Vorbemerkung:
Goethes Autobiografie und deren Aufgriff vermittels Patientengeschichten durch Sigmund Freud (ein Vortrag am 13.12.1916 und 18.4.1917) darf als bekannt vorausgesetzt werden. Arthur Schnitzler hörte diesen und schrieb in dieser Zeit an seiner Autobiografie. Er wird in dieser sehr zu Beginn eine mit Goethe und Freuds Analogieschluss korrespondierende (und viel zu selten beachtete) kleine Szene setzen – mit der ironisch zu verstehenden Unschuldsgeste des Nichtbewussten und präzise für jenen Zeitpunkt seines damals gut dreijährigen Lebens, in dem der Bruder Julius auf die Welt kommt (die inhaltliche Triangulation dazu hat Hartmut Scheible in einem Aufsatz ausgeführt). In die einschlägig anzuführende Zitatenfolge passe ich nun aus Adalbert Stifters autobiografischer Skizze »Mein Leben« eine für den Anfang seines Sprechens gesetzte Störung und Bestrafung ein.
Nicht um die – eben bereits schlüssig ausgeführte – Spekulation auf den analytischen Passus früher Kindheit ist es mir hier zu tun. Sondern grundsätzlicher um die Zusammenhänge von Autobiografie, Ausdruck, kulturelle Filter autobiografischer Darstellung, Brüche und die Darstellung des Eigenen, das sich behauptet. Eine Frage geht somit dahin, in wie vielen autobiografischen Texten zu Beginn etwas zerbricht: als realiter dargestellt und zusätzlich codiert [potentiell symbolisch]. Hierzu gehörte, nach einschlägigen Beispielen in autobiografischen Lebensdarstellungen von Frauen zu fragen (einer der von Freud im Zshg. angeführten Fälle handelt von der ihm von der Kinder-Psychoanalytikerin Hug-Hellmuth zugetragenen Geschichte einer Patientin). Eine weitere Thematik eröffnet sich hinsichtlich der Korrespondenz- und Kommunikationsbedingungen der damals Illiteraten und ihrer Selbst-Darstellung durch die erwachsenen Alphabeten.
Goethe:
Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühsten Zeit der Jugend begegnet ist, so kommt man oft in den Fall, dasjenige, was wir von andern gehört, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigner anschauender Erfahrung besitzen. […] und mich gewannen drei gegenüber wohnende Brüder von Ochsenstein, hinterlassene Söhne des verstorbenen Schultheißen, gar lieb und beschäftigten und neckten sich mit mir auf mancherlei Weise.
Die Meinigen erzählten gern allerlei Eulenspiegeleien, zu denen mich jene sonst ernsten und einsamen Männer angereizt. Ich führe nur einen von diesen Streichen an. Es war eben Topfmarkt gewesen, und man hatte nicht allein die Küche für die nächste Zeit mit solchen Waren versorgt, sondern auch uns Kindern dergleichen Geschirr im kleinen zu spielender Beschäftigung eingekauft. An einem schönen Nachmittag, da alles ruhig im Hause war, trieb ich im Geräms mit meinen Schüsseln und Töpfen mein Wesen, und da weiter nichts dabei herauskommen wollte, warf ich ein Geschirr auf die Straße und freute mich, daß es so lustig zerbrach. Die von Ochsenstein, welche sahen, wie ich mich daran ergetzte, daß ich so gar fröhlich in die Händchen patschte, riefen: »Noch mehr!« Ich säumte nicht, sogleich einen Topf und, auf immer fortwährendes Rufen: »Noch mehr!« nach und nach sämtliche Schüsselchen, Tiegelchen, Kännchen gegen das Pflaster zu schleudern. Meine Nachbarn fuhren fort, ihren Beifall zu bezeigen, und ich war höchlich froh, ihnen Vergnügen zu machen. Mein Vorrat aber war aufgezehrt, und sie riefen immer: »Noch mehr!« Ich eilte daher stracks in die Küche und holte die irdenen Teller, welche nun freilich im Zerbrechen noch ein lustigeres Schauspiel gaben; und so lief ich hin und wider, brachte einen Teller nach dem andern, wie ich sie auf dem Topfbrett der Reihe nach erreichen konnte, in gleiches Verderben. Nur später erschien jemand, zu hindern und zu wehren. Das Unglück war geschehen, und man hatte für so viel zerbrochne Töpferware wenigstens eine lustige Geschichte, an der sich besonders die schalkischen Urheber bis an ihr Lebensende ergetzten.
Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit
Stifter:
Ich fand mich einmal wieder in dem Entsetzlichen, Zugrunderichtendem, von dem ich oben gesagt habe. Dann war Klingen, Verwirrung, Schmerz in meiner Hand und Blut daran, die Mutter verband mich, und dann war ein Bild, das so klar vor mir jetzt dasteht, als wäre es in reinlichen Farben auf Porzellan gemalt. Ich stand in dem Garten, der von damals zuerst in meiner Einbildungskraft ist, die Mutter war da, dann die andere Großmutter, deren Gestalt in jenem Augenblicke auch zum ersten Male in mein Gedächtnis kam, in mir war die Erleichterung, die alle Male auf das Weichen des Entsetzlichen und Zugrunderichtenden folgte, und ich sagte: »Mutter, da wächst ein Kornhalm.«
Die Großmutter antwortete darauf: »Mit einem Knaben, der die Fenster zerschlagen hat, redet man nicht.« Ich verstand zwar den Zusammenhang nicht, aber das Außerordentliche, das eben von mir gewichen war, kam sogleich wieder; die Mutter sprach wirklich kein Wort, und ich erinnere mich, daß ein ganz Ungeheures auf meiner Seele lag, das mag der Grund sein, daß jener Vorgang noch jetzt in meinem Inneren lebt.
Adalbert Stifter, Mein Leben
Freud:
In jeder psychoanalytischen Bearbeitung einer Lebensgeschichte gelingt es, die Bedeutung der frühesten Kindheitserinnerungen in solcher Weise aufzuklären. Ja, es ergibt sich in der Regel, daß gerade diejenige Erinnerung, die der Analysierte voranstellt, die er zuerst erzählt, mit der er seine Lebensbeichte einleitet, sich als die wichtigste erweist, als diejenige, welche die Schlüssel zu den Geheimfächern seines Seelenlebens in sich birgt. Aber im Falle jener kleinen Kinderbegebenheit, die in Dichtung und Wahrheit erzählt wird, kommt unseren Erwartungen zu wenig entgegen. […] So hatte ich denn das kleine Problem längst aus meinen Gedanken fallenlassen, als mir der Zufall einen Patienten zuführte, bei dem sich eine ähnliche Kindheitserinnerung in durchsichtigerem Zusammenhange ergab. Es war ein siebenundzwanzigjähriger, hochgebildeter und begabter Mann, […] Als er noch nicht vier Jahre war, wurde ein – heute noch lebender – Bruder geboren, und in der Reaktion auf diese Störung wandelte er sich zu einem eigensinnigen, unbotmäßigen Jungen, […] Dieser Patient berichtete nun, daß er um die Zeit des Attentats gegen das ihm verhaßte Kind einmal alles ihm erreichbare Geschirr aus dem Fenster des Landhauses auf die Straße geworfen. […] Wir könnten uns also die Meinung bilden, das Geschirrhinauswerfen sei eine symbolische, oder sagen wir es richtiger: eine magischeHandlung, durch welche das Kind (Goethe sowie mein Patient) seinen Wunsch nach Beseitigung des störenden Eindringlings zu kräftigem Ausdruck bringt. […] Wenn wir nun zur Kindheitserinnerung Goethes zurückkehren und an ihrer Stelle in Dichtung und Wahrheit einsetzen, was wir aus der Beobachtung anderer Kinder erraten zu haben glauben, so stellt sich ein tadelloser Zusammenhang her, den wir sonst nicht entdeckt hätten. Es heißt dann: Ich bin ein Glückskind gewesen; das Schicksal hat mich am Leben erhalten, obwohl ich für tot zur Welt gekommen bin. Meinen Bruder aber hat es beseitigt, so daß ich die Liebe der Mutter nicht mit ihm zu teilen brauchte. Und dann geht der Gedankenweg weiter, zu einer anderen in jener Frühzeit Verstorbenen, der Großmutter, die wie ein freundlicher, stiller Geist in einem anderen Wohnraum hauste.
Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und Wahrheit«
Schnitzler:
In den sechziger Jahren wohnten meine Großeltern im Carltheatergebäude, so daß meine theatralischen Erlebnisse schon aus diesem äußeren Grunde zu einer besonders frühen Epoche anheben. Das erste, das ich zu berichten habe, wäre allerdings sehr bedingt als ein eigentlich theatralisches zu bezeichnen. Es bestand nämlich darin, daß ich als zwei- oder dreijähriges Kind aus einem Fenster der großelterlichen Wohnung einen Operngucker auf die Straße hinunterwarf. Doch wurde es mir später im engeren Familienkreise so oft als ein symbolisches oder zum mindesten vorbedeutendes wiedererzählt, daß ich selbst nahe daran war, es recht unlogischerweise als ein solches aufzufassen.
Arthur Schnitzler: Jugend in Wien