Ordnung, Registratur : Bürokratie, Verwaltung

Alexander Kluge fragt nach, Dirk Baecker antwortet:

Das Wort »bürokratisch« hat heute eine leicht negative Konnotation. Ursprünglich ist es eine ganz gewaltige Errungenschaft gewesen, dass man etwas in einer zentralen Leitung, in einem Büro zusammenfassen kann, um aus den Akten heraus Wirklichkeit zu gestalten.
Max Weber hat die schriftliche Aktenführung durch und in Büros als eine der großen evolutionären Errungenschaften der Menschheitsgeschichte bezeichnet. Schriftliche Aktenführung ist ein Verfahren, das gegenüber Störungen unempfindlich ist und doch vielfältig und variabel eingerichtet werden kann. Diese mangelnde Störbarkeit oder auch »Taktlosigkeit«, mit einem Wort von Niklas Luhmann, hat dann die bekannte Bürokratiekritik auf den Plan gerufen und den Blick von der letztlich viel besorgniserregenderen Flexibilität der Bürokratie abgezogen.
Worin bestehen die klassischen Tugenden einer Verwaltung?
In der Pflichterfüllung, im Gehorsam, aber auch im Beamtentum, das eine gewisse Unabhängigkeit, ein eigenes Berufsethos mit sich bringt. Der Beamte ist auf Lebenszeit zu einer bestimmten Verhaltensweise verpflichtet, die an Aktenvorgänge, aber nicht an Personen gebunden ist.
Es gibt auch eine gewisse Verantwortlichkeit.
Die Verantwortung wird von der Verwaltung übernommen, eine Verantwortung für Korrektheit, sowohl juristisch als auch verfahrenstechnisch, jedoch keine Verantwortung für die sachliche Angemessenheit der Entscheidungen. Letztere obliegt der Politik – womit ich nicht sagen will, dass sie dort auch übernommen wird. Aber die Verantwortung für die Korrektheit von Verfahren ist keine kleine Angelegenheit. Der Organisationssoziologe Arthur L. Stinchcombe etwa hat behauptet, dass die Entwicklungsländer in der Lösung ihrer Probleme einen erheblichen Schritt weiter wären, wenn es in ihnen wenigstens so etwas wie eine Verwaltungsbürokratie gäbe, die nach politischen und sachlichen und nicht nach den Kriterien von Begünstigung, Verwandtschaft und ethnischer Zugehörigkeit entscheidet.
Die Organisation führt also aus einem anarchischen und ungeordneten Zustand heraus und wenn man auf sie verzichtet, wie wir gegenwärtig auf Bürokratie zu verzichten versuchen, fällt man wieder in einen ungeordneten Zustand zurück, in dem alles mit allem kämpft?
Wir wissen im Moment weder um die Ordnung unseres Zustands, weil unsere Bürokratietheorie gegenwärtig ganz untauglich ist, noch wissen wir, worauf wir uns einlassen, wenn wir auf diese Ordnung verzichten würden. Es wird viel über e-government diskutiert, die Auslagerung der Verwaltungsverfahren in das Internet, und man erwartet daraus vor allem Effekte der Einsparung von Personal- und Verwaltungskosten sowie interessanterweise eine größere Bürgernähe. Aber wie diese elektronische Regierung funktioniert, mit wem sie überhaupt noch eine Berührung hat und woher sie die Information für ihre Entscheidungen bezieht, ist ebenso ungewiss wie die Art und Weise der Organisation dieser Verwaltung. Wird die jeden Aktenvorgang speichern? Und wo? Mir scheint, dass wir uns hier mit vielen Optionen der Einrichtung von Verwaltungen erst wieder vertraut machen müssen. Zum Beispiel wissen wir kaum noch, worin die Bedeutung der Erfindung der Registratur in einem Archiv besteht. Das ist eine Stelle, an der nur festgehalten wird, wann ein Aktenvorgang begonnen worden ist, in welchen Händen er gerade liegt und welchen Fristen er unterliegt. Diese extreme Beschränkung und Befreiung von allen sachlichen Fragen sichert, dass das Verfahren ordnungsgemäß verläuft und jeder Beteiligte weiß, was als Nächstes zu erwarten ist und was nicht. Auf eine solche Einrichtung glaubt man heute typischerweise verzichten zu können, weil man sie für rein »formal« hält, vielleicht sogar für eine Maßnahme zur Schaffung und Sicherung eines Arbeitsplatzes. Aber wenn man sich die Arbeiten von Angelika Menne-Haritz zur Registratur und anderen Einrichtungen dieser Art anschaut, ahnt man, welche Intelligenz im Umgang mit hochgradig verteilten Verfahren hier einmal investiert war.
Eine Art Eisenbahnfahrplan …
In den 1920er Jahren ist diese Registratur in der preußischen Bürokratie abgeschafft worden und eine Sachbearbeiterablage an ihre Stelle getreten. Diese liefert jedoch keine Übersicht, hat keine Kontrollfunktion und führt zu nichts anderem als einem Wildwuchs der Bürokratie, weil jetzt jeder aus seiner Ablage heraus versuchen kann, das Verfahren in seinem Sinne zu lenken.

Dirk Baecker, Alexander Kluge: Vom Nutzen ungelöster Probleme. Berlin: Merve 2003, S.51–54