CfP: Welcome to the Machine

Von der Amtsinstruction zur Industrienorm: Österreichs Kanzleiordnungen von Maria Theresia bis zum ELAK

Tagung

Es gilt das verordnete Wort. Wie ein Akt entsteht, behandelt und abgelegt wird, auf welche Weise Geschäftsstücke zu bearbeiten sind, schreibt den österreichischen Zentralstellen seit gut 250 Jahren das Manual der Verwaltung vor: die Kanzleiordnung. An kaum einer administrativen Gebrauchstextform lässt sich genauer ablesen, wie eng Medien- und Verwaltungsgeschichte miteinander verbunden sind, welche Vorstellungen gesellschaftlicher Normen und des unbeirrbaren Funktionierens ›bürokratischer Apparate‹ Auswirkungen zeigten. 
Eine international besetzte Tagung wird sich von 28.–30. Oktober 2024 der Kanzleiordnung widmen. 

Hintergrund

Die Amtsinstructionen, Kanzlei- und Büroordnungen lassen sich als Erzählungen lesen, die zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung davon handeln, dass Verwaltungen und Organisationseinheiten stets noch schneller, noch genauer zur Sache, folgend dem Prinzip der Rechtssicherheit, auf dem je aktuellen medientechnischen Stand, Daten verarbeiten, Entscheidungen treffen, dazu Auskunft geben. Diese Fähigkeiten einerseits auszustellen und andererseits in Form von Handlungsanweisungen – Manualen der Korrektheit – durchzusetzen, werden derartige Texte verfasst und auf dem Verordnungsweg an Personal, Publikum (Öffentlichkeit) und Politik adressiert. 
»Mit dieser neuen Büroordnung und dem Abgehen von der konventionellen Aktenbearbeitung endet auch die über 200 Jahre währende Ära der unter Maria Theresia eingeführten Kanzleiordnung«, verkündete Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel 2004 vor der Geschichte, anlässlich der Einführung des elektronischen Aktes (ELAK) in Österreich. Habe jenes »Regelwerk wegen seiner bahnbrechenden Qualität weit über die Grenzen des alten Österreich hinaus Verbreitung gefunden«, so stelle nun der ELAK seinerseits »ein europaweit einzigartiges Vorzeigeprojekt dar, das in Verbindung mit der Büroordnung 2004 ähnliche Bedeutung gewinnen könnte«. 
Das Vorhaben einer Tagung zu Kanzleiordnungen und Amtsinstructionen (alle diese Manuale der Einfachheit halber hier als ›KO‹s gefasst) stellt nicht einfach darauf ab, nach zwei Jahrzehnten die Prognosequalität eines (von der Verwaltung vorgeschriebenen) politischen Vorworts einer Vor-Schrift zu evaluieren; vielmehr geht es darum, die tatsächlich verordneten – notwendigerweise linearisierten – Regelungen staatlicher Daseinsvorsorge und administrativer Gebarung über zweieinhalb Jahrhunderte genealogisch und u.a. mithilfe einer Kernmetapher der klassischen Bürokratietheorie, der Maschine, aufzuarbeiten. Dazu mag auch gehören, Fragen nach der Einheit des Aktes und seines ›Laufs‹, der hierfür erforderlichen Medien- und Kulturtechniken der Verwaltung (Aktenmäßigkeit vs. Aktenförmigkeit), die Beziehung der jeweiligen KOs zu anderen amtlich verschriftlichten Regularien, die wechselseitige Bedingtheit von Kanzleien und ihren Ordnungen, Ämtern und ihren Instruktionen, zu berücksichtigen, ohne aus den Augen zu verlieren, dass diese in Bedingungsgefüge ihrer Zeiten und Referenztexte eingebunden wurden und fortlaufend neu einzubinden waren.
Das bei Max Weber um 1910 in die Nähe eines Begriffs gerückte Bild der bürokratischen Organisation als Maschine respektive Apparat (in einer langen Reihe einschlägiger Querbezüge von Mensch-Maschine-Koppelungen stehend) ist für unser Vorhaben insofern attraktiv, als es – einschließlich der zeitgenössischen Begeisterung für diese Trope – etwa die Mitte des Beobachtungszeitraums markiert und damit den Gipfelpunkt der Periode, in der sich die biopolitischen Dispositive der europäischen Staaten zu einer je alle Lebensbereiche umfassenden ›Daseinsvorsorge‹ zusammenschließen; in dieser Konstellation entfalten die bürokratischen Organisationen Europas eine bis dahin nicht gekannte Leistungsfähigkeit, während mit ihrer Unterstützung die Staaten Europas sich in das technoromantische Abenteuer (Karl Kraus) Weltkrieg aufmachen. 
Stimmt dieser Befund einer administrativen ›Sattelzeit‹, liegt es nahe – am historisch spezifischen Beispiel Österreichs –, einerseits (1784 ➝ 1923) die Abfolge der KOs administrativer Aufschreibe- und Verarbeitungssysteme auf Spuren der vorgestellten wie schrittweisen Montage und Perfektionierung der Maschine ebenso wie der sich dem entgegenstellenden Hindernisse zu lesen, um in der Folge (1923 ➝ 2004) ihre Refunktionalisierung, Rekontextualisierung (Einbeziehung anthropologischer, sozialer und kultureller Faktoren in die Organisationstheorie) und schließlich digitale Remediatisierung in einen Organisationsmodus nachzuvollziehen, der sich dem explikatorischen und definitorischen Feld des Bild-Begriffs der bürokratischen Maschine zunehmend entzieht. Niklas Luhmanns Kritik an der rhetorischen Herstellung eines Zusammenhangs von Amtsapparat und Maschine, dass »es nicht möglich [ist], Organisationen in Analogie zur Maschine zu verstehen«, mag nun auf Analysen und Modellierungen der digitalen Gegenwart treffen, während die Macht über die Formatierung, Ausrichtung und Verwertung des individuellen Lebens bereits wesentlich der Zuständigkeit nichtstaatlicher Akteure überantwortet wurde. Eine Evaluation der Einführung Elektronischer Datenverarbeitung und der möglicherweise »bahnbrechenden« Innovationen des ELAK könnte dann eine derartige Verschlankung des Staates auch als biopolitischer Akteur mit in Rechnung stellen.

Fragestellungen (Auswahl)

Zu einem syntagmatischen Blick auf unser Textkorpus lässt sich ohne weiteres eine (vorläufige) Reihe paradigmatischer Perspektiven aufstellen, die die Untersuchung beliebiger Stellen im Syntagma in beliebiger Kombination durch jeweils spezifische Fragestellungen orientieren können. Einige derselben seien, vorschlagshalber, zumindest stichpunktartig aufgelistet:

  • Sprache – hist. vergl. Stilanalysen; linguistische Selbstreferenz; Sprache und Verfassung; Übernahme außeramtlichen Vokabulars und dessen einschlägiger Sprachregularien.
  • Recht – Rechtsgrundlagen und Status des Betriebs und der KOs (Verfügung/Verordnung/Dienstrecht etc.); Bürokratenherrschaft vs. Rechtsstaatlichkeit, Vexierbild Verwaltung/Recht (lit. Folien: »Der Process«; »Das Schloss«); Bedingungsgefüge Geschäftsordnung/KO/Geschäftseinteilung (und die bedeutsame Trennung dieser Materien!).
  • Staat, Verfassung – Sender- und Adressatenrollen: Beamte vs. Untertanen/Bürger; unpersönliche Zwecksetzung mit Herrschaftsinstanz (vgl. Kafka: Mauerbau und chin. Kaisertum, Alter/Neuer Kommandant der Strafkolonie); Systemstabilisierung und Mustererkennung.
  • Gesellschaft – Status der Parteien, des Publikums; sozialer Status, soziale Rolle der Beamten; die Rolle der KOs innerhalb und außerhalb der Grenzen der Verwaltung (Verhalten von Schreibern, Beamten, priv. Schreib- und Ordnungssysteme).
  • Individuum – Charakter-Ideale des Beamten (Fleiß vs. Unfleiß); Lebensführung der Beamten; wieviel Mensch braucht die Maschine?
  • Medien, Infrastruktur – Medienrevolutionen: Rotationspresse, Schreibmaschine; Elektrifizierung (Telephon, Tele-graph); Digitalisierung; Bureau/Büro im Netzwerk: Boten, Post, Eisenbahn, Internet; Speichermedien/-räume und Referenzierungen.
  • Raum, Architektur – Kanzleien/Registraturen als Flaschenhälse, Zentralisierungen, Entscheidungen ›oben‹ und Vorbereitung/Vollzug ›unten‹; Unterscheidung von Amt, Kanzlei und Büro hinsichtlich Zuschreibungen und tatsächlicher räumlicher Bedingungen.
  • Genealogie der Macht – gute Policey; Biopolitik, Vorsorgestaat; Instrumentarmacht und Überwachungskapitalismus, Techno-Feudalismus, Gespenst des Kapitals und Ressentiment.
  • Theorie der KO – Grundelemente von KOs (inhaltlich wie sprachlich-formal); Bild/Botschaft nach außen wie innen; Vor-Schein von Transparenz, Beschleunigung, Entscheidungs- und Rechtssicherheit; Vorschrift der Handlungsketten.
  • Praxis und Funktionalität – Bedingungsgefüge der Durchsetzung; Sicherung der ›Einheit des Aktes‹; Rolle von Informalität und Regelungsavancen für Interaktion; Sicherstellung von Entscheidungen basierend auf Beobachtungen zweiter Ordnung.
  • Die KO im 21. Jahrhundert – Digitalisierung und notwendige Änderungen in der Textierung und im organisationalen Verständnis; Berücksichtigung algorithmischer Emergenzen und digitaler Eigendynamiken; Digitalität und agiles Management; neue Organisations- und Kollaborationsformen in der Verwaltung; der Umgang mit neuen Informalitäten; de facto Übernahme der Amtsgeschäfte durch ELAK-Handbücher.

KO- und Co-Korpus

Kanzleiordnungen zu analysieren und einzuordnen, mit Theorie zu konfrontieren, erlaubt nicht nur historisch wie rezent zu wissen, mit welchen Medien- und Kulturtechniken Verwaltung zu arbeiten, aufgrund welcher Vorgaben und Rechtsetzungen sie in welcher Art und Weise Differenzen zu operationalisieren hat und wie ein Akt zu befördern – zu erledigen – sei; diese Textsorten der Kategorie Vor-Schriften lassen sich auch als Berichte aus der Black box Verwaltung – »eine Art Regelmäßigkeit, die so komplex ist, daß sie sich der Einsicht entzieht« (Luh-mann 1981) – lesen: Das Korpus dieser kleinen amtlich-juridischen Texte, die wir zur Lektüre vorschlagen (und die noch nie im Zusammenhang gelesen und wissenschaftlich durchgearbeitet wurden), umfasst nun u.a. den Amtsunterricht über die Manipulation der Landesstellen (1784), die Amtsinstruction (1855), die Kanzleiordnung (1923), den § 12 des Bundesministeriengesetzes (1973), die Kanzleiordnungen von 1974 und 1992 sowie die Büroordnung (2004). Ein Co-Korpus mag diese Lektüre/n ergänzen helfen: Der Dienstunterricht für die Kanzlei-Manipulations-Fächer (1852), Der Organismus der Hilfs-Aemter (1854), das Handbuch der österreichischen Verwaltungs-Gesetzkunde (1861), Kielmannseggs Vorträge über Geschäftsvereinfachung und Kanzleireform (1906), die Mustergeschäftsordnung für ein Bundesministeriengesetz (1983) sowie das ELAK-Organisationshandbuch (2020). 
Eine Sammlung der wesentlichen Manuale (KO-Korpus und Co-Korpus, die sich umstandslos erweitern lassen) wird den Teilnehmenden (über einen »Teamroom« des ELAK-Systems) zur Verfügung gestellt.

Einreichfrist, Organisation, Publikation

Themenvorschläge & Exposés mögen bis zum 15.5. eingereicht werden. Diese sowie Hinweise, Ergänzungen und Fragen werden erbeten an: Peter Plener (, ASG) & Benno Wagner (, Univ. Siegen).
Die Austrian School of Government (Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport) übernimmt Kosten und Organisation der Tagung. Die Publikation der vertieften Beiträge in der Reihe AdminiStudies (Metzler für die Druckausgabe und Springer Nature für das E-Publishing mit Open Access) ist vorgesehen, diese mögen bis Ende 2024 bei den Herausgebern eingelangt sein.