Max Weber: Studienausgabe Bd. I.23: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Mohr: Tübingen 2014.
§ 5. Die rein bureaukratische, also: die bureaukratisch-monokratische aktenmäßige Verwaltung ist nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verläßlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herren wie für die Interessenten, Intensität und Extensität der Leistung, formal universeller Anwendbarkeit auf alle Aufgaben, rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste, Form der Herrschaftsausübung. Die Entwicklung »moderner« Verbandsformen auf allen Gebieten (Staat, Kirche, Heer, Partei, Wirtschaftsbetrieb, Interessentenverband, Verein, Stiftung und was immer es sei) ist schlechthin identisch mit Entwicklung und stetiger Zunahme der bureaukratischen Verwaltung: ihre Entstehung ist z.B. die Keimzelle des modernen okzidentalen Staats. Man darf sich durch alle scheinbaren Gegeninstanzen, seien es kollegiale Interessentenvertretungen oder Parlamentsausschüsse oder »Räte-Diktaturen« oder Ehrenbeamte oder Laienrichter oder was immer (und vollends durch das Schelten über den »hl. Bureaukratius«) nicht einen Augenblick darüber täuschen lassen, daß alle kontinuierliche Arbeit durch Beamte in Bureaus erfolgt. Unser gesamtes Alltagsleben ist in diesen Rahmen eingespannt. Denn wenn die bureaukratische Verwaltung überall die – ceteris paribus! – formal-technisch rationalste ist, so ist sie für die Bedürfnisse der Massenverwaltung (personalen oder sachlichen) heute schlechthin unentrinnbar. Man hat nur die Wahl zwischen »Bureaukratisierung« und »Dilettantisierung« der Verwaltung, und das große Mittel der Überlegenheit der bureaukratischen Verwaltung ist: Fachwissen, dessen völlige Unentbehrlichkeit durch die moderne Technik und Ökonomik der Güterbeschaffung bedingt wird, höchst einerlei ob diese kapitalistisch oder – was, wenn die gleiche technische Leistung erzielt werden sollte, nur eine ungeheure Steigerung der Bedeutung der Fachbureaukratie bedeuten würde – sozialistisch organisiert ist. (S. 159)
MW, Soziologie (s.o.), S. 159
Neben den fiskalischen Voraussetzungen bestehen für die bureaukratische Verwaltung wesentlich verkehrstechnische Bedingungen. Ihre Präzision fordert Eisenbahn, Telegramm, Telephon und ist zunehmend an sie gebunden. Daran könnte eine sozialistische Ordnung nichts ändern. Die Frage wäre […], ob sie in der Lage wäre, ähnliche Bedingungen für eine rationale, und das hieße gerade für sie: straff bureaukratische Verwaltung nach noch festeren formalen Regeln zu schaffen, wie die kapitalistische Ordnung. Wenn nicht, – so läge hier wiederum eine jener großen Irrationalitäten: Antinomie der formalen und materialen Rationalität, vor, deren die Soziologie so viele zu konstatieren hat.
MW, Soziologie (s.o.), S. 160
Die bureaukratische Verwaltung bedeutet: Herrschaft kraft Wissen: dies ist ihr spezifisch rationaler Grundcharakter. Ueber die durch das Fachwissen bedingte gewaltige Machtstellung hinaus hat die Bureaukratie (oder der Herr, der sich ihrer bedient), die Tendenz, ihre Macht noch weiter zu steigern durch das Dienstwissen: die durch Dienstverkehr erworbenen oder »aktenkundigen« Tatsachenkenntnisse. Der nicht nur, aber allerdings spezifisch bureaukratische Begriff des »Amtsgeheimnisses« – in seiner Beziehung zum Fachwissen etwa den kommerziellen Betriebsgeheimnissen gegenüber den technischen vergleichbar – entstammt diesem Machtstreben.
Max Weber: Studienausgabe Bd. I.22: Wirtschaft und Gesellschaft. Herrschaft. Mohr: Tübingen 2009.
Vor allem aber bietet die Bürokratisierung das Optimum an Möglichkeit für die Durchführung des Prinzips der Arbeitszerlegung in der Verwaltung nach rein sachlichen Gesichtspunkten, unter Verteilung der einzelnen Arbeiten auf spezialistisch abgerichtete und in fortwährender Uebung immer weiter sich einschulende Funktionäre. »Sachliche« Erledigung bedeutet in diesem Fall in erster Linie Erledigung »ohne Ansehen der Person« nach berechenbaren Regeln. »Ohne Ansehen der Person« aber ist auch die Parole des »Marktes« und aller nackt ökonomischen Interessenverfolgung überhaupt. Die konsequente Duchführung der bürokratischen Herrschaft bedeutet die Nivellierung der ständischen »Ehre«, also, wenn das Prinzip der Marktfreiheit nicht gleichzeitig eingeschränkt wird, die Universalherrschaft der »Klassenlage«. Wenn diese Konsequenz bürokratischer Herrschaft nicht überall parallel mit dem Maße der Bürokratisierung eingetreten ist, hat dies seinen Grund in der Verschiedenheit der möglichen Prinzipien der Bedarfsdeckung der politischen Gemeinschaften. Aber auch für die moderne Bürokratie hat das zweite Element: die »berechenbaren Regeln«, die eigentlich beherrschende Bedeutung. Die Eigenart der modernen Kultur, speziell ihres technisch-ökonomischen Unterbaues aber, verlangt gerade diese »Berechenbarkeit« des Erfolges. Die Bürokratie in ihrer Vollentwicklung steht in einem spezifischen Sinn auch unter dem Prinzip des »sine ira ac studio«. Ihre spezifische, dem Kapitalismus willkommene, Eigenart entwickelt sie um so vollkommener, je mehr sie sich »entmenschlicht«, je vollkommener, heißt das hier, ihr die spezifische Eigenschaft, welche ihr als Tugend nachgerühmt wird: die Ausschaltung von Liebe, Haß und allen rein persönlichen, überhaupt allen irrationalen, dem Kalkül sich entziehenden, Empfindungselementen aus der Erledigung der Amtsgeschäfte, gelingt.
MW, Herrschaft (s.o.), S. 25f.