Memex

Das eigentliche Problem bei der Datenselektion ist aber nicht allein die Verzögerung, mit der diese Hilfsmittel in den Bibliotheken zur Anwendung kommen, oder die schleppende Entwicklung von entsprechenden Benutzervorrichtungen. Der Zugang zu den Aufzeichnungen wird vor allem durch die ›Künstlichkeit‹ der Indizierungssysteme erschwert. Wenn Daten in ein Archiv aufgenommen werden, werden sie alphabetisch oder numerisch registriert und man findet (wenn überhaupt) die Information nur wieder, indem man Unterabteilung für Unterabteilung durchgeht. Die gesuchte Information kann sich nur an einer einzigen Stelle befinden, außer es werden Duplikate benutzt; es bedarf einiger umständlicher Regeln, um zu wissen, welcher Pfad zur gewünschten Information führt. Zudem muss man, wenn man eine Information gefunden hat, das System verlassen und für die nächste Suche wieder neu beginnen.
Das menschliche Gehirn funktioniert anders. Es arbeitet mit Assoziation. Sobald es eine Information erfasst hat, greift es schon nach der nächsten, die sich durch gedankliche Assoziation anbietet – gemäß eines komplizierten Netzes von Pfaden, das über die Gehirnzellen verläuft. Das menschliche Gehirn hat natürlich auch noch andere Eigenschaften: Selten genutzte Pfade neigen dazu zu verblassen, einzelne Informationen bleiben nicht unbedingt vollständig, die Erinnerung ist flüchtig. Aber die Geschwindigkeit der Prozesse, die Komplexität der Pfade und die Detailliertheit der gedanklichen Bilder sind beeindruckender als alles andere in der Natur.
Die Menschheit kann nicht vollständig darauf hoffen, diesen geistigen Prozess künstlich zu reproduzieren, aber gewiss ließe sich daraus lernen. In Kleinigkeiten könnten sich die Menschen sogar verbessern, denn die Aufzeichnungen sind relativ beständig. Die erste Idee, die sich aus dieser Analogie ergibt, betrifft die Auswahl. Auswahl, nicht durch Katalogisierung, sondern durch Assoziation könnte mechanisiert werden. Wir können nicht darauf hoffen, so die Geschwindigkeit und Flexibilität, mit der der menschliche Geist assoziativen Pfaden folgt, zu erreichen, aber im Hinblick auf die Dauerhaftigkeit und Klarheit der aus dem Archiv hervorgeholten Informationen sollte es möglich sein, den Verstand deutlich einzuholen.
Stellen Sie sich ein künftiges Hilfsmittel zum persönlichen Gebrauch vor, eine Art mechanisiertes privates Archiv oder Bibliothek. Es braucht einen Namen – und ich denke, fürs erste wird ›Memex‹ genügen. Ein Memex ist ein Gerät, in dem ein Einzelner all seine Bücher, Akten und seine gesamte Korrespondenz speichert. Es ist so konstruiert, dass es mit außer- ordentlicher Geschwindigkeit und Flexibilität benutzt werden kann. Es handelt sich um eine Art vergrößerte, gründliche Ergänzung zum Gedächtnis.
Es besteht aus einer Art Schreibtisch, an den sich der Benutzer zum Arbeiten setzt, obgleich er es vermutlich auch aus einer gewissen Entfernung bedienen kann. Oben befinden sich schräge durchscheinende Bildschirme, auf die das Material bequem lesbar projiziert werden kann. Es gibt eine Tastatur und eine Reihe von Knöpfen und Hebeln. Ansonsten sieht es wie ein gewöhnlicher Schreibtisch aus.
Auf der einen Seite befindet sich das gespeicherte Material. Das Problem des Datenumfangs wird durch verbesserte Mikrofilme gelöst. Nur ein kleiner Teil im Inneren des Memex dient der Speicherung, der Rest bleibt für den Mechanismus selbst. Auch wenn ein Benutzer pro Tag 5000 Seiten Material ablegen würde, würde es Hunderte von Jahren dauern, das Magazin zu füllen; also kann er verschwenderisch und großzügig Neues hinzufügen.
Der Großteil der Datenmenge des Memex kann bereits gebrauchsfertig auf Mikrofilm erworben werden. Alle Arten von Büchern, Bildern, aktuellen Periodika, Zeitungen – alles kann in eine einheitliche Form gebracht und gespeichert werden. Die geschäftliche Korrespondenz funktioniert genauso. Auch für die Möglichkeit direkter Eingabe ist gesorgt. Auf der Oberfläche des Memex befindet sich eine transparente Walze, auf die alles mögliche aufgelegt wird – handschriftliche Aufzeichnungen, Fotografien, Mitteilungen oder Notizen. Nach dem Auflegen betätigt man einen Hebel und es wird eine Fotografie angefertigt, die auf dem nächsten leeren Segment des Memex-Films erscheint, wobei das Verfahren der Trockenfotografie zum Einsatz kommt.
Selbstverständlich besteht auch die Möglichkeit, anhand üblicher Indizierungssysteme auf das Archiv zuzugreifen. Wenn der Benutzer ein bestimmtes Buch zu Rate ziehen will, gibt er den dazugehörigen Code über die Tastatur ein und sofort erscheint die Titelseite des Buchs vor ihm, projiziert auf eine der Ansichtsflächen. Häufig benutzte Codes wird der Benutzer sich merken, sodass er selten im Codebuch nachschlagen wird; wenn er es doch einmal tut, wird es durch Drücken einer einzigen Taste für ihn projiziert. Dem Benutzer stehen noch weitere Hebel zur Verfügung. Wenn man einen dieser Hebel nach rechts schiebt, kann er in dem Buch, das gerade vor ihm liegt, blättern, dabei erscheinen die Seiten in einem Tempo, das ihm gerade noch erlaubt, einen kurzen, orientierenden Blick darauf zu werfen. Wird der Hebel weiter nach rechts bewegt, steigert sich das Tempo, sodass zehn oder auch 100 Seiten auf einmal geblättert werden. Wenn man den Hebel nach links schiebt, kehrt sich der Vorgang um.
Ein besonderer Knopf bringt den Benutzer sofort zur ersten Seite des Inhaltsverzeichnisses. Jedes Buch einer Bibliothek kann so erheblich leichter aufgerufen und betrachtet werden, als wenn man es aus dem Regal nehmen müsste. Da dem Benutzer mehrere Projektionsflächen zur Verfügung stehen, kann er einen Gegenstand projiziert lassen, während er einen weiteren aufruft. Durch eine mögliche Art der Trockenfotografie kann er Randnotizen und Kommentare hinzufügen und es könnte sogar eingerichtet werden, dass er dabei ein ähnlich mechanisiertes Schreibinstrument nutzt, wie es derzeit bei Teleautografen in Bahnhofswartesälen eingesetzt wird, ganz so, als hätte er die Buchseite tatsächlich vor sich.
[A]ll dies ist konventionelle Technik, wenn man von der Projektion heute bereits existierender Geräte und Vorrichtungen in die Zukunft absieht. Es braucht aber noch einen weiteren Schritt zur assoziativen Indizierung, nämlich eine Vorrichtung, die einem ermöglicht, von jeder beliebigen Information automatisch und unmittelbar eine andere auszuwählen. Das ist eine wesentliche Eigenschaft des Memex. Das Verbinden von Informationen ist das Wichtigste.

Vannevar Bush: Wie wir denken werden [1945]. Übers. v. Susanna Noack. In: Reader Neue Medien. Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation. Hg. v. Karin Bruns u. Ramón Reichert. Bielefeld: Transcript 2015, S. 106–125, hier S. 119–121 [= Abschnitt V, Beginn v. Abschnitt VI]