafür den Haß der Schmutzigen bis zu einem Grade zugezogen, der in der Geschichte des Geisteslebens ohne Beispiel sein dürfte.

Karl Kraus: Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt. Gesprochen in Paris am 9. Dezember 1927. In: Die Fackel, Nr. 781—786 (Anfang Juni 1928; XXX. Jahr), S. 1–9, hier: S. 4f.

Zu verweisen ist an dieser Stelle auf die nach Anmeldung kostenfrei zugängliche online-Ausgabe »Der Fackel« von Karl Kraus.