Der Griffel Gottes

In Polen war eine Gräfin von P…., eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution erteilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet! – Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen.

Heinrich von Kleist: Der Griffel Gottes. Berliner Abendblätter Nr. 5 v. 05.10.1810.
Hier cit. nach von Kleist, Heinrich: Sämtliche Werke und Briefe Bd. 2, hg. v. Helmut Sembdner. 7. erg. u. revid. Aufl. München: Hanser 1987, p. 263.

Angelegentlich wird sich darüber spekulieren lassen, dass (und: inwieweit) es sich bei den auf dem Leichenstein umgeschichteten Lettern um eine sog. »Lichtenberg-Figur« handelt(e).
Cf. dazu den Aufsatz von Michael Gamper, »Elektrische Blitze. Naturwissenschaft und unsicheres Wissen bei Kleist« (Kleist-Jahrbuch 2007, S. 254–272)