Bürotechnik/en. (Ein Vorhaben)

Bürotechnik ist kein Verbrechen!

Anonym; ca. 2023

Bereits in B. Latours Aufsatz Visualization and Cognition. Drawing Things Together (1986), vom Treiben neuzeitlicher Wissenschaft, das an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert sich u.a. in angewandte Medien- und Kulturtechniken der Administration transformiert findet, lassen sich – wie B. Siegert 2003 ausführt – drei epistemologische Prämissen finden: Zum einen geht es um Kulturtechniken des Schreibens, Lesens, Zeichnens, Registrierens, Rechnens und Zählens. Zum anderen ist die Welt der Zeichen und des Symbolischen immer auch eine der Maschinen (z.B. der ›Papiermaschinen‹) bzw. des unbeeinflussbaren und wiederholten Abarbeitens sich wiederholender Aufgaben; hierzu gehören auch verwaltungsdienliche Verfahrensweisen einer Pattern Recognition (mustern, sortieren, scheiden). Schließlich: Zeichenpraktiken sind mit jeweils besonderen – institutionell definierten – Räumen (»Semiotopen«) verknüpft, so etwa: Kanzlei (Büro, Registratur, Archiv), Fabrik, Schiff, Atelier, Labor, Manufaktur, Akademie, &c. 

All dies wird nicht nur für die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Bedeutung, sondern auch wesentlich daran beteiligt sein, wenn aus dem 19. Jahrhundert heraus regelrechte Prozessarchitekturen (»stahlharte Gehäuse der Hörigkeit«?) auch immaterieller Arbeit ausgebildet werden, deren administrative Prozesshaftigkeit rechtsetzend wirkt und in den disassembly und assembly lines der Schlachthöfe und Fließbänder, in der Herstellung von Maschinengewehren und Schreibmaschinen, aber ebenso in der Unternehmensberatung, der Medienregulierung von Kanzleiordnungen wie auch in den Steuerungsvorschriften privatwirtschaftlicher Büros ihre Anwendung und Übertragung findet.

Die hier angezeigte Veranstaltung wird u.a. administrativ genutzte Produktionsmittel und materiell-dinghaft unterstützte Handlungsformen, Interventionen, Prozesse und Entscheidungsfindungen in Comptoirs, Kontoren, Ämtern und Büros thematisieren und »Bürotechnik/en« in mehrfacher Hinsicht adressieren: 

Zunächst Bürotechnik und Gerätschaften im engeren Sinne (Apparate, Anwendungen und Verfahrensmuster), etwa dem einer materiellen Bürokunde (H. Rösler): Welche analogen, elektronischen oder digitalen Geräte, Speicher-, Verarbeitungs- und Kommunikationsmedien kommen in Verwaltungen zum Einsatz, um regelkonform »Schreiben, Rechnen, Ablegen« (D. Gardey) zu praktizieren und die Formen des »Scheidens« (F. Steinhauer) zu gewährleisten? Hier sind zunächst die Schreibgeräte der jeweiligen Zeitläufe zu nennen, dann aber auch die Papiersorten und formatierten Schreibflächen, Aktenordner/-locher ebenso wie Lochkarten (›Stanzungen‹), Stempel bis hin zu elektronischen Signaturen, Verzeichnisse (Indizes, Register, Adressen, Daten), Rechenmaschinen, Telefonapparate, ›Telephone/-gramme‹, Rohrpost bis hin zu Videokonferenz-Tools und AI-Protokollen.

Zweitens Bürotechnik in einem breiter gefassten Sinn, der auch die Apparaturen, Gestelle, Gehäuse und Infrastrukturen mitbedenkt, in denen technische Geräte eingelassen sind und notwendigerweise miteinbezogen Einfluss auf technische Anwendungsmöglichkeiten haben: Hierzu zählen die mit grünem Tuch (frz. Bureau) bespannten Tische, die dem Arbeitsraum erst seinen Namen gaben; aber auch die Schreibpulte, die anfangs schräg gestellt, späterhin zwecks Geldwechsel begradigt wurden, auf denen heute TV-Bildschirmen nachempfundene und wieder schräg stellbare Desktop-Monitore stehen, virtuelle Umgebungen also, die die Tische, auf denen sie platziert sind, verdoppeln und simulieren; ebenso Karteikästen und andere analoge ›Prä-Cloud‹-Varianten wie Rollregale, Aktenschränke, Hängeregistraturen oder Bürocontainer. Es betrifft auch die Oberflächen der Operating Systems und deren Einbettung in virtuelle, simulierte Referenzen (auch die Administration kennt ›Bild im Bild‹ und ›Mise en abyme‹). Wie können (Dis-)Kontinuitäten, Prozesse des Erfolges oder Scheiterns, des Implementieren oder Aufgebens von Bürotechnik beschrieben und interpretiert werden?

Aber auch die in die Architektur eingelassene Haustechnik wie Beleuchtungs- und Belüftungs-, Alarm- und Überwachungs-, Zutritts- und Aufruf- sowie Zeiterfassungssystemen (einschließlich virtueller) zählen, drittens, zum Themenfeld der technischen Einrichtung, die der moderne Bürobetrieb zu erfordern scheint. Seitens der Betriebe und Verwaltungen, Organisationseinheiten, werden Angestellten Geräte und Räume zur Verfügung gestellt und deren einschlägige Nutzung nicht nur reglementiert anempfohlen, sondern im Regelfall auch trainiert (vgl. »Prozessarchitekturen« bei S. Jany). Diesbezüglich und zugleich demgegenüber lohnte es sich auch, die Bürotechniken beim Mobile und Homeoffice einer Betrachtung zu unterziehen.

Bürotechniken können schließlich, viertens, für Techniken im Sinne eines Könnens stehen, einer Kunstfertigkeit (techné), eingebettet in Praktiken der Verwaltung: Welche Verfahrens- und Interaktionsweisen kommen in Büros und ihrer Geschichte zum Einsatz: Gesprächs-, Verhandlungs-, Management-, Visualisierungs- und Kreativitätstechniken; Techniken der Selbst- und Fremdführung und der Durchsetzung von Entscheidungen (mittels ›second order techniques‹; Th. Macho). Welchen Stellenwert haben die situierte Anwendung und zeitgenössische Adaptionen bereits traditionsreicher Wissensbestände wie jener der Rhetorik oder der Heuristik im Büro? Und welche Vorgehensweisen unterscheiden dabei privatwirtschaftliche Bürotechniken von solchen des öffentlichen Dienstes?

Nähert man sich den Bürotechnik/en in dieser vierfachen Hinsicht – respektive auch nur einer derselben –, können u.a. folgende Blickwinkel, Fragestellungen und Herangehensweisen von Interesse (das meint selbstverständlich auch, dass die Aufzählung keine das Thema ausschöpfende sein kann) bzw. Gegenstand der Spekulation sein:

  • Welche bürotechnischen Enactments normativer Körperbilder (z.B. im Hinblick auf Gesundheit, Krankheit, Leistungsfähigkeit, Vergeschlechtlichung von Strukturen, Medien und Prozessen) lassen sich beschreiben, und welche Körperbilder werden im Design von bürokratischen Medien und Techniken vorausgesetzt?
  • Welches Wissen in was für einer Form wird in der Benützung von Bürotechniken vorausgesetzt? Wie wird es generiert, instruiert und verbreitet? Welche Lernumgebungen (›Bildungslandschaften‹) setzt diese Vermittlung voraus?
  • Welche Transformationen der Verwaltung wird die Bürotechnik angesichts der zunehmenden Deterritorialisierung und Mobilisierung des Büros zu bewerkstelligen haben? 
  • Stehen privatwirtschaftliche und öffentliche Verwaltungen hinsichtlich der Bedarfe an Bürotechnik in einem Konkurrenzverhältnis? Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen den Innovationsansprüchen privatwirtschaftlicher und öffentlicher Verwaltungen? Gibt es hier ein Verhältnis der Konkurrenz oder der Synergie? Welche Unterschiede bestehen in der bürotechnischen Zugriffweise auf ihre jeweiligen Publika? Gewinnen privatwirtschaftliche Unternehmen als Produzenten bürotechnischer Innovationen Definitionshoheit über öffentliche Verwaltungen?
  • Welche Folgewirkungen können Innovationen in der Bürotechnik zeitigen angesichts der – scheint’s – wachsenden Blackbox, in der technische Entwicklung neuer, auch künstlich intelligenter Anwendungen heute stattfinden?  
  • Wie weit muss man die Tücke des Objekts, den Eigensinn der Dinge, die »Existenzweise« technischer Objekte (G. Simondon) in Rechnung stellen? Während die Benutzer:innen Bürotechniken verwenden, um Kontingenz zu kontrollieren und zu reduzieren, produzieren technische Objekte von sich aus erneut Kontingenzen. Kann man mit diesen Elementen der Aufschreibesysteme, Schreib- und sonstigen Geräten, die mitarbeiten an unseren Gedanken (F. Kittler via F. Nietzsche), hinreichend kalkulieren oder wäre es eher hilfreich, hierzu die Figuration des Aktanten in der ANT (B. Latour) zur Beschreibung aufzurufen?
  • Wie wird heute Arbeit (im institutionalisierten Verwaltungsraum, in Homeoffices, an mobilen Büroplätzen …) organisiert, verhält sich Kontrolle und Ordnung zu Organisation?
  • Wie werden mittels ›Bürotechniken‹ Selektion und Referenz hergestellt; wie wird der Umgang mit Machine Habitus (M. Airoldi) und Bias der Algorithmen im 21. Jahrhundert reflektiert?
In der »guten alten Zeit«, etwa um die Jahrhundertwende, war die Arbeitswelt der Angestellten noch in Ordnung. Damals in der Zeit der Kontors waren die Arbeitsplätze, die Tätigkeiten im Büro sehr begehrt. (Bund Deutscher Sekretärinnen [Hg.]: Aufbruch in die Büro-Zukunft, 1982)

Die aus dem angeführten Vorhaben abzuleitende Werkstatt findet am 21. und 22. November 2024 in der Austrian School of Government (Sektion Öffentlicher Dienst, Abt. 12 – Rennweg 97–99, 1030 Wien) statt. Eine Teilnahme ist selbstverständlich – und gerne – möglich; die Anmeldung unter dafür die einzige nennenswerte Voraussetzung.