Leitzordnerliteratur

Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall (1986)

Auf einmal kam mir, auf dem Bürosessel sitzend, zu Bewußtsein, daß ich ja jetzt in meinem Büro sitze, nicht im Büro des Vaters, von einer plötzlichen Müdigkeit befallen, die Bürowände betrachtend, ekelte es mich vor diesen Bürowänden. Vor den Hunderten von Leitzordnern in den Regalen an den Wänden, auf welchen ich nichts als immer nur das daraufgeschriebene Wort Wolfsegg und eine Jahreszahl darunter ablesen konnte. So lange, bis es mich beinahe verrückt machte, wie ich dachte. 

Bernhard, Auslöschung, S. 521

Was ist denn überhaupt ein Format? fragte ich mich schließlich. Der Anblick der Leitzordner, die bis in die Anfänge des Jahrhunderts zurückreichen, deprimierte mich zutiefst.

Bernhard, Auslöschung, S. 522f.

Das Büro werde ich nicht wie der Vater als meinen eigentlichen Lebensraum anzusehen haben in Zukunft, dachte ich. Die Leitzordner werden nicht meine Existenz einengen, wie sie die Existenz des Vaters eingeengt haben, ihn schließlich erdrückt haben. Die Leitzordner haben die väterliche Existenz zuerst eingeengt, dachte ich, dann haben sie sich auf ihn gestürzt eines Tages und ihn erdrückt. 

Bernhard, Auslöschung, S. 602

Die Leitzordner werde ich nicht, wie der Vater, zu meinen heimlichen wortlosen Gesellschaftern machen halbe Tage und ganze Tage und oft auch noch auf die widerwärtigste Weise halbe und ganze Nächte. Meine Kommandobrücke, so der Vater sehr oft über das Büro, wird es nicht sein, dachte ich und ich empfand es im Augenblick immer noch als infame Demütigung an mir, wenn der Vater, wissend oder nicht, das Büro als seine Kommandobrücke bezeichnete, wo er doch niemals eine tatsächliche Kommandogewalt ausgeübt hat in Wolfsegg, weil das Kommando hier immer nur von unserer Mutter ausgeübt worden ist. Sie hatte den Vater das Wort Kommandobrücke ohne weiteres aussprechen lassen, auch in Gesellschaft, weil sie wußte, wie lächerlich das von ihm ausgesprochene Wort Kommandobrücke im Augenblick für sie immer war. Nein, nein, mein Büro wird dieses nicht sein, dachte ich. Ich werde mich von den Leitzordnern nicht beherrschen lassen. Millionen sind von Leitzordnern beherrscht und kommen aus dieser demütigenden Beherrschung nicht mehr heraus, dachte ich. Millionen sind von diesen Leitzordnern unterdrückt. Ganz Europa läßt sich seit einem Jahrhundert von den Leitzordnern unterdrücken und die Unterdrückung der Leitzordner verschärft sich, dachte ich. Bald wird ganz Europa von den Leitzordnern nicht nur beherrscht, sondern vernichtet sein. Das habe ich ja auch einmal Gambetti gesagt, daß vor allem die Deutschen sich von den Leitzordnern unterdrücken haben lassen.

Bernhard, Auslöschung, S. 606

An diesem Punkt lohnt es sich auf eine präzise Unschärfe Thomas Bernhards hinzuweisen: 1986, als die Auslöschung erscheint, sind aufs Jahr genau 100 derartige vergangen, seitdem Friedrich Soennecken (Firmengründung 1875) seine für Stanzungen so unerlässlichen Erfindungen (ohne Soennecken wären wir nur Schreibende) von Aktenordner und Locher zum Patent anmeldete – das späterhin die Herren Leitz (Firmengründung 1876) erwarben; Louis Leitz wird den Aktenordner sodann weiterentwickeln.


Selbst die Literatur der Deutschen ist eine von den Leitzordnern unterdrückte, habe ich zu Gambetti einmal gesagt. Jedes deutsche Buch, das wir aufmachen, und das in diesem Jahrhundert entstanden ist, habe ich zu Gambetti gesagt, ist ein solches von den Leitzordnern unterdrücktes. Eine von Leitzordnern unterdrückte und schon beinahe zur Gänze vernichtete Literatur schreiben die Deutschen, habe ich zu Gambetti gesagt. In Deutschland wird alles von den Leitzordnern dirigiert, habe ich zu Gambetti gesagt. Und diese heutige, von den Leitzordnern unterdrückte Literatur, ist naturgemäß dadurch die erbärmlichste, eine solche hilflose erbärmliche Literatur hat es niemals vorher gegeben, habe ich zu Gambetti gesagt. Es ist eine lächerliche Büroliteratur, die von Leitzordnern diktiert ist, so jedenfalls komme es mir jedesmal vor, wenn ich ein heute geschriebenes Buch lese. Alle diese Bücher seien von einer grenzenlosen Erbärmlichkeit, habe ich zu Gambetti gesagt, weil sie aus dem Kopf von Leuten kommen, die sich vollkommen von den Leitzordnern beherrschen lassen, lebenslänglich, Gambetti, habe ich gesagt. Eine kleinbürgerliche Beamtenliteratur haben wir vor uns, wenn wir die deutsche Literatur vor uns haben, auch die großen Beispiele dieser deutschen Literatur sind nichts anderes, Gambetti, Thomas Mann, ja selbst Musil, sagte ich, den ich von allen diesen Beamtenliteraturerzeugern noch an die erste Stelle setze. Aber auch Musil hat nichts anderes geschrieben, als eine erbärmliche Beamtenliteratur.

Bernhard, Auslöschung, S. 607

Diese Literatur ist durch und durch bürgerlich, zum Großteil kleinbürgerlich, sagte ich zu [/] Gambetti auf dem Pincio, auch die Thomas Manns, auch die Musils, die sich ja vollkommen von den Leitzordnern in jeder von ihnen geschriebenen Zeile haben beherrschen lassen. Wenn wir diese Literatur lesen, sehen wir, wie sie ein Beamter schreibt, ein einmal mehr, einmal weniger kleinbürgerlicher Beamter, dem im Grunde und letzten Endes doch nur die Leitzordner die Feder geführt haben. Der Großbürger Thomas Mann hat eine durch und durch kleinbürgerliche Literatur geschrieben, habe ich zu Gambetti gesagt, die absolut auch für den Kleinbürger bestimmt und geschrieben ist, die Kleinbürger fressen diese Literatur in sich hinein mit Genuß, Gambetti, habe ich zu ihm gesagt. Seit mindestens hundert Jahren gibt es nurmehr noch eine von mir sogenannte Büroliteratur, eine kleinbürgerliche Beamtendichtung, habe ich zu Gambetti gesagt. Und ihre Meister sind Musil und Thomas Mann gewesen, von den andern ganz zu schweigen. Wenn wir Kafka außer acht lassen, habe ich zu Gambetti gesagt, der tatsächlich Angestellter gewesen ist, aber als einziger keine Beamten- und Angestelltenliteratur geschrieben hat, alle andern haben nichts anderes geschrieben, weil sie zu etwas anderem gar nicht befähigt gewesen sind. Der Angestellte Kafka, habe ich zu Gambetti gesagt, hat als einziger keine Beamten- und Angestelltenliteratur geschrieben, sondern eine große, was man von allen sogenannten großen deutschen Schriftstellern dieses Jahrhunderts nicht behaupten kann, wenn man sich nicht unter die Millionen von feuilletonistischen Schwätzern einreihen will, die aus den Zeitungen seit [/] hundert Jahren eine feuilletonistische Armeleuteküche gemacht haben, in welcher sie ihre haarsträubenden Irrtümer immer wieder aufkochen bis zum Überdruß, Gambetti. Im Grunde genommen, habe ich zu Gambetti gesagt, haben die Deutschen in diesem Jahrhundert nur eine von Leitzordnern beherrschte Literatur produziert, die ich geradeheraus auch nur als eine Leitzordnerliteratur bezeichnen will, um mich nicht strafbar zu machen in einer Zeit, die diese Leitzordnerliteratur eines Tages als eine solche Leitzordnerliteratur durchschaut und dahinein kippt, wohinein sie gehört, in den Abfalleimer der Literaturgeschichte, Gambetti.

Bernhard, Auslöschung, S. 607–609