Wolkenkuckucksheim noir

Als Harry Lime/Orson Welles in Carol Reeds The Third Man 1949 – angeblich improvisiert – seinen berühmten Kuckucks-Monolog hält,

In Italy for thirty years under the Borgias they had warfare, terror, murder, bloodshed – they produced Michelangelo, Leonardo da Vinci and the Renaissance. In Switzerland they had brotherly love, five hundred years of democracy and peace and what did that produce…? The cuckoo clock.

hat er soeben mit Holly Martins/Joseph Cotten eine Fahrt mit dem notdürftig geflickten Riesenrad hinter sich gebracht. (YouTube) Sie blickten auf die Menschen im Prater hinab, die Lime/Welles von so weit oben wie Ameisen erscheinen würden, deren Leben insbesondere dann unbedeutend wäre, wenn man nur genug Abstand zu gewinnen wüsste; sintemal wenn man £ 20.000,– für jeden Punkt kassierte, der sich fortan nicht mehr bewegte (als hätte er gepanschtes Penicillin gespritzt bekommen). Die ununterscheidbaren, anonymen Punkte einer Menschenmenge, betrachtet aus der Perspektive eines Wolkenkuckucksheims. Zu suchen, zu identifizieren, abzukassieren. (Die »Schweiz als eine Art Wolkenkuckucksheim« [Wolfgang Knorr, Es grüsst der Kuckuck, in: Die Weltwoche 32/2013]?) Wie lassen sich Zielpersonen, grundsätzlich gefragt, ausmachen? – zumal die »Grenze zwischen Menschen und Phantomen, Gebäuden und Wolken durchlässig geworden« (s.u.) sein soll.

Noch ein Kuckuck gefällig? Ernst Stavro Blofeld aka Franz Oberhauser/Christoph Waltz sagt nicht umsonst 2015 zur Begrüßung von James Bond/Daniel Craig bei der »Spectre«-Versammlung »Cuckoo« – er hat ihn längst gefunden (YouTube), denn er ist der Herr über alle Suchmaschinen und Geheimdienste. (Späterhin wird er ihm erklären, was man mit Kuckuckseiern machen soll.)

›Suchmaschinen‹ aller Zeiten (so auch amtliche Register) haben vier grundlegende Gemeinsamkeiten: die operativen Abfragen und Suchen müssen objektivierbar, in einem konkreten Adressraum absetzbar, programmierbar – dabei ergebnisoffen – sein und sie können einer Nähe zu Spiel und Simulation nicht entraten. (Cf. dazu David Gugerli: Suchmaschinen. Die Welt als Datenbank. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, S. 15f.)

Angesichts der Fülle von Suchmaschinen, die seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit vielen verschiedenen Technologien aufgebaut und auf unzählige Objekte angesetzt worden sind, stellt sich die Frage nach einer produktiven Auswahl von Beispielen, die eine möglichst dichte Konstellation von Differenzen und Analogien ergeben. Gleichzeitig sollten sie in hinreichender historischer Distanz zur gegenwärtig dominanten Suchmaschine stehen und somit einen deutlichen Verfremdungseffekt erzeugen. Die Wahl fiel auf vier Beispiele, von denen sich zwei im massenmedialen Raum des Fernsehens entfalteten, während sich die beiden andern auf den frühen Einsatz von Rechnern in der öffentlichen Verwaltung und in Unternehmen stützten. Konkret geht es im Folgenden um die von Robert Lembke moderierte Unterhaltungsshow »Was bin ich?«, um die Sendung »Aktenzeichen XY«, in der Eduard Zimmermann per Fernsehen nach Verbrechern fahndete, um das Konzept einer »Kybernetik der Polizei«, das Horst Herold als Präsident des Bundeskriminalamtes umsetzte, sowie um die vom IBM-Datenbanktheoretiker Edgar F. Codd ausgehende Entwicklung der relationalen Datenbank. Jede der vier Suchmaschinen löste ein anderes Problem. Während Lembke auf die Feststellung von Normalität ausgerichtet war, suchte Zimmermann die Devianz, Herold die Muster und Codd die allgemeingültige Such- und Abfragesprache für in Form gebrachte Wissensbestände, die man seit Mitte der sechziger Jahre Datenbanken nennt. Zwischen diesen Suchmaschinen gibt es aber auch auffällige Analogien. Bei Lembke und Zimmermann ging es um Suchmaschinen, die im Unterhaltungsprogramm des Fernsehens installiert wurden und Einzelfälle vor den Augen eines Massenpublikums behandelten. Bei Herold und Codd dagegen treffen wir auf rechnergestützte Suchmaschinen, die es einem einzelnen Nutzer erlaubten, mit großen Datenmengen umzugehen. Wenn man Suchmaschinen als Antworten auf das Problem des gesellschaftlichen Wandels und der von ihm verursachten Unübersichtlichkeit deutet, liegen die Analogien und Differenzen wieder anders: Während die Suchmaschinen von Lembke und Codd Übersicht herstellten, indem sie sich auf den Normalfall konzentrierten, produzierten die Suchmaschinen von Zimmermann und Herold Instrumente der Überwachung, die sich mit Ausnahmefällen beschäftigten. Alle Fallbeispiele weisen einen Bezug zur bundesrepublikanischen Gesellschaft auf, die in den späten sechziger und den siebziger Jahren mit brüchig gewordenen Selbstbeschreibungen, politischer Unübersichtlichkeit, ökonomischer Flexibilisierung und soziokulturellen Verwerfungen umzugehen hatte und in dieser Zeit eine Kombination von Suchverfahren entwickelte, mit denen sie die Folgen individueller Verunsicherung und kollektiver Desorientierung abzufedern suchte. 

David Gugerli: Suchmaschinen. Die Welt als Datenbank. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, S. 16ff.

»Where do you want to go today?«, fragte die Firma Microsoft vor noch nicht langer Zeit in Werbespots und Anzeigen ihre potenziellen Kunden, genauer gesagt: die zukünftigen Subjekte ihres Betriebssystems Windows 98. Die Frage «Where do you want to go today« macht deutlich, dass sich die Sorge der postkolonialen Empires auf eine neue Form von Migration oder Vagabundentum bezieht. Die Problematik des Am-Ort-Seins, des nichtsesshaften Lebens verbindet die postkolonialen Empires mit den Kulturtechniken frühneuzeitlicher Kolonialreiche. 
Die Frage nach dem Ort in den Kontrollgesellschaften von heute ist indessen abgekoppelt von der Problematik der Siedlung, von der Frage nach der Liebe zur Erde. Wir könnten alle Fliegende Holländer sein: ewig vagabundierend im Element des Ortlosen. Nicht von ungefähr wird der so genannte Cyperspace des Internet als Raum des Meeres imaginiert, stellt das Logo von Netscape ein Schiffssteuerrad dar. Die Frage nach dem Ort bezieht sich nun auf das Problem der statistischen Vorhersagbarkeit und Steuerbarkeit von Ereignissen, die im Zusammenhang mit Migrationsfragen auftauchen. Das Web erscheint den Analysten des E-Marketing ebenso wie den Befürwortern des E- Government als ein Raum, der von Bevölkerungs- Migrationen bestimmt ist; Herrschaft über diesen Raum gewährleistet daher vor allem ein Wissen vom Migrationsverhalten der Bevölkerung. Damit erscheint das Web als eine wichtige Dimension des postkolonialen Lebensraumes. Das Microsoft Network Member Agreement regelt Art und Produktion dieses postnationalen gouvermentalen Wissens. […]
Hier kündigt sich, unabhängig davon, dass Microsofts Bestrebungen, sich auf dem E-Government-Markt durchzusetzen, in letzter Zeit Rückschläge erlitten haben, ein entscheidender Aspekt zukünftiger Staatlichkeit an: der Übergang von Prärogativen nationaler staatlicher Souveränität auf die kommerziellen, globalen postkolonialen Empires. Nur setzt sich das statistische Bild des Individuums nicht mehr vorrangig aus Alter, Geschlecht, Religionszugehörigkeit, Status (ob verheiratet oder ledig), Zahl der Kinder usw. zusammen, sondern aus dem »usage pattern«.  […] Unter der Herrschaft der OnlineDienste basiert das Konzept des Ortes und des Am-Ort-Seins nicht mehr auf dem Modell der Zusammenschließung von Erd- und Papieroberflächen, die die Registerförmigkeit des staatlich instituierten Lebens zur Folge hatte. In den virtuellen Empires beruht das Wissen vom Ort, an dem irgendetwas oder -jemand ist, auf dem Modell der Verfolgung, das den interaktiven Prozessen computermediatisierter Kommunikation zugrunde liegt – und dessen Ursprung nicht staatliche Kontrollsysteme sind, sondern – wie die Rede von »target populations« deutlich verrät – militärische. Genauer gesagt: Norbert Wieners in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelter Anti-Aircraft predictor. »Where do you want to go« ist also eine Frage, die zunächst erst einmal Wieners Flugabwehrsystem an den Piloten eines feindlichen Flugzeugs stellte, um sie beantworten zu können, noch bevor sie der Pilot durch seine Manöver beantwortet hatte. Das Konzept des »Ortes« hat eine zeitliche Dimension hinzugewonnen: An seinem Platz gefunden oder nicht gefunden zu werden setzt eine Operation voraus, die in der Lage ist, die Zukunft vorherzusagen. 
Deshalb können die infamen Menschen von heute und morgen problemlos zu Nomaden werden, zu permanenten Migranten: Ihre Nichtsesshaftigkeit ist immer schon eine Funktion der Raster jenseits der »Schnittfläche«, von der Alberti sprach. Die Neuauflage der Rasterfahndung nach dem 11. September hat deutlich gemacht, dass die Orte, an denen die Polizei heute Menschen sucht und findet, virtuelle Orte sind. Die für den abendländischen Begriff des Politischen fundamentale Verbindung von Ort und Ordnung hat sich grundlegend modifiziert. Das zentrale Merkmal dieser Modifikation ist die Kybernetisierung des biopolitischen Rasters, in dem die gouvernementalen Mächte das Nichtsesshafte erfassen. Wenn die kolonialbürokratische Vision im 16. Jahrhundert auf dem Zusammenschluss von Registratur und Siedlung beruhte, dem Symbolischen und dem Realen, dann beruht die Vision eines globalisierten E-Government auf einem feed-back zwischen dem Symbolischen und dem Realen, das letztlich eine Unterscheidbarkeit zwischen beidem nicht mehr zulässt. Im so genannten „Hyperrealen“ verlaufen die Grenzen nicht mehr wie in der albertischen Konstruktion von Wirklichkeit zwischen dem, was einen Ort besetzen kann, und dem, was nicht. Die Grenze zwischen Menschen und Phantomen, Gebäuden und Wolken ist durchlässig geworden. Wolkenkuckucksheim liegt nicht mehr außerhalb der Domäne der Architektur, seit der Nihilismus (im Sinne von Ortlosigkeit) zur transzendentalen Möglichkeitsbedingung der postkolonialen Cyper-Empires geworden ist. 

Bernhard Siegert: (Nicht) Am Ort. Zum Raster als Kulturtechnik. In: Thesis. Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar H. 3/2003, S. 93–104, hier S. 100, 102.

☞ cf. Techniktagebuch / Suchabfrage »Suchmaschine«