Absteigequartier

Ruth von Mayenburg: Hotel Lux. Das Absteigequartier der Weltrevolution.
(Erstausgabe München: Bertelsmann 1978; hier zitiert nach München: Piper 1991)

So habe ich nach langen Gewissensskrupeln verworfen, was anfangs mein dramaturgischer Plan war: »Menschen im Hotel« à la Vicky Baum. Eine Art Roman mit wahren, halbwahren und erfundenen Personen, die zueinander in Beziehung stehen, Konflikte austragen und daran zugrunde gehen: eine Lux-Story. Auf keinen Fall das »Ich« dazwischengeschoben, nur irgendeine Frau, die mir ähnlich gewesen wäre. Versteckt Autobiographisches mit einem möglichen Lebensende – Sturz aus dem Fenster in die Tiefe; Tod durch Erhängen oder in einem der Lager des Archipel Gulag.
Aber es hätte einen Mangel an Fairneß bedeutet, an Solidarität mit den Luxianern, die unentwegt gegen etwas oder für etwas kämpften, Verfolgte, Umgekommene im Land des Sozialismus, in den Ländern des Faschismus. Nein, auch dem einzigartigen Haus selbst wäre nicht historische Gerechtigkeit widerfahren, wenn ich es zum Schauplatz einer »Story« gemacht hätte.

S. 10f.

Was hätte ich mir mit solch einer teils lustigen, teils tragischen Hotelgeschichte alles erspart! Viel Zeit – und ich bin nicht mehr jung genug, um das Verschwinden der Stunden, Tage, Monate und Jahre unbekümmert hinzunehmen. Eine heitere Person, die gerne lacht und ihre größten Freuden aus der Kommunikation mit Menschen schöpft, sollte keine gespenstische Geschichte schreiben wollen, einfach aus dem Grunde: »Wenn du sie nicht in letzter Minute aufzeichnest, ist sie für immer verloren.«

S. 11

Die einzigen Insassen, die sich kontinuierlich durch die ganze Geschichte des Hauses verfolgen lassen, sind die Ratten.

S. 13

Das Haus, ein großes, stattliches Gebäude, steht in Moskau an der Gorkistraße und trägt die Nummer 10. Es erstreckt sich, sechs Stock hoch, vierzig Schritte lang an der Hauptfront und dreißig Schritte lang um die Ecke in einer Seitengasse hinein, die Nemiroviča-Dančenko Ulica. Auf dem Moskauer Stadtplan ist es als Hotel eingezeichnet.
Wer vom Roten Platz rechtsseitig zum Puschkinplatz hinaufschlendert kann es kaum übersehen. Zwei schwere, graue Säulen stehen vor dem überdachten Eingangsportal, zu dem drei flache Stufen führen. An der Ecke befindet sich noch immer das Restaurant, und im Gebäude, gleich neben dem Eingang, sieht noch immer der große Bäcker-Laden, bis spät abends geöffnet, die Brotkäufer an.
Dem Haus wurde dreimal ein anderer Name gegeben: Jetzt trägt es den ganz banalen dritten Namen »Hotel Zentral« und ist ein solides, nicht allzu modernes Intourist-Hotel, wo Reisebusse halten, Gäste und Koffer ein- und ausgeladen werden. Seitdem die Gorkistraße mit Lindenbäumen bepflanzt wurde, fällt dünner Schatten auf den Gehsteig.

S. 19f.

Schräg gegenüber vom Gouverneurspalast gelegen, der allmorgendlich mit Filippows exzellenten Backwaren beliefert wurde, also an einem Platz von kaufmännischer und strategischer Bedeutung, war das Haus schon unter seinem ersten Namen für die Historie prädestiniert:
Im November 1917, als Moskau die »zehn Tage, die die Welt erschütterten«, erlebte, gab es hier zwischen verschanzten Gegnern und bewaffneten Anhängern der Revolution die ersten großen Schießereien. Die Nachricht: »Bei Filippowski wird geschossen« verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt und blieb so unauslöschlich im Gedächtnis der Moskauer haften, daß ein damals vierjähriges Mädchen noch heute erklärt: »Dort fing die Revolution an! Was die ›Aurora‹ für Petersburg, das war ›Filippowski‹ für Moskau!«

S. 20f.

Wie das Haus, nachdem es von der jungen Sowjetmacht dem reichen Bäcker weggenommen und für die Unterbringung ganz anderer als vornehmer Hotelgäste eingerichtet worden Park zu seinem zweiten Namen kam, ist nicht mehr genau zu eruieren. Sehr frühe Bewohner behaupten zwar, es habe »immer schon so geheißen«. Aber der bekannt verläßliche Baedeker, Jahrgang 1904, weiß nichts davon. Unter diesem zweiten, im ureigentlichen Sinn des Wortes Licht und Luxus verheißenden Namen ist es legendär geworden: »Hotel Lux«. In Biographien und Memoirenwerken, in fast jedem historischen Rückblick auf die denkwürdigen Jahre, da dieses Haus an der Twerskaja Nr. 36 – später umbenannt in Ulica Gorkowo mit der Nr. 10 – »das Lux« hieß, wird es zumindest am Rande erwähnt.

S. 21

Ein Vierteljahrhundert lang war das Lux das Gemeinschaftshaus der Komintern, war es das Absteig[e]quartier des Hauptquartiers der Weltrevolution.
Der Quartiergeber, die Komintern, gab ihm seine Besonderheit: das Lux war ein konspiratives Hotel, konspirativ nach innen und nach außen – ein Geheimnisträger. Keine Gästeliste, Keine Totenliste gibt darüber Auskunft, wer jemals darin gewohnt hat.

S. 21

Es steht einsam da in der Geschichte historischer Stätten, einsam nicht nur, weil es ein derart vielnationales, von Politik besessenes und unterjochtes Hotel nie wieder geben wird – es starb und wurde begraben mit dir III. Internationale, mit der »alten Komintern«; einsam auch und vor allem, weil es dort, wo es steht, in Moskau, der totalen Vergessenheit anheimgegeben, sein Name aus gelöscht wurde.

S. 22

»Weckt nicht die Gespenster der Vergangenheit!« – Das gilt in Moskau auch für das Lux.

S. 23

Daß es kein Reich der Freiheit war, nicht einmal ein Hotel wie sonst ein Hotel, in dem ja auch eine gewisse Hausordnung herrscht, zu dieser simplen, von keiner philosophischen Höhenluft gestreiften Einsicht mußte wohl ein jeder kommen, der das Lux betrat – in der Frühzeit der Geschichte des Hauses mag es etwas anders gewesen sein.

S. 24

Im Idiom des Hauses nahm das Wort »Propusk« den ranghöchsten und rangältesten Platz ein. Den Eintretenden schlug es als erstes ans Trommelfell, und ein des Russischen unkundiger Ausländer merkte ich sofort seine Lautfolge und seine Bedeutung. Das Wort bedurfte nicht der Übersetzung und war leicht aussprechbar. Wer je das Lux besucht oder darin gewohnt hat, behielt es für immer im Gedächtnis.
Funktionäre und Angestellte der Komintern besaßen einen auch für das Lux gültigen Propusk, der leuchtend rot kartoniert, zusammenklappbar und mit einem Foto versehen war; die sonstigen Insassen oder im Hause Beschäftigten besaßen einen in Grau. Besaß man einen von beiden, war man als legitime Hausgenosse ausgewiesen, und der Dejurni warf nicht einmal einen wachsam prüfenden Blick darauf. Der Gedanke, jemand könnte illegal den Propusk eines anderen benutzen, um in das abgesicherte Haus einzudringen, kam anscheinend weder ihm noch jenen, die den Propusk ausstellten.

S. 25f.

Den Eindruck, ein besonderes Haus zu betreten, konnte sich demnach niemand entziehen, sobald ihr die leere Halle durchschritten hatte und auf den Zerberus stieß, der ihn auf jeden Fall zunächst einmal aufhielt. Ob mit oder ohne Propusk, er musste stehenbleiben, in seinen Taschen nach der Kominternlegitimation oder nach dem Lux-Propusk suchen, falls er eins von beiden besaß, und sie vorweisen.

S. 27

Der Entzug des rotkartonierten oder grauen Kärtchens bedeutete augenblicks: »Jetzt bist du eine Unperson geworden! Alle Türen fallen hinter dir zu – keine geht mir vor dir auf!«
Dies widerfuhr, besonders eilig in den Verfolgungsjahren, jenen Lux-Bewohnern, die politisch in Ungnade gefallen waren, die daraufhin ihre Arbeit in der Komintern (oder in einer ihr nahestehenden Institution) verloren und schließlich auch ihr Zimmer räumen mußten. Bestenfalls erhielten sie ein Ersatzquartiere zugewiesen. Schlimmstenfalls standen sie auf der Straße. Jedenfalls wurde Ihnen der Propusk entzogen. (Da es zu den Besonderheiten des Hauses gehörte, daß aus den verschiedensten Gründen Menschen über Nacht verschwanden und nicht wiederauftauchten, gingen solche administrativen Akte unbemerkt über die verdunkelte Lux-Bühne.)

S. 30

Nach dem Großen Brockhaus, 15. Auflage 1933, ist die Ratte ein »Seelentier«. Und der Volksglaube besage, dass »Ratten den Schiffen Glück, den Häusern Unglück« brächten.

S. 35

☞ cf. Amtshaus / Partei-Hauptquartier / Haus der Regierung