Buchseiten

Seiten lassen sich, gemäß der auf die beschriebene Vorder- sowie die unbeschriebene Rückseite der Schriftrolle Bezug nehmende Papyrologie, nach recto beziehungsweise verso unterscheiden. Wesentlich ist dabei sowohl für die Schriftrolle als auch das Buch mit seiner Bindung die »Festsetzung« der Seite, d.h. der je bestehende Bezugsrahmen. Um nun in jenem des gedruckten Buches zu bleiben: recto eröffnet mit dem Umblättern, dem seitenweisen manuellen Akt und der Überwindung des feinen haptischen Widerstands, den neuen Blick auf verso und recto, ändert den jeweils wahrnehm- und in Folge verarbeitbaren Seitenraum. Dieser ist seinerseits nicht ohne den Buchkörper zu denken. Die Seiten stecken einen Raum ab und sind ihrerseits Teil des Buchmaßes. Gerade wenn ein Satz schier nicht enden will, macht das Blättern über Seiten hinweg erst deutlich, weshalb dieser bestimmte Satz dieser spezifischen Länge bedarf. Das Umblättern führt dem Satz und seinen Worten mit wahrstem Sinn zusätzliches Gewicht zu. Derartige Sätze künden von einem Anspruch und zugleich von den Bedingungen ihrer Entstehung. Sie und den damit verbundenen Anspruch an die Konzentration vermittels eines elektrifizierten Geräts »abzuscrollen«, eliminiert eine wesentliche Komponente.

Und die Sätze haben eine weitere Funktion: Sie verweisen durch ihre »Buchstaben«, die gedruckten Lettern und Satzzeichen, auf die dem Raum zusätzliche Struktur verleihende Funktion von Satzspiegel und Zeilenraster. Die Komposition der jeweiligen Seiten verrät somit ein je individuelles Maß an Organisationsdiktat und ist Instrumentarium einer Buch-Ordnung. Diese äußert sich auch über Parameter wie die Fixierung der Seiten (Einband, Paginierung, Akt des Blätterns) und die Gestaltung des Raums der Seiten (Weißraum, Zeilendurchschuss, Marginalspalten, Typografie etc.). Davon ausgehend ließe sich die These prüfen, dass unsere Kultur auf einen mittels Bindung zu fixierenden Seitenraum hin angelegt ist.

Die Basis des »Gesamtkonzepts Buch« ließe sich nun stark vereinfacht festsetzen: Der Buchdruck dient dazu (und sein ökonomisches Modell stellt folgerichtig darauf auf), zunächst eine Individualisierung zu verallgemeinern (vom Manu-/Typoskript zum gedruckten Werk), um danach die Massenware den kulturell präformierten Möglichkeiten der Individualisierung anheim zu stellen. Das Angebot der Aneignung (ein Gutteil davon ausgesprochen physische, materiell bedeutsame Zugriffe, die bei den medialen Nachfahren unserer Tage nur sehr bedingt und dann lediglich in der virtuellen Simulation möglich sind) beginnt mit der Möglichkeit des Erwerbs. Danach kommen Materialien und Verfahren wie etwa Lesezeichen, Post-its, Widmungen, Unterstreichungen, Exlibris, Bleistiftstriche, die Kulturtechnik der Marginalien, einfache »Eselsohren«, abgenützte Buchrücken oder auch das Einstellen auf den Regalen zum Zug. Und insofern muten auch fabrizierte Phänomene der Re-Individualisierung, wie etwa Vorzugsausgaben, nicht paradox an. Dem reproduzierten Gegenstand (mit seinen seriellen Merkmalen) soll abweichende und dadurch besondere Bedeutung zugewiesen werden, es geht um Spuren der Aneignung, die nach dem Erwerb gelegt werden. Damit ist der Zweck beidseits erfüllt.

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