Grenzobjekte

In der Folge drei Ausführungen von Susan Leigh Star, betreffend v.a. ihre Boundary Objects/Media, die Grenzobjekte, zu denen sie auch Formulare/Etiketten zählt und für die sie Bruno Latours Begriff von den »Immutable Mobiles« heranzieht. Diesen kritisiert sie jedoch, wie Sebastian Gießmann und Nadine Taha feststellten:

In diesem Hin-und-Her liegt auch eine entscheidende medientheoretische Pointe. Obwohl die »immutable mobiles« Bruno Latours in die minimale Klassifikation von Grenzobjekten als Teil der ›Formulare/Etiketten‹ mit aufgenommen wurden, ist doch deren Formstabilität – mit der die logistische Verschickung und Übersetzung über große Distanzen realisiert wird – von Star erheblich in Zweifel gezogen worden. Die ›unveränderlich mobilen Elemente‹ seien eher als Resultat ständiger Neu-Übersetzungen und Transformationen aufzufassen: »[W]e can think of immutable mobiles as traveling along a path of work, where the tensions between mutability and immutability are managed in every situation.« […] Im Gegensatz zu Latours eher postalisch-analogen, an der Geltung wissenschaftlicher Inskriptionen geschulten Verständnis der immutable mobiles basieren Stars Grenzobjekte ebenso auf ihren zeitgenössischen Ethnografien der Forschungen zu Verteiler Künstlicher Intelligenz, Agentensystemen, Büroarbeit und computerbasierter Entwurfsprozesse. Das fortwährende Versionieren und Aktualisieren von Informationen ist dabei aber unabhängig von der Materialität der verwendeten Medientechniken konzeptionalisiert – mit der jedoch in der Praxis die jeweiligen situierten Re-Repräsentationen vorgenommen werden. So bearbeitete Grenzobjekte sind jedoch keineswegs unabhängig von ihren material-semiotischen Grundlagen. Sie verfügen aber über keine generelle, apparativ-instrumentelle oder wahrnehmungsbasierte Medienspezifik. Deutlich wichtiger ist hier der informationelle Charakter der vermittelnden Praktiken zwischen sozialen Welten. Kurz gesagt: Grenzobjekte handeln von einer situierten Vermittlungsspezifik des Sozialen, nicht aber von einer globalen Medienspezifik. […] Grenzobjekte haben ohne Zweifel an dieser vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts grassierenden Informationsmythologie teil, aber sie reduzieren diese auf die Schritt für Schritt vorgehende organisatorische Bearbeitung und Weitergabe. Innerhalb der von Star bevorzugt untersuchten Ökologie von Institutionen bestehen ›Informationen‹, wenn sie re-repräsentiert, d.h. gezeigt, artikuliert, gesehen, gehört, geschrieben, gelesen, berechnet und gerechtfertigt werden. Oder, in ihren eigenen Worten:

Sebastian Gießmann, Nadine Taha: »Study the unstudied«. Zur medienwissenschaftlichen Aktualität von Susan Leigh Stars Denken. In: Susan Leigh Star. Grenzobjekte und Medienforschung. Hg. v. SG/NT. Bielefeld: transcript 2017 (Locating Media/Situierte Medien Bd. 10), S. 13–77, hier S. 38–40.

»[W]e have long had models of signals and targets, background noise and filters, degradation of signals and quality controls. It becomes new, however, when people are added as active interpreters of information, who themselves inhabit multiple contexts of use and practice. What becomes problematic under these circumstances is the relationship between people and things, or objects, the relationship that creates representations and not just noise. Information is only information when there are multiple interpretations. One person’s noise may be another’s signal, or two people may agree to attend to something – but it is the tension between contexts that actually creates representation. […] The medium of an information system is not just wires and plugs, bits and bytes, but also conventions of representation, information both formal and empirical. A system becomes a system in design and use, not the one without the other. The medium is the message, certainly, and it is also the case that the medium is a political creation.«

Susan Leigh Star: Misplaced Concretism and Concrete Situations. Feminism, Method and Information Technology. Universität Odense 1994 (Gender-Nature-Culture Feminist Research Network Series 11), S. 151.

Alsdann 4 Arten von Grenzobjekte, darunter die Formulare. Danach aus einem zehn Jahre später entstandenen Artikel die spezifische Ausweitung der Formulierungen plus eine Skizze.

[…] stießen wir auf vier Arten von Grenzobjekten. Sie bilden keineswegs eine vollständige Liste, sondern stellen nur analytische Unterscheidungen dar, und zwar in dem Sinn, dass wir es hier eigentlich mit Systemen von Grenzobjekten zu tun haben, die ihrerseits heterogen sind.

  1. Repositorien. Dies sind geordnete »Stapel« von Objekten, die auf eine standardisierte Weise indiziert sind. Magazine werden angelegt, um Probleme von Heterogenität zu bewältigen, die durch Unterschiede in der Analyseeinheit verursacht werden. Beispiele für ein Repositorium sind eine Bibliothek oder ein Museum. Sein Vorzug liegt in seiner Modularität. Personen aus unterschiedlichen Welten können Dinge aus dem »Stapel« für ihre eigenen Zwecke benutzen oder leihen, ohne Zweckunterschiede direkt verhandeln zu müssen.
  2. Idealtypus. Dies ist ein Objekt wie etwa ein Diagramm, ein Atlas oder eine andere Beschreibung, die eigentlich die Details eines Ortes oder Dings nicht genau beschreibt. Sie ist von allen Bereichen abstrahiert und kann ziemlich vage sein. Doch gerade weil sie ziemlich vage ist, lässt sie sich an einen lokalen Ort anpassen; sie dient als symbolisch verfertigtes Kommunikations- und Kooperationsmittel – als eine ›ausreichende‹ Karte (road map) für alle Parteien. Ein Beispiel für einen Idealtypus ist die ›Art‹. Dies ist ein Begriff, der eigentlich kein einzelnes Exemplar beschrieb, der sowohl konkrete wie theoretische Daten um- fasste und der als Kommunikationsmittel für beide Welten diente. Idealtypen entstehen mit unterschiedlichem Abstraktionsgrad. Sie führen zur Beseitigung lokaler Zufälligkeiten aus dem gemeinsamen Objekt und haben den Vorteil der Anpassungsfähigkeit.
  3. Sich überlagernde Grenzen (coincident boundaries). Dies sind gemeinsame Objekte, die in der Regel die gleichen Grenzen, aber unterschiedliche Inhalte haben. Sie entstehen, wenn Daten mit unterschiedlichen Mitteln gesammelt werden und wenn Arbeit über ein großräumiges geografisches Gebiet verteilt wird. Dies führt dazu, dass Arbeit an verschiedenen Stätten und mit unterschiedlichen Perspektiven autonom durchgeführt werden kann, während kooperierende Parteien ein gemeinsames Bezugsobjekt haben. Der Vorteil ist, dass unterschiedliche Ziele erreicht werden. Ein Beispiel für sich überlagernde Grenzen ist die Entstehung des Staates Kalifornien selbst als ein Grenzobjekt für Arbeiter am Museum. Die Karten von Kalifornien, die von den Amateursammlern und den Naturschützern geschaffen wurden, glichen uns allen vertrauten Straßenkarten und hoben Lagerstätten, Pfade und Orte fürs Sammeln hervor. Die von den professionellen Biologen geschaffenen Karten hingegen hatten zwar denselben Umriss des Staates (mit denselben geopolitischen Grenzen), waren aber ausgefüllt mit einer hoch abstrakten, ökologisch basierten Reihe schraffierter Gebiete, die »Lebenszonen« darstellten, also ein ökologisches Konzept.
  4. Standardisierte Formulare. Dies sind Grenzobjekte, die als Methoden der gemeinsamen Kommunikation zwischen verstreuten Arbeitsgruppen entwickelt werden. Weil die Naturkundearbeit an weit verteilten Orten von einer Reihe unterschiedlicher Personen durchgeführt wurde, waren standardisierte Methoden wichtig, wie wir bereits dargelegt haben. So bekamen z.B. die Amateursammler ein Formular, das sie ausfüllen mussten, wenn sie ein Tier erbeuteten, und das hinsichtlich der gesammelten Informationen standardisiert war. Die Ergebnisse dieser Art von Grenzobjekt sind standardisierte Indizes und das, was Latour »immutable mobiles« nennen würde (Objekte, die über eine lange Strecke transportiert werden können und unveränderliche Informationen vermitteln). Solche Objekte haben den Vorteil, dass lokale Unsicherheiten – z.B. beim Sammeln von Tierarten – beseitigt werden.

Susan Leigh Star, James R. Griesemer: Institutionelle Ökologie, ›Übersetzungen‹ und Grenzobjekte. Amateure und Professionelle im Museum of Vertebrate Zoology in Berkeley, 1907–39. In: Susan Leigh Star. Grenzobjekte und Medienforschung. Hg. v. Sebastian Gießmann u. Nadine Taha. Bielefeld: transcript 2017 (Locating Media/Situierte Medien Bd. 10), S. 81–115, hier S. 106f.
Erstveröffentlichung: Star, Susan L./Griesemer, James R.: Institutional Ecology, ›Translations‹ and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907–39. In: Social Studies of Science 19/3 (1989), S. 387–420.


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Formulare und Etiketten
Bei diesen handelt es sich um Grenzobjekte, die als Methoden gemeinsamer Kommunikation zwischen verstreuten Arbeitsgruppen entwickelt wurden (siehe Abbildung 4).

Sowohl in der Neurophysiologie als auch in der Biologie fand die Arbeit an hochgradig verteilten Orten statt und wurde von einer Reihe verschiedener Personen durchgeführt. Wenn Amateursammler ein Tier erbeuteten, waren sie mit einem standardisierten Formular ausgerüstet. Im Krankenhaus war es ähnlich: Nachtwächter bekamen Formulare ausgehändigt, in denen sie Daten über die epileptischen Anfälle und die entsprechenden Symptome eines Patienten auf standardisierte Weise aufnehmen sollten. Diese Informationen wurden später auf eine größere Datenbasis übertragen, die von klinischen Forschern bei dem Versuch zusammengetragen wurden, Theorien der Funktion des Gehirns und Nervensystems aufzustellen. Die Ergebnisse dieses Grenzobjekttyps sind standardisierte Indizes und das, was Latour »immutable mobiles« nennen würde – Objekte, die über eine weite Distanz transportiert werden können und unveränderliche Information aufweisen. Die Vorzüge solcher Objekte liegen in der Löschung lokaler Unsicherheiten, wie z. B. beim Sammeln von Tieren oder bei der Beobachtung epileptischer Anfälle. Etiketten und Formulare können Teil von Repositorien werden, oder auch nicht.

Susan Leigh Star: Die Struktur schlecht strukturierter Lösungen. Grenzobjekte und heterogenes verteiltes Problemlösen. In: Susan Leigh Star. Grenzobjekte und Medienforschung. Hg. v. Sebastian Gießmann u. Nadine Taha. Bielefeld: transcript 2017 (Locating Media/Situierte Medien Bd. 10), S.131–150, hier S. 145f.
Erstveröffentlichung: Star, Susan L.: The Structure of Ill-Structured Solutions. Boundary Objects and Heterogeneous Distributed Problem Solving. In: Les Gasser/Michael N. Huhns (Hg.): Distributed Artificial Intelligence Vol. 2, London/San Mateo, CA: Pitman, Morgan Kaufmann 1999, S. 37–54.