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Wolfgang Körner. Versetzung. Roman. Recklinghausen: Paulus 1966, S. 5f.:
Rolf Hagen ging die Treppen zum Keller hinunter, tastete nach einem Lichtschalter. Grelles Neonlicht zuckte auf. Rolf sah einen langen Gang, die Wände bis zur Decke mit Regalen bedeckt. Karteitröge mit unzähligen Karteikarten. Er ging die Regalreihen entlang. Jahrgang nach Jahrgang. Buchstaben nach Buchstaben.
Hier liegt die Arbeit von Jahrzehnten.
Er dachte an Anträge und Bewilligungen, an Eingaben und Ablehnungen, die hier im Keller dem Zerreißwolf und dem Brennofen entgegendämmerten.
Rolf fand keine Akten aus der Zeit vor 1957.
Merkwürdig, überlegte er, irgendwo müssen doch auch die anderen Akten stehen. Dann aber fiel ihm ein, daß Fürsorgeakten nur kurze Zeit aufbewahrt wurden.
Du hast in der Verwaltungsschule ganz schön geschlafen. Aber beim Bauamt werden die Akten unbegrenzte Zeit aufbewahrt.
Er schauderte.
Unbegrenzte Zeit. Jahre, Jahrzehnte. Häuser können abbrennen, zerfallen, vermodern. Ihre Eigentümer können sterben, auswandern, im Krieg umkommen. Die Akten aber bleiben. Sie sind unvergänglich, unsterblich, absolut. Wie war es denn nach dem letzten Krieg? Kaum krochen die Menschen aus den Kellern, gingen die Beamten zu den Plätzen, wo sie ihre Akten untergebracht hatten und sahen nach, was übrig geblieben war. Und dann wurde registriert und gezählt und verglichen und da wurden Listen angelegt und wurde nachgeforscht und als feststand, welche Akten vernichtet waren, wurden Notakten angelegt, wurden längst vergessen geglaubte Nebenakten herangezogen, wurden mühselig aus Karteikarten Fakten ermittelt, wurden neue Akten angelegt, die den gleichen Inhalt hatten wie die vernichteten Vorgänge, jedenfalls soweit das möglich war.
Der Mensch ist sterblich, Akten aber sind unsterblich, dachte Rolf.
Plötzlich glaubte er die Menschen zu sehen, mit denen sich die Vorgänge beschäftigten, sah junge und alte Gesichter, greise Gesichter, die Gesichter der Frauen, die im Krieg Fürsorgeunterstützung bezogen hatten, als ihre Männer an der Front lagen.
Rolf glaubte, daß Hände aus den Aktenbergen wuchsen, ihn zu sich ziehen, ihn in die Akten aufnehmen wollten, um ihn zu einem Blatt Papier zu machen: grau, etwas vergilbt, mit, längst verblaßten Sütterlinschriftzügen.
Rolf rannte den Gang entlang, stolperte, fing sich wieder, erreichte die unterste Stufe, sprang die Treppen hinauf, zwei Stufen mit einem großen Schritt. Als er Tageslicht sah, ging er langsamer, schaltete das Licht aus, sah, daß der Pförtner schon gegangen war, dem Nachtwächter Platz gemacht hatte.
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