Amtshaus

Das Treffen mit den Sachbearbeitern im Moskauer Zentralkomitee, die mir von Valentin Falin als zuständig und kompetent bezeichnet worden waren, fand in einem Neubau statt, der vor zehn Jahren nach einer architektonischen Planung aus den zwanziger Jahren errichtet worden war: als Behausung der zentralen Behörde der kommunistischen Partei, gerade zu einem Zeitpunkt, als erste Krisen, für die aktuell Beteiligten unerkennbar, deren späteren Niedergang andeuteten. Die kühlen Planer aus dem Jahr 1923 hatten die Gebäude nach Art eines Grandhotels entworfen (40 Jahre lagen zwischen Planung und Ausführung). Vor der russischen Oktoberrevolution von 1917 fanden die Besprechungen der Revolutionäre meist in Hotels statt. Die Planer von 1923, denen die Architekten von 1973 getreu gefolgt waren, waren von dieser Erinnerung ausgegangen. Eigentlich war nur jene Periode vor der Machtergreifung (mit einer kurzen Echowirkung für die Zeit danach) politisch gewesen.
Am Hoteltresen wurden meine Papiere geprüft. Wie in einem wirklichen Hotel hingen hinter dem Portier, der einen hohen Rang im Geheimdienst innehatte, die Schlüssel an der Wand. Die Bürokraten der Partei, zuständig für das politische Gesamturteil, das seit Jahren die tatsächlich in den wirtschaftenden Entscheidungszentren getroffenen Maßnahmen begleitete, saßen in schmalen, schlauchartigen Zimmern, wie sie entstehen, wenn man ein für frühere Herrschaften bestimmtes generöses Hotelzimmer ausräumt und durch Einfügung von Regalen und Zwischenwänden aus einem Zimmer zwei macht. Dies war ein Kompromiß zwischen historischem Glanz und Wirtschaftlichkeit, die ja schon im Grundriß der Schweizer und Pariser Hotels eingebaut war, die dem Entwurf des Kommandogebäudes als Vorbild dienten. Der für »Neue Ökonomische Strategien« zuständige Dezernent schien mir träge und uninformiert. 
[…] Ich empfand alle Einzelheiten dieses Partei-Hauptquartiers als Attrappe, eine Art von Tarnung, die davon ablenken sollte, daß die tatsächlich relevanten Entscheidungen trotz dieser politischen Kontrolle an anderen Orten stattfanden. DAS POLITISCHE SUBJEKT HATTE, OHNE HINTERLASSUNG EINER ADRESSE, DEN HOTELBAU VERLASSEN.

Alexander Kluge: Sind Glasnost und Perestroika ein Aufbruch in die Zukunft, und wenn Ja, von welchem Boden aus? In: Ders.: Russland-Kontainer. Berlin: Suhrkamp 2020, S. 204–206, hier S. 204f.

Yuri Slezkine: Das Haus der Regierung: Eine Saga der Russischen Revolution. Übers. V. Helmut Dierlamm, Norbert Juraschitz u. Karin Schuler. München: Hanser 2018, 1338 S.

☞ cf. Absteig[e]quartier des Hauptquartiers der Weltrevolution


☞ cf. Abgrund

Ein Grund für den Nahebezug Hotel–Amtshaus ist in anverwandten Kulturtechniken der Verwahrung und Organisation zu ersehen (unbeschadet aller Transitionsfragen): ein Portier respektive Auskunftsschalter, von dem aus die Wege ins Haus bezeichnet werden – wie bei einer Rezeption; die räumliche Organisation (nebst der hierarchischen: bessere und schlechtere Zimmer) nach Tür-/Zimmernummern und Stockwerken; einheitlich operierende Reinigungsdienste; Posteingangs- und -verteilstellen; weitgehend einheitliche Möblierung. Zudem: man weiß stets, wer an- und abwesend ist, kann Listen führen.