Brief an die Söhne

Wenn der junge Mann, welcher sich den juridisch-politischen Studien gewidmet und am Ausgangspunkte seiner Studienbahn den nicht minder ehrenvollen als erhabenen Beruf gewählt hat, an den Regierungsgeschäften sich zu betheiligen und hiefür dem Staate und dessen Oberhaupte, dem Landesfürsten und Allerhöchsten Regenten, zu dienen; – wenn in dieser Tendenz der junge durch die Fakultätsstudien theoretisch herangebildete angehende Staatsbeamte seinen hohen Beruf mit Begeisterung erfaßt, und in den lebendigsten Vorsätzen für treue Pflichterfüllung im Dienste des Staates und für felsenfeste Anhänglichkeit an seinen Allerhöchsten Herrn erglüht; wenn mit solchen Gefühlen und Vorsätzen der junge Mann seine Laufbahn als Staatsbeamte betritt: er wird es gleich an der Schwelle seines dienstlichen Tempels gewahr werden, daß die selbst glänzend zurükgelegten theoretischen Fakultätsstudien nicht ausreichen, um sogleich nach den Erfordernissen des Dienstes den Platz vollkommen auszufüllen, auf welchem er sich als nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft, als wirksamer Beamte des Staates, als treuer Diener des Allerhöchsten Landesfürsten, als Werkzeug der göttlichen Vorsehung im Laufe der gewählten Dienstbahn erweisen und bewähren will.
Was der eingetretene junge Staatsbeamte gleich im Beginn seiner Berufspflichten nothwendig bedarf, um denselben zu entsprechen, um seine schönen Vorsätze zur Reife zu bringen, um sich bald zu einem vollkommen brauchbaren Staatsbeamten heranzubilden: das bringt er nicht von der Universität mit, das lehren nicht die Fakultätsstudien, das will und muß erst in der dienstlichen Verwendung selbst, muß auf dem Felde der Dienstprax, muß im lebendigen Verkehr mit den Akten und Einrichtungen der Aemter erlernt und als gut verwendbare Kenntniß erworben werden.
Wohl ist es zunächst die natürliche Obliegenheit des Amts- oder Bureau-Vorstehers, welchem der junge angehende Staatsbeamte nach den jeweiligen staatlichen Einrichtungen zur dienstlichen Verwendung zugewiesen wird, denselben in die Amtsgeschäfte einzuführen. Allein wer kennt nicht die Unmöglichkeit einer solchen Aufgabe für jeden Amts- oder Bureau-Vorsteher? Selbst mit umfangreichen Amtsgeschäften beladen und für deren unaufgehaltenen geregelten und raschen Fortgang streng verantwortlich, wird es ihm zur offenbaren Unmöglichkeit, dem jungen Beamtenkandidaten zum Behufe seiner Einführung in die nöthige geläufige amtliche Bewegung, außer den unerläßlichen wesentlichsten Andeutungen und Approvazionsbemerkungen noch zeitraubende Detailunterweisungen zu ertheilen, und diese vielleicht in kurzer Zeit an einem neuen Nachfolger zu wiederholen und abermal zu wiederholen.
 Eine gleiche Unmöglichkeit zu derlei Detailunterweisungen waltet bei den Amts- und Bureau-Genossen ob, welche der junge Beamtenkandidat bei seinem Dienstantritte im Amte findet, da dieselben in gleicher Art mit der Lösung ihrer eigenen Amtsaufgaben ihre ganze Zeit ausfüllen.
So bleibt also der eintretende junge Beamte zur Auffassung seiner Aufgabe, zur Aneignung der nöthigen Sicherheit und Geläufigkeit für die Lösung derselben, zur Entwiklung in seiner Berufssphäre, und zur Ausbildung und endlichen Vollendung für seine wichtige Bestimmung in nachkommender Zeit, meist auf sich selbst beschränkt. Seiner eigenen Wahrnehmung, seinem Beobachtungsgeiste, seiner Umschau, und seinem Fleiße bleibt es zunächst und zumeist überlassen, wie der junge angehende Beamte sich in die Verrichtungen des Dienstes einfindet, welchen Grad der Brauchbarkeit seine gleich anfänglichen Leistungen haben, welche Hoffnungen für die Zukunft sowohl für den Dienst als auch für sich selbst der junge Neuling anregt, welchen Namen und Qualifikazion er sich gleich beim ersten Betreten seiner dienstlichen Laufbahn sichert, und in welchem Grade fest er schon da den Grund zu seinem Glüke legt und den Weg zu seinem künftigen Einflusse im Staate sich ebnet.
Von dieser den eintretenden Neulingen im Staatsdienste gleich im Momente des Antrittes ihrer Laufbahn aufstoßenden Schwierigkeit und Bedrängniß nur zu sehr überzeugt, fand ich zunächst im eigenen Familienkreise Anlaß und Motiv , den Weg zu zeigen und anzubahnen, welcher zur leichteren, schnelleren und sichereren Ueberwindung dieser Schwierigkeiten führt.
Was ich für diesen Zwek meinen dem a.h. Staatsdienste nach eigener Standeswahl gewidmeten Söhnen vorbereitet, was ich ihnen mündlich und schriftlich dafür an die Hand und auf ihre Wanderung in die noch unbekannten weiten Kreise ihres öffentlichen Lebens mitgegeben habe: es ist das angesammelte Resultat meiner langjährigen dienstlichen Erfahrungen, es ist der lebendig empfundene Ausdruk meiner innersten Ueberzeugung aus offenem Einblik in das Beamtenleben, es sind die wohlgemeinten beachtenswerthen Worte des Vaters an seine Söhne. […]
Dieser Umschau nach Gelegenheiten für zu sammelnde Erfahrungen muß der Fleiß, der beharrlichste Fleiß in der dienstlichen Verwendung an der Hand gehen, muß vollenden, was jede Anleitung nur beginnen kann.
Nur eine in solcher Art fruchtbare Amtsthätigkeit führt zu dem Ziele, welches sich der junge Beamte bei seinem Eintritt in den Staatsdienst gesetzt hat.
Hiezu nun sollen meine hier gegebenen grundsätzlichen Winke den Beamtenjüngern eine kleine Beihilfe sein.
Gereiste Geschäftsmänner aber, von denen mein vorliegendes Werkchen des Durchblikes gewürdigt zu werden die Ehre haben wird, mögen – um was ich freundlichst bitte – die Güte haben, den Standpunkt von welchem, und das eigentliche Publikum für welches dieses Werkchen geschrieben ist und in das öffentliche Leben trat, bei dessen Beurtheilung nicht zu übersehen.
Auch muß ich zum näheren Verständnisse der vorstehenden kleinen Schrift noch die Bemerkung beifügen, daß ich hiebei vorzugsweise von dem Standpunkte des politisch-administrativen Dienstes ausgegangen bin.
Prag im Monate April 1857.

Obentraut, Maximilian: Grundsätzlicher Leitfaden für angehende junge Beamte in praktischen Umrissen I. Über den amtlichen Geschäftsstyl, II. Über die amtlichen Geschäftsformen, III. Über die notwendigen Eigenschaften eines Beamten. Prag 1857, S. IX–XVI. [Anm.: gewidmet »Meinen Söhnen Adolf, Max und Johann, als unentbehrlicher grundsätzlicher Leitfaden zu ihrem Eintritte in den a.h. Staatsdienst.«]