Schnitzlers Sekrete

(Ausschnitt aus der Dissertation Arthur Schnitzlers Tagebuch (1879 – 1931). Funktionen, Strukturen. und Räume.)

Sein schönster Augenblick war der, wenn er von Bozena wegging und es hinter sich hatte, denn es war ihm nur um den Besitz der Erinnerung zu tun.

R. Musil, Zögling Törleß

Schnitzler führte einige Zeit relativ genau Buch über seine Affären, so genau, daß er über Jahre hinweg auch die Zahl der dabei zustande gekommenen Orgasmen verzeichnete. Vom Oktober 1887 [☞ 1] bis zum August 1892 notiert er (wobei es zu kleineren Unregelmäßigkeiten, zumindest beim Addieren, kommt) scheinbar stattgefunden habende Höhepunkte sehr penibel, zumeist auch streng getrennt nach den betroffen gewesenen Frauen; beispielsweise heißt es (er fügte eigens neben den ›normalen‹ Tagebuch-Eintragungen auch – von ihm so genannte – »Chroniken« an, die diesbezüglich Auskunft und Überblick geben) nach der Chronik des Jänners 1890 addierend: »J. 1 563 [/] Mz. 4. 35 [/] (au!)«. »J.« steht für Jeanette Heeger, »1« für die Anzahl der im Jänner 1890 stattgefunden habenden Orgasmen Schnitzlers, »563« für die Gesamtzahl im Laufe ihrer Beziehung, »Mz.« für Marie Glümer und die daran angefügten Zahlen haben dieselbe Entsprechung wie im Falle Heeger. Übrigens ist dies auch der Monat, in dem Schnitzlers Beziehung zu Jeanette Heeger abklingt.

Schnitzler gibt sich selbst kokett Rechenschaft, notiert etwa unter dem Datum des 4/VIII/1890 – wo er auch festhält, daß Heeger nunmehr verheiratet sei und Geld von ihm wolle –: »Meine impertinente Sinnlichkeit. Wenn ich eine Reihe von Tagen keusch war, 6-9 sind so das Maximum, so bin ich einfach ein Thier.« [☞ 2]

Gleichzeitig ist eine vehemente Versachlichung von Erotik und Sexualität gegeben. [☞ 3] Nur an ganz wenigen Stellen finden sich Kommentare und Anmerkungen, die über den bloßen Charakter der Häufung hinausgehen. Diese sind eher unbestimmt gehalten, dürften eher zur Markierung der Atmosphäre wie des Gesamteindrucks des jeweiligen Tages bzw. Abends angefertigt werden. [☞ 4] Indem Schnitzler im Zuge der Anfertigung dieser ›Orgasmustabellen‹ somit jegliches persönliche (gar intime) Moment eliminiert, entsteht eine nüchterne Buchhaltung, die den Anschein des peniblen Verzeichnens etabliert. Zwischen Oktober 1887 und August 1892 notiert Schnitzler 563 Orgasmen mit Jeanette Heeger und 400 mit Marie Glümer, wobei diese Zahlen nur als ungefähre Richtlinie angesehen werden können. Hinsichtlich der Frequenz wäre noch zu ergänzen, daß in den genannten Zeitraum lange Sommerfrischen und ausgedehnte Reisen ins Ausland fielen. [☞ 5]

Schnitzler steht mit der diesbezüglichen Eintragungsobsession – wie oben kursorisch angedeutet – keineswegs allein. Es sind beide Bereiche gegeben, so, als ob der Schreiber beide Möglichkeiten des notationswürdigen Akts nützen wollte. Zum einen stellte er Resümees und Reflexionen an, notiert sich sogar die Beobachtung vom »Köpfchen, wenn es schon mit dem halb zerrauften Haar aus dem Bette hervorlugt.« (26/III/1883); andererseits ist die Überpräzisierung der sexuellen Energie und ihrer Erscheinungsformen im Zusammenhang mit der – noch nicht zur Kontinuität geführten und von weitreichender Anerkennung nicht ausreichend betroffenen – literarischen Arbeit zu sehen. Die ›Orgasmustabellen‹ wären somit eine Form konstanter physischer Leistungsschau (wofür auch der Ansatz einer Summierung, die Addition zum Monats- und Jahresende spricht), die für das geistige Gebiet der Literatur noch nicht hinreichend gegeben werden kann.


☞ 1: »27/10 Donnerstag. Jeanette bei mir. Nacht 4.– (100.)« (27/X/1887)

☞ 2: Dieser Eintrag ist Teil des TAGes 10/VIII/1890, an dem primär Überlegungen zum Verhältnis Mann-Frau, zur psychologischen Beschaffenheit von Frauen und – davon ausgehend – Selbstanalysen und Bemerkungen zum Tagebuch festgehalten werden. Mit einer solchen hinterfragt eingangs bereits das Tagebuch-Ich den Schreibanlass: »Ich habe ein sonderbares Bedürfnis, mich psychologisch festzuhalten. Warum? Um ein wenig Ordnung in mein gequältes Nervensystem zu bringen? Aus Eigenliebe? Aus literarischem Interesse?–«

☞ 3: Diese Beobachtung stellte bereits Werner Welzig an, der die oberflächlich leidenschaftslos wirkende Notationsweise mit dem Bereich literarischer Arbeit konfrontiert, gleichsam ›Rechenschaftsberichte‹ sieht (cf. Welzig, Werner: Das Tagebuch Arthur Schnitzlers. 1879–1931. In: Inter­natio­nales Archiv für Sozial­geschichte der deutschen Literatur. Bd. 6. (1981), S. 78–111, hier S. 90f.). 

☞ 4: So ein frühes Notat aus 1880, in dem der Schreiber musikalische Termini und die ver­schie­de­nen Formen an Empfindungen zusammenzubringen sucht: »[W]ir [versicherten] uns 3-4 dutzend Mal unsrer glühenden Liebe – ein Thema, das sich wie kein andres in Variationen, die nie ermü­den, durchführen lässt. Es läßt sich variiren als adagio (schmachtende Worte), largo (innige Blicke) alle­gretto grazioso (Lächeln), allegro (Innigkeit und ein Hauch von Leidenschaft), allegro appass. (lei­den­schaftlicher Kuss). Ein Liebesgespräch ist aber zumeist ein Canon: eine Stimme wiederholt, was die andre schon gesagt hat.–« (12/I/1880)

☞ 5: Cf. hinsichtlich der diversen Bedeutungspotentiale von Sexualität in Tagebüchern und priva­timen Aufzeichnungen Schneider, Manfred: Chiffrierte Sekrete. In: kultuRRevolution Nr. 24 (Januar 1991), S. 59–63. Chiffren sind weniger eine Form des ›Ausdrucks­präservativs‹; vielmehr können sie als Ausdruck des fruchtbaren Umgangs mit einem fiktiven oder real repres­si­ven System angesehen werden. – Cf. diesbezüglich etwa den Autor und Mediziner Géza Csáth (Tagebuch 1912–1913. Übers. v. Hans Skirecki. Berlin: Brinkmann & Bose 1990), dessen präzise Notate über seine Drogensucht und sonstige körperliche Obsessionen eine außerordentliche Textqualität zu entfalten wissen.