Ein ›Protokoll‹ ist nicht einfach das, was beobachtet, mitgeschrieben (etwa bei Geschäftsvorgängen) und hinterlegt wurde, sondern muss als ›wahr‹ erkannt und (einschließlich seiner medialen Umstände) bestätigt werden. Für das Protokoll von Amts wegen gilt: Protokolle müssen protokolliert werden, ehe sie in einem Akt Aufnahme finden.
Protokoll und Protokollierung als Kulturtechniken eines Scheidens und Einziehens von Abständen greifen, sobald die in den Diensten einer Komplexitätsreduktion dokumentierte Verfertigung der Welt ostentativ bestätigt, wie es gewesen (und Kontingenz zur Konsequenz erklärt worden) sein wird. Das Vertrauen gilt der Vermittlung und nicht dem Unvermittelten (das aus der Sicht des Amtes immer schon vergangen gewesen sein wird). Insofern als administrative Protokolle stets vermittelte (u. a. approbierte) Montagen darstellen müssen, sind es Schriften zweiter Ordnung und Teil der amtlichen Beglaubigungsstrategie. Vergleichbar mit der Beobachtung zweiter Ordnung geht es um einen Distanzgewinn, der die Autorität der Zuschreibung als ›richtige Wiedergabe‹ stärkt. Bei Niklas Luhmann kann man zur Beobachtung zweiter Ordnung lesen: »Die in der Beobachtung operativ verwendete, aber nicht beobachtbare Unterscheidung ist der blinde Fleck des Beobachters« (Luhmann 1990, 231). Setzt man anstelle der Beobachtung deren aktive Umsetzung (deren je spezifische Ausführung und mediale Form die Angelegenheit gewiss noch komplexer und recht eigentlich zusätzliche Differenzierungen erforderlich macht), also die Beobachtung und deren Niederschrift, das ›Protokoll‹, hat man nicht nur das Problem der Protokollschrift und ihrer ›Richtigkeit‹ auf dem grünen Tisch, sondern auch die Lösung: ein Protokoll ist dann eines, wenn es protokolliert, per Entscheidung für richtig befunden und in der Folge als »Protokoll« operationalisiert wurde. Wo vormals der »blinde Fleck des Beobachters« war, steht nun die Unterschrift des Vorgesetzten.
Davor ist es eine Aufzeichnung, einfach nur ›Text‹. Erst die Protokollierung des Protokollierten macht das ›Protokoll‹ zum »Protokoll«, das mithin stets als Beweisschrift – Beobachtungszeugnis und Übertragungsschrift – zweiter Ordnung in die amtliche Welt gekommen sein wird. Schriftlich vorliegende Begründungszusammenhänge, Sachverhaltsdarstellungen mit notwendigem Authentizitätsanspruch, Rechtsgutachten, Stellungnahmen und strukturierte Genehmigungsverfahren gehören zu den Kulturtechniken, die begründete Verwaltungsentscheidungen begleiten – und auf ein als korrekt geführt beglaubigtes Protokoll zu verweisen bedeutet hierbei nicht bloß, dass ein Prozessgeschehen von Bedeutung in einer je gegenständlich gemachten Sache stattgehabt hat, sondern auch, dass eine Berufungsgrundlage geschaffen wurde und Entscheidungen gefallen sind.
Ein genehmigtes Protokoll ohne erfolgende Einsprüche, Gegendarstellungen und Zusätze – wahrscheinlich gilt: auch mit diesen, sofern ein Zusammenhang her-, genauer noch: festgestellt werden kann – besagt nichts weniger als: so ist es gelaufen. (Im Futur II der Verwaltungsformate und amtlich regulierten Datenströme: So wird es gewesen sein.) Die Autorität einer Protokollführung stellt sich weniger über die Anwendung eines stilus relativusals vielmehr über die Bestätigung durch Beteiligte, die Genehmigung der Aufnahme in einen Verfahrenszusammenhang und eine wie auch immer als ordnungsgemäß gerechtfertigte ›Verfügung: ad acta‹ ein. Derart basal zeichnet sich eine mitschreibende, protokollierende Verwaltungsarbeit, wesentlich als Verarbeitungssystem einer Form von Ordnung zugeeigneter Kulturtechniken verstanden, durch Selbstbezüglichkeit aus.
Kulturtechniken sind Techniken, mit deren Hilfe symbolische Arbeiten verrichtet werden. […] Diese symbolische Arbeit […] ordnet gleichsam die Welt und ermöglicht es den Kulturen, Begriffe von sich selbst zu entwickeln. Symbolische Arbeiten bedürfen eigener Techniken: der Kulturtechniken des Sprechens und Verstehens, Bildens und Darstellens, Rechnens und Messens, Schreibens und Lesens, Singens und Musizierens. Und […] Kulturtechniken unterscheiden sich von allen anderen Techniken durch ihren potentiellen Selbstbezug, durch eine Pragmatik der Rekursion.
Macho 2007, 181
Folgt man diesen Differenzierungen, ist nicht einfach alles »Kulturtechnik« (und ohnehin nicht alles ›Verwaltungsarbeit‹), sondern ist zunächst danach zu fragen, inwieweit jeweils symbolische Arbeit (symbolische Operationen und nicht allein ›Technik‹) vorliegt, insofern als nur diese sich selbst zu enthalten vermag. Das ist wiederum eine der Garantieleistungen, die Protokollen abverlangt werden: die richtig abbildende, darin anzuerkennende ›Wahrschrift‹ einer damit konstituierten Wahrheit zu sein. Daher sind es zwangsläufig Beobachtungsschriften zweiter Ordnung, die – sofern radikal komplexitätsreduzierend als ›korrekt‹ approbiert – Recht geschrieben haben werden.
Für sämtliche Fußnoten, Nachweise, Literaturangaben etc.:
Plener, Peter: Vor- & Mit-Schriften zweiter Ordnung. Das administrative Protokoll und sein Apparat (2023)