In der institutionalisierten Ordnung von Buch und (Bibliothek) ergeben der Druck und die Eingriffe der Lesenden je eigene Amalgame der Zeichen und Bedeutungen: »Du kannst die Sätze, durchstrichen, lesen. Nicht so die Gedankenstriche.« [1] Bereits der 17-jährige Arthur Schnitzler notierte im Tagebuch: »Ich möchte alle Philosophie zum Fenster hinausschmeißen, wenn dafür – Ein Gedankenstrich ist nie zu verachten.– ’s war übrigens mehr ein Gefühlsstrich. […].« (08.04.1880) Wie wesentlich eine solche Spur ist, zeigt sich in Freuds Beschreibung des »Moses des Michelangelo«, wenn dessen »Hand in sehr eigentümlicher, gezwungener, Erklärung heischender Weise zwischen den Tafeln und dem – Bart des zürnenden Helden vermittelt.« [2] Nach Marianne Schuller ist hierbei eine Leerstelle markiert: »Nicht ein Gewesenes blitzt auf, sondern der Hinweis, daß es vergangen ist. Oder: daß es fehlt.« [3] Der Gedankenstrich ist – pars pro toto – nur eine von vielen möglichen Spuren, die man im Text manchmal nur in Umkehrung der Spuren zu lesen hat, als wäre der Autor rückwärtsgegangen (Das lernt man im Western, bei Sherlock und auch bei Freud): Auf derselben Seite wie ebenjener Gedankenstrich, im Absatz davor, kommt Freud übrigens auf Ivan Lermolieff aka Giovanni Morelli zu sprechen und findet in seiner Lektüre die Psychoanalyse begründet (in einer Bibliothek des Warburgschen Systems stehen die Detektivromane am selben Regal).
[1] Roland Reuß: Lesen, was gestrichen wurde. Für eine historisch-kritische Kafka-Ausgabe. In: Frank Kafka. Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Einleitung. Hg. v. Roland Reuß unter Mitarbeit v. Peter Staengle, Michael Leiner u. KD Wolff. Frankfurt/M. 1995, S. 9–21, hier S. 21.
[2] Sigmund Freud: Der Moses des Michelangelo. In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. 10: Werke aus den Jahren 1913–1917. Frankfurt/M. 1999, S. 171–201, hier S. 185.
[3] Marianne Schuller: Bilder – Schrift – Gedächtnis. Freud, Warburg, Benjamin. In: Raum und Verfahren. Interventionen v. Aleida Assmann u.a. Hg. v. Jörg Huber u. Alois Martin Müller. Basel, Frankfurt/M. 1993, S. 105–125, hier S. 109.