Formel–Formular (historische Annotationen)

Die versteckte Pointe des Wettstreits zwischen dem kleinen Gallier und dem großen Römischen Reich um den mittlerweile berühmten »Passierschein A38« (cf. Formulare — Schnittstellen der Kontingenz [— Einleitung]) mag sein, dass gerade die römische Verwaltung und Rechtsprechung am Anfang des Weges steht, den Cornelia Vismann in ihrem Buch »Akten«[1] für das Formular zeichnet. 
Denn seit wann gibt es Formulare? Vismann setzt nicht ausschließlich schriftbasiert bei vorgeschriebenen Formularbüchern und späterhin Vordrucken an (wie es die VerfasserInnen des einschlägigen Lemmas in der Wikipedia mit dem Formelbuch des Markalf aus dem späten 7. Jahrhundert tun). Hierfür ließe sich ab der Einführung des Buchdrucks eine Rückbeziehung auf die Verwaltung und ihre entlang der Entwicklung der Papier- und also Drucksorten immer stärkere Formalisierung, d.h. Ausformung von Ordnung, Organisation und Struktur, ein mithin systemischer Charakter feststellen.[2]

Die neue Technik der Vervielfältigung steigert die alte Kanzleieinheit de verbo ad verbumzur vollkommenen Identität von vor- und abgeschriebenen Worten. Kurz: Der Buchdruck hat »das Phänomen der Wortwörtlichkeit mit sich gebracht«.[3]
Wenn der Einsatz von Formularen und Kanzleiverordnungen die Verwaltungsarbeit formalisiert, dann formiert sie damit auch insgesamt die Einrichtung der Kanzlei. Diese wird durch ihre Verpflichtung auf eine verbindliche Ordnung allmählich zu einem festen Gebilde, einem collegium formatum. Die Kanzleiverrichtungen verstetigen sich.[4]

Cornelia Vismann

Gerade Vismann setzt gegenüber einer Formular-Geschichte der gedruckten Wortwörtlichkeit noch früher an und nimmt den etymologischen Weg vom römischen Recht her, wenn formulaeein Verwaltungshandeln, einen rechtsverbindlichen Akt, bedeuten. (D.h. dass Sprache/Diktat und Schrift sowie deren genauer Vortrag sich bedingen: ein offizielles Schreiben mit seinen diktierten Anweisungen und Mitteilungen, das verlesen wird, erlangt dadurch Rechtsgültigkeit.) Hieraus leiten sich frühe Formen der Formalisierung ab, die späterhin mit einer Arbeitstechnik der Standardisierung und Serialität gekoppelt werden. »Das Formular, das in der Verwaltung des Imperium Romanum aus arbeitsökonomischen Gründen Einsatz gefunden hatte, wird zum Formerfordernis.«[5]

Formalia, Formfestlegungen, normierte Formate und bestimmte Formeln von der Anrede bis zum abschließenden Gruß sollen auch der Fälschungssicherheit dienen. Sie präzise zu beherrschen und anzuwenden ist wesentliches Arkanwissen von Kanzleien. Das geht durchaus so weit, das den Schriftstücken zwecks Gesetzeskraft mittels Vortrag präzise Lesehilfen (Pausen, wie Leerzeichen oder Punkte; Sprechdynamiken) eingefügt werden, deren Anwendung als authentisch-rhetorisches Simulacrum Wiedererkennbarkeit und damit Autorität garantieren sollten.[6] Die ars notariiund die ars dictandibedingen einander in der Produktion, es geht um Speichern und Abrufbarkeit, sozusagen rechtsgültiges Recordingeiner Herrscher-Rhetorik. Eine frühe Kulturtechnik, eine technéder Verwaltung. 

Erst Jahrhunderte später wird mit den Mitteln des Buchdrucks statt der Einzel- eine Massenadressierung erfolgen können. 

Kanzleitechnisch gesehen beschert die Möglichkeit des Drucks eine schreibökonomische Neuerung von großer Reichweite: Formulare. Sie sind nicht nur das Format eines virtuellen, sondern auch eines realisierten Schemas, eines Lückentexts, auf dem allein »die wiederkehrenden Teile schriftlicher Mitteilungen […] festgelegt«[7] sind. [E]rst als sie gedruckt vorliegen, machen diese Formulare Kanzleivorgänge in großem Umfang formalisierbar; sie »erzwingen ein uniformes Problemlösungsverhalten und uniforme Darstellungsweisen«,[8] bis hin zu annähernd einheitlichen Papierformaten, deren Anfänge in die Zeit des Buchdrucks fallen. Formulare steuern Formalisierungsprozesse. Sie funktionieren wie Formelbücher,[9] in denen Musterschreiben zusammengestellt sind, und die dadurch einen »allgemeinen europäischen Stil zum Abfassen von Akten«[10] prägten. Doch stärker noch als diese Formelsammlungen formatieren, prozessieren und uniformieren die gedruckten Formulare die Schreibarbeit der Kanzlei. […] Aus Vorschriften werden Vordrucke. […] Das gedruckte Formular verhält sich dabei zur handschriftlichen Eintragung wie das abstrakte Gesetz zum konkreten Fall. Es präfiguriert das subsumtive Verfahren zur Anwendung von abstrakt gefassten Gesetzen. Die Lücke auf den Formularen markiert »nach dem Muster slot and filler«[11] den Platz des Konkreten. Sie ist die Hohlform dafür. Allgemeiner ausgedrückt: »Erst im Medium möglicher Markierung sind Markierungen möglich.«[12] [13]

Cornelia Vismann

Statt es mit einer Formulierung aus der Systemtheorie sein Bewenden haben zu lassen und ohne in wesentlich mit entscheidenden Fragen nach sowohl der je medialen Formen der Formulare (Wort, Papier, paperwork .pdf, digital, Social Media) als auch ihrer jeweiligen Gestaltung mich zu verlieren, war da noch etwas. Es wird blutig an der Schnittstelle:

Diese Karriere des Formulars zur allgegenwärtigen Schnittstelle zwischen der Verwaltung und ihren Klienten war bedingt durch die Expansion der Verwaltungstätigkeit im Zeichen des Wohlfahrtsstaates. Dabei gewann in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. Eine neue Funktion immer mehr an Bedeutung: die Gewinnung von Daten der Antragsteller ohne die Vermittlung eines Beamten. […] Der Beamte konnte als eine kompetente Instanz die individuellen Geschichten in die Programmlogik übersetzen. Angesichts der stark wachsenden Zahl von Anträgen stand für diese Schnittstellenfunktion aber nicht mehr ausreichend Personal zur Verfügung. […] Das Formular hat die Schnittstellenfunktion der Beamten übernommen.[14]

Peter Becker

Das Formular also als Teil eine bürokratischen Datenerfassungskette, einer Administrative Data-»Assembly line«,[15] die den Bürger vor dem Amt, dem Gesetz, zusammenzusetzen verspricht und deren grundlegendes Wissen sich über die Lehren der Automatisierung auf Basis von Normierung, das Prinzip der Typisierung und damit Austauschbarkeit aller Teile bestimmt. Es werden nicht Verwaltungsakte für Bürger konstruiert, sondern Bürger und ihre Daten werden als zu standardisierende Bedienungselemente mit laufenden Verwaltungssysteme verschaltet; das 21. Jahrhundert und seine von Neoliberalisierung, dem Primat Kulturindustrie und Digitalisierung[16] gekennzeichnete Verfasstheit gibt dafür bereits die perfektionierte …– die tatsächliche – Probe aufs Exempel für das, was dereinst noch als Vorwurf an den Staat und seine Bürokraten formuliert wurde und bei dem doch nun alle mitmachen. Daher rührt auch notwendigerweise der Ruf nach mehr privat und weniger Staat: Der Dieb schreit ›Haltet den Dieb!‹, zeigt auf den Bestohlenen und geht in aller Ruhe seine soeben erweiterte Barschaft zählen.

tbc


[1] Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt/M.: Fischer 2000

[2] Ohnehin stellt sich eine sehr wesentliche Frage: Ob und wienotwendig es ist, eine Unterscheidung von analogen Formularen, deren elektronischen online und .pdf-Versionen sowie den tatsächlich ausschließlich digital aufgesetzten und ausgelesenen Formularen (inkl. Möglichkeiten algorithmischer Erstellung) zu markieren.

[3] Jörg Jochen Berns: Umrüstung der Mnemotechnik. In: ders., Wolfgang Neuber (Hg.): Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400–1750. Tübingen 1993, S. 69f.

[4] Vismann 2000, S. 163

[5] Vismann 2000, S. 129. Anders formuliert: »Im Mittelpunkt der Kanzleiordnung steht die amtliche Vervielfältigungsarbeit. Ihrer Funktion nach ist die Ordnung ein Formular: Sie steuert Arbeitsabläufe, genauer: sie programmiert die einzelnen Arbeitsschritte der Produktion und Reproduktion eines Schriftstücks in der Kanzlei.« (Vismann 2000, S. 161)

[6] Vismann 2000, S. 151.

[7] Heinz Fotheringham: Allgemeine Gesichtspunkte des Formulars. In: Siegfried Grosse, Wolfgang Mentrup (Hg.): Bürger, Formulare, Behörden. Wissenschaftliche Arbeitstagung zum Kommunikationsmittel »Formular«. Tübingen 1980, S. 25–43, hier S. 25.

[8] Rüdiger Weingarten: Datenbanken. In: Hartmut Günther, Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit/Writing and its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin, New York 1994, S. 158–170, hier S. 160.

[9] Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1. München 1992, S. 354f.

[10] Heinrich Fichtenau: Arenga. Spätantike und Mittelalter im Siegel von Urkundenformeln. Graz, Köln 1957, S. 19.

[11] Weingarten 1994; Max Helbig: Der Aufbau und die Gestaltung der Vordrucke. In: Siegfried Grosse, Wolfgang Mentrup (Hg.): Bürger, Formulare, Behörden. Wissenschaftliche Arbeitstagung zum Kommunikationsmittel »Formular«. Tübingen 1980, S. 44–75, hier S. 50f.

[12] Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1993, S. 246.

[13] Vismann 2000, S. 160f.

[14] Peter Becker: Formulare als »Fließband« der Verwaltung? Zur Rationalisierung und Standardisierung von Kommunikationsbeziehungen. In: Eine intelligente Maschine? Handlungsorientierungen moderner Verwaltung (19./20. Jh.). Hg. v. Peter Collin, Klaus-Gert Lutterbeck. Baden-Baden: Nomos 2009, S. 281–298, hier S. 291f.

[15] Cf. für Schnittstelle/Fließband etwa McLuhan 1962: »The invention of typography confirmed and extended the new visual stress of applied knowledge, providing the first uniformly repeatable commodity, the first assembly-line, and the first mass-production.« (S. 124)  – cf. dazu weiters ditto device in »The Medium is the Massage« (1967).
Und »The interfaceof the Renaissance was the meeting of medieval pluralism and modern homogeneity and mechanism—a formula for blitz and metamorphosis.« (S. 141) »Two cultures or technologies can, like astronomical galaxies, pass through one another without collision; but not without change of configuration. In modern physics there is, similarly, the concept of ›interface‹ or the meeting and metamorphosis of two structures. Such ›interfaciality‹ is the very key to the Renaissance as to our twentieth century.« (S. 149) – und auch McLuhan 1970: »Our book technology has Gutenberg at one end and the Ford assembly lines at the other. Both are obsolete.« (S. 99)

[16] »Der Standard von heute – damit komme ich zum Schluss – heisst aber Digitalisierung. Zum wahrhaft erstenmal gibt es einen Code, der zwischen Zahlen und Buchstaben, Zahlen und Klängen, Zahlen und Bildern keinen Unterschied mehr macht. Im Prinzip können also alle Kunstwerke und alle Medien, die die Geschichte hervorgebracht hat, im Universalmedium Computer aufgehen, wie das für Radio und Fernsehen schon sehr absehbar ist. Aber gerade wenn Computer Universalmedien werden und der Begriff Multimedia mehr als ein Schlagwort sein soll, steht ihre Theorie vor Rätseln. Kein Algorithmus kann der Informatik automatisierte Antworten auf die Frage geben, welche Optik und welche Akustik eine optimale Benutzerschnittstelle hätte. Es lässt sich zwar vermuten, dass die rechteckigen Fenster, wie sie heute auf Computerbildschirmen vorherrschen, den Angriff Mandelbrots auf Euklid nicht mehr lange überleben werden. Aber welche Komplexität, welcher Kompromiss zwischen Ordnung und Rauschen dem heiklen Verkehr zwischen Menschen und Maschinen angemessen ist, steht dahin.« (Friedrich Kittler: Kunst und Technik. Hg. v. René Stettler. Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld 1997, S. 32f.)