Es ist eine der wichtigsten kulturellen Organisationsfragen, die Reichtümer unserer großen Büchereien umfassender und durchdringender zu erschließen. Die üblichen Band- und Zettelkataloge genügen mit ihrer alphabetischen Ordnung der Verfasser zwar für den Bibliothekar, aber nicht für den Benützer, und die sogenannten Sachkataloge mit ihrer Zusammenfassung nach Materien, Stichwortkatalogen und dergleichen erlauben – abgesehen davon, daß sie gerade den größten Bibliotheken oft fehlen – die Orientierung eigentlich auch nur dem, der sie auf dem durchsuchten Gebiet halbwegs schon besitzt. Der gelehrten, im Gebiet sich gewöhnlich beschränkenden Forschung wird dieser Nachteil weniger fühlbar, als dem sogenannten freien Schriftsteller, welchen menschliche und gesellschaftliche Fragen häufig zu Querbezügen durch verschiedene Wissensgebiete zwingen. Die Unmöglichkeit, sich rasch und richtig zu orientieren, liegt auf der Hand, und Oberflächlichkeit ist ihre Folge. Der freie Schriftsteller ist darin aber nur der Exponent des Menschen überhaupt, der sich über seine engste Tätigkeit hinaus ein Urteil über die ihn bewegenden Fragen bilden will. Für ihn, wenn er nicht auf jedem Spezialgebiet und in jeder Bibliotheksabteilung einen wohlwollenden Freund hat, ist nicht gesorgt. In dieser, meiner Meinung nach über die Zukunft der Demokratie mitentscheidenden Frage, bildet der Bibliotheksdienst natürlich nur einen Ausschnitt; immerhin sind entsprechende Erkenntnisse auf dem Gebiet der Volksbüchereien schon zu verwirklichen gesucht worden, und auch im Bereich des gelehrten Buchdienstes scheint sich allmählich eine andere Auffassung von den Aufgaben des Bibliothekars, als es die eines registrierenden Kammerdieners des Wissenschaft war, anzubahnen.
Robert Musil: »Komödie«. Theaterausstellung der Wiener Nationalbibliothek [Prager Presse v. 10. Juni 1922]. In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. II: Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 1588f., hier S. 1588.