Kein anderer Berufsstand ist im Nazistaat so arg hergenommen worden wie unser Beamtenstand. In den anderen Berufen und Ständen sind Einzelexistenzen vernichtet, Organisationen zerstört worden, die Beamtenschaft aber wurde als Ganzes ruiniert: es wurde der Beamtenapparat völlig zerschlagen. Als wir anfangen wollten‚ österreichisch zu regieren und zu verwalten, war kein Regierungs- oder Verwaltungsapparat mehr da‚ es mußte ein neuer aufgebaut werden.
p. d. [i.e. Paul Deutsch]: Der Weg des österreichischen Beamten. In: Neues Österreich v. 16. November 1945, S. 1f.
Daß dieser neue Apparat, aus Notbehelfen und Improvisationen eilig zusammengezimmert, nicht so funktioniert‚ wie er sollte, ist nicht zu wundern. Zu wundern ist nur, daß es Leute gibt, die sich darüber wundern. Wir wollen nicht hundertmal Gesagtes wiederholen, jedermann weiß‚ wie es heute in unserer Beamtenschaft ausschaut. Kein Kunststück, die langbärtigen Witze vom wiehernden Amtsschimmel und von der verstaubten Aktenreiterei neuerdings vorzureiten und sie durch neuere Scherze über Märzveilchen und Maiglöckerln zu ergänzen. Selbstverständlich muß das Tadelnswerte getadelt, das Schädliche ausgemerzt werden. Aber ebenso selbstverständlich darf nicht daran vergessen werden, daß dieser junge, eben erst im Entstehen begriffene Beamtenstab auch schon Proben selbstloser Aufopferungsfähigkeit bestanden hat und daß ein Großteil der Beamten unter den schwierigsten Existenzbedingungen und gegen spärlichste Gehaltsanzahlungen seine Pflicht tut, so gut er kann. Damit wird freilich die Tatsache nicht aus der Welt geschafft, daß der Apparat als Ganzes weit hinter seinen Aufgaben zurückbleibt und weder den Anforderungen der Staatsregierung noch denen des Volkes voll gerecht werden kann. Weder durch Lob noch durch Tadel, weder durch scherzhafte noch durch ernsthafte Kritik kann hier eine wirkungsvolle Remedur geschaffen werden. Grundsätzliche Voraussetzung für die Aufrichtung eines brauchbaren Beamtenapparates ist natürlich die radikale Austilgung aller Spuren der Jüngstvergangenheit‚ besonders in der leitenden Oberschicht, die noch lange nicht völlig gesäubert ist. Bei diesem Reinigungsprozeß darf man aber nicht stehenbleiben, denn just am gesäuberten Apparat soll der organisatorische Aufbau sich vollziehen. Man spricht davon‚ daß der alte‚ von guten Traditionen getragene Teil der Beamtenschaft durch junge Kräfte ergänzt werden soll, die keine Bürokraten, keine Paragraphenschinder sind, sondern vom gesunden Menschenverstand getragene Männer des praktischen Lebens. Ausgezeichnet! Ein sehr schöner Gedanke, die Besten unter den alten mit den Besten unter den jungen Elementen zu vereinigen und daraus eine neue, tadellose Apparatur zu schaffen. Aber wie will man das machen? Wie soll diese Auslese der Besten bewerkstelligt werden? Auf diese Fragen ist man uns bisher die Antwort schuldig geblieben. Derzeit sind die Lebensverhältnisse im öffentlichen Dienst nicht gerade verlockend für die Elite der Tüchtigsten und Begabtesten. Also gibt es nur einen Weg: Will man die denkbar besten Beamten haben, dann muß man ihnen auch die denkbar besten Lebensbedingungen geben. Man muß sie einbeziehen in den sozialen und ökonomischen Aufstieg, auf den alle fortschrittlichen Elemente in unserem Staate hinarbeiten. Das ist ein ganz neuer Weg, grundverschieden von den Bahnen, auf denen früher einmal die kaiserlichen Beamten und später die Hitlerbeamten ihre Aufstiegsmöglichkeiten erblickten. Heute leben wir in einer neuen Welt. Nirgendwo werden Beamten höher geachtet, nirgends besser entlohnt und gesellschaftlich höher gestellt als in den von sozialem Geist getragenen Demokratien. Wenn wir uns in die Reihen dieser Staaten eingliedern, dann werden wir Österreicher auch bei unseren Mitteln für unsere Beamtenschaft soviel leisten können, als ihr nach ihren Leistungen gebührt.
Es muß also ein wechselseitiges Leistungsverhältnis sein. Leistung gegen Leistung, Opfer gegen Opfer. Kein Beamter kann beanspruchen, daß der demokratische Sozialstaat ein Opfer bringt, wenn er sich nicht selbst rückhaltlos und opferfreudig zu diesem demokratischen Sozialstaat bekennt. Und dieses Bekenntnis kann dem österreichischen Beamten, dem Beamten eines alten Landes in einer modernen Welt nicht schwerfallen. Er ist nicht mehr der Untertan eines Monarchen, nicht mehr der willenlose Gefolgsmann eines Usurpators‚ er ist der Diener des Volkes, der Diener der Demokratie und des sozialen Fortschritts. Er darf stolz sein auf dieses Bekenntnis, mit dem er nicht bloß dem Gemeinschaftswerk, sondern auch seinem persönlichen Lebenswerk Sinn, Zweck und Inhalt gibt.