Zu lesen (und in weiterer Folge normal/kursiv zitiert) sind:
- Klaus Theweleit: POCAHONTAS Bd. 3: Warum Cortés wirklich siegte. Technologiegeschichte der eurasisch-amerikanischen Kolonialismen. Berlin: Matthes & Seitz 2020, S. 178–205.
- Bernhard Siegert: Passagen des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften. Berlin: Brinkmann & Bose 2003, S. 67–99, 431.
Klaus Theweleits letzter Band seiner Tetralogie über den Pocahontas-Komplex (nach TAS, PO und CA nun HON) ist wie jene drei zuvor vorbehaltlos unter ›Pflichtlektüre‹ zu rubrizieren; gleiches gilt für Bernhard Siegerts »Passagen des Digitalen«. Theweleit greift intensiv in die umfängliche Studie hinein, um einen zentralen Punkt der Bürokratisierung der Welt, einer globalisierten Verwaltung, herauszuarbeiten. Alles daran ist richtig, denn Siegert macht einen wesentlichen Punkt in der Geschichte der Medien und Kulturtechniken von Verwaltung lesbar. Andere sind etwa Einführung von Zahlen ab dem Zeitpunkt der unterschiedlichen Land- und Besitznahmen (damit: Verwaltung und Festschreibung von Eigentum), Durchsetzung stabiler Buchstabensysteme, die Festschreibung von Rechtsordnungen, Einrichtung von Archiven (samt Techniken des Bewahrers) und Durchsetzung von Kodizes, Einführung von Rechtsformeln, Installation und Aufrechterhaltung von Postwegen, zunehmend normierte Bildungsvorgaben und -wege, Entwicklung und Verfeinerung von Hofzeremoniellen und Bittgesuchen, Erstellung von Normen & Standardisierungen, Rechensysteme. Wenn sich die neuzeitliche Geschichte der Kulturtechniken Europas (cf. Cetologie, Gehirnphosphor, Bleistift, Codes und Striche) entlang der Bekämpfung der Pest sowie der Durchsetzung grundlegender technischer Errungenschaften (Indienstnahme der Elektrizität zur Verschaltung von Reihen, Zündung des Verbrennungsmotors) und logistischer Verfahrensweisen – Etablierung der Doppelten Buchführung, Einführung des bibliothekarischen Systems, Stratifizierung von Administration im System ›Aktenlauf‹ – schreiben lässt, sind bereits zahlreiche Vorbedingungen erfüllt; mit die wesentlichsten sind durchgesetzte Verwaltungsabläufe, -techniken und vor allem: -medien. Ohne der Vereinheitlichung und Dienstbarmachung von Ausbildungen und Vorschriften zugunsten der Aufrechterhaltung teils durchaus unterschiedlicher Regime wäre dies alles nicht ausbaufähig und überblickter gewesen. (Cf. Stanzungen.) Und was über Jahrtausende hinweg wesentlich durch Einübungen in Körper und Köpfe lief (Training), wurde zunehmend eine Frage der Medien, einer quasi bürokratischen Prothetik, die ihrerseits Rückkopplungen für Nervenschulungen und Kulturreflexe nach sich zog.
Siegert (in der Folge kursiv) zeigte an einem Brennpunkt der Geschichte, dem Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert, was es bedeutet, dass Zeremonielle vereinheitlicht und formalisiert wurden, welche Folgen die Abkehr vom Reisekönigtum hatte, was Globalisierungsabsichten avant la lettre bedeuteten, wozu normierte Ausbildungen dienten, welche Bedeutung Protokollierung und Buchführung gewannen, welche Auswirkung die avancierte Nutzung noch der je Neuesten Medien zeitigte. Die Einrichtung der Casa de la Contratación normierte den Anbruch der Neuzeit. Theweleit (in der Folge normal; von ihm auch die Fußnoten im Anhang) extrapoliert diesen Befund und zieht daraus die notwendigen Schlüsse. Mehrfach handelt er in seinem HON-Band vom »Gehirnsprung« – einen solchen sieht er auch hier, cf. in der Folge ✪. Das, was 1503ff. passierte, ist einer der folgenreichsten gewesen; und medial mit bedingt.
»Am 20. Januar 1503 verfügten die Katholischen Könige zu Alcalá de Henares die Gründung der Casa de la Contratación de las Indias in Sevilla« [✭ 1]. Mit den »Indias« darin sind sowohl Indien als die Amerikas bezeichnet.
Bernhard Siegerts großartige Studie zu den Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften bringt uns dazu, unseren Blick auf die Entstehung insbesondere des spanischen America grundlegend zu verändern. Siegert lenkt den Blick weg von den militärischen Abenteuern der »Entdeckung« und Eroberung Amerikas, weg von den nautischen Abenteuern spanisch-portugiesisch-italienischer Seehelden hin auf ganz andere Gelände und Flüsse: die neuen Welten neu entstehender Bürokratien und die neue Welt des Informationsflusses. Sie erzeugt zuerst eine neue spanische Großstadt:
Die Entscheidung von Ferdinand und Isabella bewirkte den Aufstieg Sevillas zu einem der größten urbanen Zentren Europas im 16. Jahrhundert. Sevilla war das Tor zu einer anderen Welt, der Guadalquivir der »rio América«. Als einziger autorisierter Hafen für den Transatlantik-Handel wurde die andalusische Hauptstadt zum Flaschenhals, durch den nicht nur der gesamte Handel mit den »Indias«, sondern natürlich auch der ganze offizielle Verkehr zwischen den spanischen und den überseeischen sowohl kirchlichen als auch weltlichen Regierungsbehörden abgewickelt wurde. [✭ 2]
Die Casa de la Contratación installierte auf dem Fluß ein dreistufiges Visitationssystem.
Die Casa ist 1503 erstens ein Magazin, wo sämtliche Waren, die nach »den Indien« gehen, und sämtliche Waren, die von »den Indien« nach Spanien kommen, sich unter dem Blick eines spanischen Beamten manifestieren müssen; sie ist zweitens eine Zollstation, wo man eine dem kommerziellen Monopol der Casa entsprechende Kontrolle aus fiskalischer Perspektive ausüben konnte. Das Personal, mit dem die Geschichte der Casa beginnt, besteht nicht aus Juristen oder Chronisten, sondern aus Buchhaltern. (…) Es wird nicht erzählt und geurteilt, sondern gezählt: und zwar Waren, Geld, Menschen und Schiffe. (…) Schreiben ist zählen und zählen ist schreiben.
Zahlen und Buchstaben, selber Segmente, segmentieren »Alles was ist« in Stapel und Kolonnen.
Alles, was ist, lässt sich in Eingangs- und Ausgangsspalten [✭ 3] eintragen. (…) Nicht nur Waren und Edelmetalle – auch Leute und Schiffe. (…) Einlaufende Schiffe werden (mit dem Namen des Schiffes und dem des Kapitäns) unter der Überschrift »Registro de venida«, auslaufende unter der Überschrift »Registro de yda« gebucht. So sind die ersten Akten, die in der Casa archiviert werden, Quadernos, Passagierlisten und Schiffsregister. (72)
Es resultiert nicht weniger als eine neue Wirklichkeitsform:
Amerika ist eine besondere Welt: eine Welt, in der alles abgezählt ist: Waren, Leute, Schiffe, Bücher … Die Casa ist ein staatliches Kontrollmedium, das die zirkulierenden Dinge zwingt, ihr Sein zu manifestieren. Für einen kurzen Aufenthalt im Magazin wird der Tausch unterbrochen, um die Dinge selber, die sonst durch manipulierbare Zeichen vertreten (und verwandelt) werden, erscheinen zu lassen. Was für eine einfache Ordnung: Hier, im Büro, das Buch der (Neuen) Welt, dort, im Magazin, die Dinge der (Neuen) Welt. Les mots et les choses.
In dem kurzen Moment, in dem was auch immer durch den Zwischenspeicher der Casa geschleust wird, wird durch den kontrollieren- den Blick geprüft und besiegelt, dass das, was die flottierenden Zeichen der Zirkulation vertreten, wirklich existiert. Damit nichts in der Neuen Welt sei, dem nicht ein wirklicher Referent entspricht: kein Betrug, keine Fiktion. [✭ 4] (73)
Eine Wirklichkeit, in der sich, erstmals, Zeichen und Dinge komplett decken bzw. decken sollen. Zeichensegmente entsprechen Dingsegmenten. Den Spalten auf dem Papier die Regale in der Lagerhalle. So noch in der Siemens-Lagerhalle in Kiel-Suchsdorf, wo ich jobbte 1963; nur daß die Papierstreifen mit Schriftzeichen gerade übergingen in Lochkarten; meine Aufgabe: die Lochkarten zu entziffern, d.h., das Gelochte in Namen von Teilen und Mengenangaben zu verwandeln (auf einem Schreibgerät, das an die Musikrollen in mechanischen Klavieren mehr erinnerte als an das, was wir heute Computer nennen) und dann an die Regale zu gehen und nachzuzählen, ob die auf der Lochkarte angegebenen Teile und Mengen dort tatsächlich vorhanden waren. Wenn nicht, wurden Lagerchef und Einkaufschef tätig, um die Differenzen auszugleichen. Schöner Ferienjob; und das Prinzip jeder Lagerführung bzw. Inventur bis heute.
Vier Jahre nach ihrer Gründung wuchs der Casa die erste wissenschaftliche Aufgabe zu. Im Oktober 1507 beschloß in Burgos eine Kommission der vier besten Navigatoren Spaniens (Juan de la Cosa, Vicente Yanez Pinzón, Juan Díaz de Solís und Amerigo Vespucci) unter dem Vorsitz König Ferdinands, nicht nur die Gegenstände des Indienhandels durch die Casa de la Contratación kontrollieren zu lassen, sondern auch die Medien dieses Handels und ihre Agenten. Das ist ein wichtiger Moment in der Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaften: Das Kontrollmedium, und mehr war die Casa in den ersten Jahren ihrer Existenz ja nicht, wird autoreferenziell. Unter dem Zwang, die Steuermedien – die Steuerleute und ihre Instrumente – zu standardisieren, lenkt die Kontrolle den Blick auf sich selbst und beginnt, ihre Medien zu optimieren. Am 22. März 1508 wurde Amerigo Vespucci zum ersten Piloto Mayor der Casa de la Contratación ernannt.
Als Experte für die Ausrüstung mit nautischen Instrumenten, Karten und Fahrtrouten stand Vespucci seit dem Februar 1505 in den Diensten der Casa. »Seit 1508, so ordnet es die Ernennungsurkunde Vespuccis an, stehen die spanischen Steuerleute unter der Kontrolle eines beamteten Steuermanns der Steuermänner« (73).
Stichwort: Standardisierung, Konzeptualisierung. Resultat: Erstellung eines Berfufsbilds [sic], das systematisch Kapitäne und Steuerleute mit wissenschaftlichen Qualifikationen generiert. Aus dem Text der Urkunde:
Wegen der Inkompetenz der Piloten, die ihre Schiffe nicht zu regieren und zu beherrschen verstehen und die nicht die Grundlagen besitzen, mit Quadrant und Astrolabium umzugehen, (…) soll niemand ein Schiff fahren dürfen oder von den Schiffsbesitzern an Bord empfangen werden, der nicht vorher durch Euch, Amerigo Vespuche, unserem Piloto Mayor, examiniert wurde und von Euch einen Examinationsbrief und Approbation erhalten hat. (74)
Und mehr: wegen der vielen voneinander abweichenden Karten von der Neuen Welt, ihren Inseln und den Seerouten dorthin, wird Vespucci mit dem Anlegen einer Generalkarte (padron general) beauftragt. All »unsere geschicktesten Steuerleute« sind zu versammeln, so daß man
… in Gegenwart von Euch, dem genannten Amerigo Vespuche, unserem Piloto Mayor, eine Karte von allen Ländern und Inseln der Indien zeichnet, die man bis heute entdeckt hat (…) und dass man mit dem Einverständnis von Euch unseres genannten Piloto Mayor eine Generalkarte zeichne, die Königliche Karte (padron real) genannt werden soll, durch welche alle Steuerleute regiert und geleitet (regir e gobernar) werden sollen (…) und dass kein Steuermann eine Karte benutzen soll, außer einer, die von jener kopiert ist. (74)
Ohne den bürokratischen Apparat, der die Funktionen Datenerhebung, Speichern, Übertragen und Verarbeiten vornimmt, ist diese Karte nicht denkbar, so Siegert. Und:
Der Staat ist diesem Apparat nicht äußerlich, der Staat ist Effekt dieses Apparats. (…) Der Padron Real ist kein autonomes Kunstwerk in der Geschichte der Kartographie. Seine raison d’être liegt in der Art, wie er im System einer komplexen Datenverarbeitung funktioniert.
Mit dem Padron Real wurde ein diagrammatisches Inventar geschaffen, wie es das Mittelalter nicht gekannt hat. Als Standard aller spanischen Karten ist der Padron Real ein Metamedium. Er ist das Medium, das die einzelnen kybernetischen Maschinen (die Schiffe), die sich mittels einer immer wieder durchlaufenen Schleife von Messung, Abgleich, Befehlen an Ruder und Takelage ins Ziel steuern, eicht. Steuerleute und ihre Schiffe werden dadurch nicht nur beliebig einsetzbar (sie hören auf, nur für eine bestimmte Route qualifiziert zu sein), sondern auch untereinander austauschbar. (75)
Was nichts anderes heißt, als daß sie eine Reihe bilden; eine Reihe gleich Qualifizierter, die sämtlich durch die Hand des gleichen Ausbilders gegangen sind, der ihre gleichrangige Kompetenz garantiert. D. h., die Segmente eines kybernetischen Systems werden so zugeschnitten, daß sie untereinander austauschbar werden. Was auch heißt, Personen werden definierbar durch die Funktionen, die sie erlernt haben.
Und bei Amerigo Vespucci im Alcazar in Sevilla hatten sie anzutanzen nach jeder beendeten Fahrt:
Ferner befehlen wir allen Steuerleuten unserer Königreiche und Herrschaften (…) dass sie, wenn sie neue Länder, Inseln, Buchten oder neue Häfen oder irgend etwas anderes finden, das es wert ist, in den genannten Padron real eingetragen zu werden, wenn sie in Castilla ankommen, Dir, dem genannten Piloto Mayor, und den Beamten der Casa de la Contratación zu Sevilla einen Bericht geben. (75)
1504 dann die Anordnung, daß sich an Bord jedes Schiffes, das auf Entdeckungsreise ginge, sich ein Bordschreiber befinden müsse. Zusätzlich ist dieser ausgestattet mit juridischen Aufgaben. [✪]
Die Menge der erhobenen und in Aktenbergen verschwindenden Daten wird im Lauf der Jahre allerdings so riesig, daß eine große Desorientierung in der Bürokratie einsetzt darüber, was denn nun tatsächlich los sei in »den Indias«. Die Inquisition mischt sich ein; 1569 verfaßt Ovando, damaliger Leiter der Casa, einen Fragebogen in 37 Kapiteln; im folgenden Jahr waren es bereits 200 Fragen, die er an die Leiter kirchlicher und ziviler Institutionen versandte. Es folgt die Schaffung einer neuen Zentralinstanz, die das ganze »Wissen« bündeln soll.
Die descripciones, durch die sich die Mitglieder des Indienrates informieren sollten, waren nicht vom narrativen Typ, sondern vom Typ der Tabelle. Das Archivo Historico Nacional besitzt ein größeres Konvolut solcher Tabellen. Geordnet nach Meridianen, die durch bekannte Inseln, Inselgruppen oder Städte verlaufen, findet man hier detaillierte Tabellen, die die Breite und Länge vor allem für die Navigation und Kartographie relevanter Orte auflisten; westlichste und östlichste Punkte bei Inseln, Kaps, Buchten oder Flussmündungen (…) Diese Tabellen nehmen eine mittlere Stellung ein zwischen den alten Portulanen, den Navigationshandbüchern der Küstenschifffahrt, die eine Anzahl verschiedener Routen jeweils durch Aufzählung besonderer Merkmale der Küsten beschrieben, und der zweidimensionalen Ordnung von Seekarten. Jedem Ort wird (…) Längen- und Breitengrad zugeordnet. Man kann allein nach der Abfolge der Kaps, Buchten und Flussmündungen navigieren (…) (82)
Am Ende solcher Bücher mit Daten, Tabellen, Listen, Ortsbeschreibungen, gibt es dann Register von Orts- und Inselnamen:
Damit lassen sich drei verschiedene Modi unterscheiden, zwischen denen die Datenverarbeitung des spanischen Kolonialreiches wechseln konnte: einen Operationsmodus, in dem tabellarisch gespeicherte Daten praktisch abgearbeitet und in Steuersignale umgewandelt werden, einen Graphikmodus, in dem tabellarisch gespeicherte Daten in zweidimensionale Graphiken und Bilder umgewandelt werden, und einen Textmodus, in dem tabellarisch gespeicherte Daten auf Adressen schriftlich codierter Datenmengen verweisen, die in Buchform vorliegen. Offenbar stellt das gesamte Register ein »intermediales« Transformationssystem dar, das den genauen Zweck hatte, Karte und Buch aufeinander abzubilden, ein paralleles Datenverarbeitungssystem auf ein serielles. (83)
Die neuartige Herrscherfigur, die all dies anlegen und durchführen läßt, ist Philipp II. von Spanien; von den Zeitgenossen auf der »papierene König« getauft (66). »Was nicht in den Akten ist, ist nicht auf der Welt«, soll seine Mutter Isabella von Kastilien ihm beigebracht haben.
»Er kennt alle seine Angelegenheiten und weiß alles. Seine Minister sagen, sein Verstand sei so groß, dass es kein Ding gebe, das er nicht wisse oder nicht sehe. Der König erledigt seine Geschäfte schriftlich, weil er nicht gern mit vielen unterhandelt und behender im Schreiben ist als irgendein Sekretär« – so im Bericht des Botschafters Leonardo Donato vom Hofe Philipps. (67)
Akten sind nichts anderes als zu Daten – zu Protokollen und Tabellen – segmentierte Wirklichkeit. Der König – als sein eigener Sekretär – genießt das Privileg, alle Segmente (potentiell) zu kennen; also den Überblick über die Einzelabschnitte zu haben. Wozu Siegert anmerkt, der Botschafter verwechsle »eine bis dahin in Europa noch nie erreichte administrative Ausdifferenzierung und Delegation herrschaftlicher Kompetenz mit dem Verstand des Königs« (67).
Der neue Herrschaftszustand: »Philipp II. beendete das Reisekönigtum, das Isabella und Ferdinand noch verkörpert hatten (…) die Katholischen Könige waren pausenlos umhergezogen, nicht anders als ihre Kollegen, Maximilian I. etwa. Verwaltung war bis ins 16. Jahrhundert nur in Anwesenheit des Königs möglich« (67); die aristokratische Selbstdarstellung schien unumgänglich; auch Gerichtsurteile wurden gern vollstreckt in Anwesenheit des Fürsten und seines Hofstaats. Die fürstlichen Kanzleien: entsprechend kümmerlich. Ein Geistlicher bzw. ein oder zwei Schreiber hatten genügt.
Unter Philipp wird eine Riesenbürokratie daraus; mit schließlicher Zentrierung aller Machtfunktionen in der Bürokratie des bis dahin unbedeutenden Städtchens Madrid. Einer der Gründe für diesen Wechsel der Herrschaftsform ist die Existenz Americas: »Philipp herrschte über riesige Gebiete, sogar über ganze Kontinente, die außerhalb der Reichweite seines Blicks und seiner körperlichen Präsenz lagen«. Mit anderen Worten: die Existenz der Amerikas jenseits des Ozeans zwingt die europäischen kolonisierenden Staaten zur Datenerhebung per verzweigter Bürokratie. Denn: »Kein spanischer Monarch ist je in Amerika gewesen« (68).
Informationsmedien – und das heißt eine raummächtige Bürokratie – nehmen im hispano-amerikanischen Reich den Platz des Souveräns ein. An die Stelle der Archive, die der König mittelalterlicher Rechtstheologie zufolge in seiner Brust trägt und die alle denkbaren Gesetze enthalten – omnia scrinia habet in pectore suo –, treten einerseits empirische Geheimarchive, in denen sich relaciones und descripciones aufschichten und einander durchkreuzen, und andererseits Reales Cédulas, die den Willen und den Befehl des Königs verkünden. »Der europäische Macht- und Verwaltungsstaat setzte sich im spanischen Amerika durch«. [✭ 5] (68)
Im Maße wie der transatlantische Raum aus der prästabilierten Geographie des Mittelalters herausfällt, wird es notwendig, den transatlantischen Raum und seine Reichtümer auf die Daten einer praktischen astronomischen Breiten- und Längengradbestimmung zu beziehen. Amerika selbst konnte ja überhaupt nur als Ergebnis einer Vermessungs- und Rechenoperation aus dem Nichts erscheinen. Wenn Amerika als solches eine Gabe von Berechnungen war, dann sind die Landnahmen dort nach ihrer mehr oder weniger zufälligen »Entdeckung« erst recht immer wieder Gaben von Vermessungen und Kartographierungen. (…) Damit es Amerika gibt, müssen Mathematiker in die Dienste der Staatsverwaltung aufgenommen werden. (69)
Auf die Häuptlings- bzw. Königstöchter, über deren Körper die Landnahme der Kolonisatoren (mythologisch-literarisch) sich vollzieht, folgen, weit realer, Zählungs- und Berechnungs-Bürokratien, folgen »Medien der Verwaltung« (69). »Nicht die göttliche Vernunft, die in den Zahlen haust, sollen sie beweisen«, wie noch die Generation der Giottos um 1300 es mußte bei der Anwendung der Gesetze der Linearperspektive; sondern die Überlegenheit einer Meßmethode über eine andere. Prinzip: Meßmethoden erarbeiten (unabhängig von dem, was Altes oder Neues Testament dazu vermerken) und dann deren Funktionsfähigkeit erweisen.
Der erste piloto mayor war selbst ein großer Vermesser. Siegert in einer Anmerkung zu Amerigo Vespucci:
Vespucci hatte auf seiner spanischen Reise über den Ozean als erster Längengradmessungen auf den neuentdeckten Inseln angestellt. Am 23. August 1499 gelang es ihm, die Konjunktion des Mondes mit dem Mars zu beobachten, deren Zeitpunkt für die Stadt Ferrara er durch die mitgeführten astronomischen Tabellen des Johannes Müller (Regiomontanus) kannte. Nach seiner Rückreise zwangen ihn astronomisch erhobene Daten zu dem Schluss, dass die longitudiale Distanz oder die Anzahl der Meridiane von Cadiz bis zum westlichsten Punkt seiner Reise geringer sein musste, als er angenommen hatte. Das konnte aber wiederum nur heißen, dass der Abstand zwischen zwei Längengraden größer sein musste als bisher angenommen, nämlich 16 2/3 Seemeilen zu je 4 1⁄2 römischen Meilen (im Unterschied zu 4 Meilen). Er kam so zu der bis dahin exaktesten Berechnung des Erdumfangs von 27.000 römischen Meilen oder 38.892,5 km (er verschätzte sich also nur um 107,5 km). [✭ 6]
Aus Beobachtungen und Spekulationen werden so über Aufzeichnungen (und deren Abgleich) sukzessive Berechnungen und handhabbare Tatsachen. Wissenschaftsgeschichtlich macht das einen bedeutenden Unterschied zu vorherrschenden Ansichten über die Entwicklung von »Wissenschaftlichkeit« in unseren Breiten:
Nicht der Geist der Objektivität oder der Geist der Rationalität erklärt die Entstehung der modernen experimentellen Wissenschaften, sondern »paperwork«. Die sogenannte »wissenschaftliche Revolution« ist kein Faktum in der Entwicklung europäischer Rationalität oder ein Faktum in der Entwicklung der europäischen Produktivkräfte. Das eigentliche Ereignis der neuzeitlichen Wissenschaften ist vielmehr im Erscheinen solcher unscheinbarer wissensadministrativer Medien zu sehen. (70)
Das sind: beschriebene, durchnummerierte, optisch konsistente Papieroberflächen. Im Büro werden sie effektiv skaliert, reproduziert, kombiniert.
Die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaften lässt sich nicht denken, ohne die Rolle des Büros im Allgemeinen zu berücksichtigen – und der Büros der Kosmographen in der spanischen Indienverwaltung im Besonderen.
Die Geschichte der spanischen Institutionen, durch deren »paperwork« im 16. Jhd. »Amerika« Realität geworden ist, von den verschiedenen Ämtern und Lehrstühlen der Casa de la Contratación über das Amt des Cosmógrafo Mayor des Indienrates bis zur Gründung der Academía de matemáticas im Jahre 1580 durch Philipp II., steht nicht nur exemplarisch für diese »Geburt der experimentellen Wissenschaften aus dem Geiste des Büros«, die entsprechenden Büros der Casa, des Indienrates und der Academía sind schlechthin die Orte, die zur Startrampe der experimentellen Wissenschaften geworden sind, insofern hier Staat als Inkorporation von »paperwork«, mathematischen Wissenschaften und Künsten gedacht und praktiziert worden ist. (70)
Büro, Inquisition und Mathematik konnten sich zusammenschließen »kraft eines Königtums, das in der Person Philipp II. an die Stelle sichtbarer Intentionen und Handlungsmanifestationen ein Hofzeremoniell und eine Bürokratie gesetzt hat« (70); so wird die Regierung der »Indias« auf wissenschaftliche Fundamente gesetzt.
All dies in Siegerts durchdringender Darstellung sieht aus wie eine Blaupause dessen, was in England genau 40 Jahre später der Wizard Master Prospero veranstaltet in The Tempest. Bloß fehlt William Shakespeare jeder Glaube an die Erfaßbarkeit kolonialer Wirklichkeiten durch lückenlose Datenerhebung. Das Globe Theatre ist zwar eine Casa William, aber kein House of Investigations in einem bürokratischen Sinn. Diese Aufgaben liegen bei den entstehenden Geheimdiensten der englischen Krone. [✭ 7]
Von wo aus sich schlüssig bündeln läßt: auf statistisch-mathematische Segmentierung folgt Konzeptualisierung (= Auswertung der Ergebnisse und ihre Anwendung), heißt: praktische Sequenzierung. Nächster Schritt: Standardisierung. Ergibt intensivierte Sequenzierung; nächste Steigerungsstufe: das Konzept miniaturistischer Ausdifferenzierung; Anlegen neuer Segmente und Untersegmente; ergibt selbstreferentielle Generierung weitergehender Konzepte und ihre Folgen, neue Sequenzierungen. Ein System, das sich selbst, autoreferentiell und sich ständig vergrößernd, weiter fortpflanzt; bis in die Verästelungen der Datenerfassung heutiger Büros und Ämter. Das spanische America ist, wie Siegert schlüssig belegt, der Ursprung und das Produkt genau dieser Verfahren.
Einige dieser »moderneren« Verfahren entwickeln die Madrider bürokratischen Welterfasser durchaus schon selber. Instruktionen vom neuen Chef der Casa de la Contratación Juan de Ovando gibt es 1571; Anleitungen, wie die Berichte abzufassen seien, wie weiterzuverarbeiten, wie die Ergebnisse in den Indienrat zu speisen etc.
Von drei Dingen handelt die Instruktion: von den Personen, die verpflichtet sind, Beschreibungen anzufertigen, von den Sachen, über die berichtet werden muß, und von dem Modus und Procedere, in dem die Beschreibungen angefertigt werden müssen. Es gibt vermutlich kaum ein anderes Dokument,
in dem der »Geist des frühmodernen Staates« (Oestreich) sich derart als bürokratischer Furor zu erkennen gibt, als eine Besessenheit von der Sorge, dass irgendetwas sich dem Wissen des Staates entziehen könnte oder irgendjemand dem allumfassenden Befehl des Staates, Zeugnis abzulegen von den Dingen. Nirgendwo vielleicht tritt so offen zutage, dass der frühmoderne Staat angetrieben wurde von einem unstillbaren Begehren nach einer »entera noticia de las cosas«, einem ebenso vollkommenen wie unmöglichen Wissen, von einer inquisitorischen Leidenschaft, die in Gang gehalten und eskaliert wird von einem unschließbaren Seinsmangel. (87)
Das »unstillbare Begehren« von Staaten nach dem Bescheidwissen über Befindlichkeiten ihrer Bürger in möglichst allen Belangen – in möglichst all seinen Segmenten – scheint das Abzeichen des modernen Staates überhaupt geworden (und geblieben) zu sein. [✭ 8] »Die Pflicht zur ununterbrochenen und flächendeckenden Erkundung und Beschreibung der ›Dinge‹ trifft alle, vom Vizekönig bis hinab zum Ortspfarrer«, resümiert Siegert. Ob das in dieser Schärfe auch praktiziert wurde, ist unwahrscheinlich. Das Aufstellen von Verfahrensregeln ist eins; ihre Befolgung ein anderes. Siegerts Versuch, ihre allumfassende Relevanz zu beschwören, liefert dann aber ein eindrucksvolles Bild der fortgeschrittenen Segregierung der spanischen Gesellschaften in eine Unzahl von Hierarchien mit abgestuften Unter-, Neben- und Zwischenhierarchien. Zwischen Vizekönig und Ortspfarrer beträfe es Alle – und hat er auch keinen vergessen?:
An erster Stelle stehen die Mitglieder des Indienrates selbst, dann folgen die Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte, Erzpriester, Vikare, kirchliche Richter, Priore usw., die Vizekönige, die Präsidenten der Audencias und Chancillerías, die Gouverneure, die Bezirksbürgermeister, die Corregidores (Landräte oder Landvögte), die Ortsbürgermeister, die Beamten der Finanzverwaltung (hacienda), die Kapitäne und Admiräle der Flotten, die Steuerleute (mayores e menores), die Festungskommandanten, die Pfarrer, die Verwalter der Kirchen, der Krankenhäuser, Klöster und Schulen, die Buchhalter der Kirchen, die Schreiber sowieso: die Kirchenschreiber und Residenzschreiber, die Finanz-, Gerichts-, Minen-, Regierungs-, Kammer-, Rats- und Registerschreiber, aber auch Ärzte, Oberlehrer, Ingenieure, Schachtmaurer, Landvermesser und Wasserbauer und überhaupt alle, die irgendein kirchliches oder weltliches Amt versehen, »deben mandar hacer y hagan averiguación y descripción«, wie die litaneiartig wiederholte Formel in Ovandos Text lautet. Selbst die Kaziken und Indianerhäuptlinge »deben hacer y hagan averiguación y descripción«. Sie alle werden Sekretäre des Indienrates, Subjekte seines Kosmographen. (87)
Sicher hat dieser Aufzähler, als nur unvollkommener Bürokrat und Universitätsschreiber – zum Zeitpunkt der Abfassung noch unbeamtet – diesen oder jenen vergessen, z. B. den (im Spanischen wie benannten?) Korinthenkacker. Aber – das Lachen bleibt mir im Hals stecken; zu sehr erinnert diese Aufzählung an jene, die Raul Hilberg liefert bei der Aufzählung, welche gesellschaftlichen Instanzen im Nazi-Deutschland beteiligt waren an der Deportation und Vernichtung der europäischen Juden: von den Näherinnen des Gelben Sterns bis zur abtransportierenden Eisenbahn; welche Büros, Verwaltungen, Handwerksbetriebe, Fabriken, örtliche Parteiverbände, Sportvereine, Schulen, Lehrer, Pastoren, Hausfrauengesangsvereine und Registerschreiber des Blockwartwesens. Und es läuft hinaus auf Siegerts »Alle, vom Vizekönig zum Ortspfarrer«, einschließlich der aztekischen Kaziken in der Rolle von KZ-Kapos.
Siegerts Katalog schreibt genau den Grad fixierter Segmentierung gesellschaftlicher Positionen um das Jahr 1570 an. Wobei zu unterstreichen ist, daß die Institutionalisierung der Casa de la Contratación und die Einsetzung des Piloto Mayor passieren, bevor Hernan Cortés in Yucatan landet und 1519 zum ersten Mal vor Tenochtitlan steht, nämlich in den Jahren 1504 und 1507. Die Conquistadoren stehen vor der aztekischen bzw. der Inka-Hauptstadt mit diesem Staatsapparat in den Knochen und in ihrem Hirn. [✭ 9] Daß sie von allen Seiten anstürmende aztekische Krieger im Auge haben und abwehren können, liegt nicht zuletzt an ihrem Alltagstraining: der Abwehr anstürmender Konkurrenten in ihren heimisch-hierarchischen Stellungskriegen um die richtige Position im (katholisch-frommen) europäischen Perspektiv-Leben. [✭ 10]
Einen flächendeckenden Kosmographen von »Allem was ist«, insbesondere in den »Indias««, nennt Siegert diesen zentralbürokratischen Aufzeichnungsapparat der kolonisierenden spanischen Staatlichkeit um 1570. Den Phonographen dabei zart anspielend, der gut 300 Jahre später seine Karriere als technologischer weltaufzeichnender Alleshörer mit der Aufnahme eines Kinderliedes beginnt (um kurz darauf als Abhörgerät in Weltkrieg I auf frühe Abwege zu geraten). Als einer seiner Vorläufer darf in der Tat der bürokratisch rasende Kosmograph der spanischen Conquista gesehen werden. Einschließlich der »Geschichte der Entdeckungen und Eroberungen einer jeden Provinz, die Kultur- und Sittengeschichte der eingeborenen ›naciones‹.« (87)
Ovando, rührig expansiv, schafft ein neues Amt, den Chronista y Cosmographo Mayor de los esta y Reinos de las Indias, Islas y tierra firme del mar occeano, besetzt mit Juan Lopez de Velasco. »Velascos Rolle ist die eines Spezialisten für Vernetzung und den Aufbau von Informationssystemen« (98). »Macht man die formale Organisation und die Praxis von Beschreibungen (statt ihre Inhalte) zum Gegenstand der historischen Untersuchung, werden sie zu Quellen einer Medienarchäologie der Wissenschaften« (98); womit gesagt ist – in unausgesprochener Beziehung auf McLuhan – daß dem neu geschaffenen Posten eines Obersten Kosmographen der Indias, des Ozeans und seiner Inseln nur begegnet werden kann mit einer neuen Wissenschaft – der eben genannten Medienarchäologie. [✭ 11]
Velasco erkannte, dass der Betrieb des von Ovando vorgeschriebenen zentralen Datenspeichers nur dann möglich sein würde, wenn die Daten untereinander vergleichbar, kompatibel, skalierbar und akkumulierbar wären, das heißt, Velasco erkannte die Notwendigkeit, den Informationsfluß bereits vorab durch Einführung eines einheitlichen Datenformates zu standardisieren. Das aber hieß, das kosmographische Wissen auf ein Fundament von angewandter Mathematik zu stellen. Um dieses Ziel zu erreichen, band er einige der fähigsten Mathematiker Spaniens und Italiens (…) in das Projekt der Relaciones Geográficas ein. (99)
»Den estado der Dinge garantiert nicht die Logik, sondern die Statistik bzw. eine unabschließbare Registratur« (88). Die Inquisition geht historisch über in die ständige Buchprüfung im Handelskontor. »Was nicht verbucht ist, existiert nicht«, – dachten, mit Isabella von Kastilien, die Steuerhinterzieher und liechtensteinisch-luxemburgisch-schweizerischen Geldanleger der Jahre 2000ff. Wie naiv! Gerade diese Tätigkeiten sollten der allumfassenden Begehrlichkeit der Aufzeichnungsapparaturen gefräßiger heutiger Staatstechnologien entgangen sein? Man könnte doch – auch als Klein- und Mittelgauner – wissen, daß in allen wo auch immer entwickelten Finanz-Gangstereien, Staaten die Avantgardeposition innehaben. Staaten (und ihre Militärs), die auch heute unentwegt Ausschau halten nach anheuerbaren »fähigsten Mathematikern«, die auf dem Markt sind vor allem in Gestalt der fähigsten Hacker; illegalitätserprobter Computertechnologen.
[✭ 1] Bernhard Siegert, Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften, Berlin 2003, 71.
[✭ 2] Die Gründe, »warum Sevilla?«, ausführlich bei Siegert, 71ff; u. a., weil es in Sevilla, anders als in Cádiz, eine entwickelte Verwaltung gab, die genügend benötigte Schreiber bereitstellte. Die Einwohnerzahl stieg zwischen 1530 und 1594 von 45. 000 auf über 100. 000 Einwohner.
[✭ 3] Wir halten den psychischen Prozeß der »Spaltung« im Sinn.
[✭ 4] Dem entspricht, daß im Jahr 1531 die Ausfuhr »lügnerischer Texte« nach Amerika verboten wird; insbesondere von Ritterromanen wie dem Amadiz.
[✪] Die Auflösung des »Gehirnsprungs« in Theweleit 2020, S. 521–524.
[✭ 5] Richard Konetzke, »Christentum und Conquista im spanischen Amerika«, in: Lateinamerika. Entdeckung, Eroberung, Kolonisation. Gesammelte Aufsätze von R. K., hg. v. Günter Kahle und Horst Pietschmann, Köln, Wien 1983, 617.
[✭ 6] Siegert, 431; mit Frederick J. Pohl, Amerigo Vespucci. Piloto Major, New York 1966, S. 62-68, 94-96 u. 105. Solche Daten untermauern die Konstruktion der Hauptfigur »Joachim« als Landvermesser in Arno Schmidts Seelandschaft mit Pocahontas, und Arno Schmidts Selbstdefinition als Landvermesser im Ozean der Wörter noch einmal anders (vgl. KT, Pocahontas IV: You give me fever).
[✭ 7] vgl. KT, Pocahontas I, Shakespeare on Tour, insbes. 329-404
[✭ 8] Im heutigen Deutschland schien es lange Zeit möglich, dies abzuspalten und als Problem des untergegangenen Problem-Segments »DDR« zu behandeln. Die britischen wie amerikanischen elektronischen Ausspähsysteme Prism und Tempora stellen die Arbeit der Stasi allerdings lächelnd (als amateurhaft) in den Schatten; dementsprechende Tätigkeiten des Bundesnachrichtendienstes (BND) werden uns zwar weiterhin verschwiegen, sind aber zweifelsohne vorhanden; nicht mehr unterm Schlapphut. Smarte Tastatur-Spione wühlen in unseren (geheimsten) Eingeweiden.
[✭ 9] Eine vom Hof eingesetzte Kommission zur Erarbeitung eines nutzbringenden Umgangs mit den Indios empfahl 1512, ganz im Sinne solcher bürokratischer Maßnahmen des Herrschaftsaufbaus in Übersee, die Indios »sollten als freie Bürger« behandelt werden, fügte jedoch sechs weitere Empfehlungen hinzu, deren erste lautete: »Eure Majestät sollte den Eingeborenen befehlen, zu arbeiten«. Sie sollten »angemessene Ruhepausen« haben und einen »angemessenen Lohn« erhalten, nach Möglichkeit »in Form von Kleidung und/oder Gegenständen«. Die Arbeitstätigkeit der Indianer dürfe ihre »Unterweisung in unserem Glauben« nicht beeinträchtigen. Die Behörden sollten für die Indianer »zweckmäßige Unterkünfte« bereitstellen und ihnen »den Besitz von Parzellen« erlauben sowie »ausreichend Zeit, um ihren eigenen Boden zu bestellen«; so zusammengefaßt von Ben Kiernan, 119. Also jene Sorte »freien Bürgers« aus den Indios zu machen, wie sie um 1880 herum in Europa und den USA scharenweise anzutreffen war, soweit diese Freien auf die Berufsbezeichnung »Industrie-Arbeiter« hörten; mit dem Unterschied, daß sie auch eine (geringe) Menge Geldes in die Hand bekamen (das zu 90% wieder bei ihrem Unternehmer landete). 1512 war die Zeit noch nicht reif für solche Frühformen des Fordismus; die Vorschläge der Kommission fanden kein Gehör. Die spanischen Kolonisatoren bevorzugten das andere Modell der Moderne (der deutschen Moderne), sie ließen die Indios und ihre Frauen, die einen in Bergwerken, die anderen auf dem Feld, sich totarbeiten (ohne sie zu bezahlen). Für dies KZ-Modell war die Zeit schon reif 1512 ff; vgl. Kiernan, 120ff.
[✭ 10] Auch wenn Cortés selber nicht direktes Objekt dieser Vorschriften ist: er bricht nicht von Spanien aus auf, sondern aus Hispaniola/Neuspanien; das ist: Kuba; allerdings mit Erkundungs- und Aufzeichnungsauftrag des Vizekönigs. Daß er Eroberung daraus machte, ging auf seine eigene Kappe. Und hätte, bei Mißlingen, den Kopf darunter gekostet.
[✭ 11] Als deren Miterfinder und führenden Vertreter sich der Kittler-Schüler Bernhard Siegert mit diesem Buch in der Welt der Universitätsruinen nachhaltig installiert hat. Das beste Buch zur Kolonisierung der Americas und zu unserer Selbstkolonisierung, das mir je durch die Augäpfel glitt.
Update: 520 Jahre Algorithmenströme und Datenanalyse. 1503 wird in Sevilla die Casa de la Contratación de Indias gegründet, 2023 das ECAT. The Times They Are a-Changin’ (und justament in diesem Jahr nun übernimmt Indien – das eine wahre, nicht die vielen anderen – zudem von China die Zuschreiben als bevölkerungsreichstes Land der Erde; aber um globaler gedachte lokale Steuerung und Datenflüsse bleibt es zu tun. Koinzidenzen, wenn man so möchte.