Als Walter Benjamin Max Brods Kafka-Biografie (1937 in Prag erschienen) rezensiert, fällt sein Urteil nicht gerade günstig aus, etwas genauer besehen: vernichtend. An Scholem schrieb er (14. April 1938), dass »besagte Biographie in ihrer Verwebung Kafka’schen Nichtwissens mit Brod’schen Weisheiten einen Distrikt der Geisterwelt zu eröffnen scheint, wo weiße Magie und fauler Zauber aufs erbaulichste ineinander spielen.«
In einer Passage seiner Rezension, die zu Lebzeiten keine Veröffentlichung erfahren wird, bezieht sich Benjamin, der selbst mehrere Essays zu Kafka abfasste, u.a. auf einen von Brod angestellten Vergleich von Kafkas und Balzacs Schreiben (der ansatzlos und ohne erkennbaren Zusammenhang eingeworfen wird):
Daß die »vielen privaten akzidentellen Mängel und Leiden Kafkas« zum Verständnis seines Werkes mehr beitragen als theologische Konstruktionen (S. 213), hört man von dem jedenfalls nicht gern, der Entschlossenheit genug besitzt, seine eigene Darstellung Kafkas unter dem Begriff der Heiligkeit vorzunehmen. Die gleiche wegwerfende Gebärde gilt allem, was Brod bei seinem Zusammensein mit Kafka störend vorkommt – der Psychoanalyse ebenso wie der dialektischen Theologie. Sie erlaubt es ihm, Kafkas Schreibweise der »erlogene[n] Exaktheit« Balzacs (S. 69) zu konfrontieren (wobei er nichts anderes als jene durchsichtigen Rodomontaden im Sinn hat, die von Balzacs Werk und seiner Größe gar nicht zu trennen sind). [/] Das alles stammt nicht aus Kafkas Sinn. Brod verfehlt allzu oft die Fassung, die Gelassenheit, die diesem eigen war.
Walter Benjamin
Ausgerechnet ein Vergleich mit Balzac, als gäbe es keine anderweitigen Vergleichsgrößen. Aber Brod hatte nun einmal sich selbst diesem traumhaft nahe liegen gesehen (näher vielleicht nur Kafka, späterhin Objekt seiner Biografie vom Naheverhältnis), wie er in seinem Tagebuch (14. Februar 1911) – wovon Hans-Gerd Koch 2006 in seinem Aufsatz »Brods erlesener Kafka« berichtet – notiert:
Ich träume viel, einmal sei es aufgeschrieben: Ich sah mein Grab, doch lag ich nicht darin, es war nur vorbereitet, eine Überraschung von Fremden. Eine weiße in den Boden eingefallene Marmorplatte mit den Worten »Hier ruht der arme Ritter Max Brod«, – Ich weinte viel über die Widmung, die mir sinnreich und rührend edel erschien. – Neben mir eine dunklere ältere Platte: Balzac. (N.B. den ich doch nicht sehr liebe, aber gerade so kommt gemeinsame Atmosphäre der Literatur heraus)
Max Brod
Gut elf Jahre nach dieser diaristischen Traumgestaltung, am 24. Juli 1922, wird Brod an Kafka ein Schreiben richten, in dem er die zugesandten Manuskripte (späterhin »Das Schloss«) lobt, im Wesentlichen von sich, seinem Schreiben und Liebesglück berichtet, aber auch nicht ohne Balzac-Verweis auskommt:
Liebster Franz, [/] Deinen Roman habe ich Abend für Abend mit großer Spannung gelesen, ausgelesen. Ich fand, dass ich mir schon lange so eine Lektüre gewünscht habe, eine richtige Erzählung, die einen aus den eigenen Sorgen herausnimmt. Aber es ist sonst alles (auch Balzac, den ich anfieng) so fad. Nun kam dein Buch. Und ohne in die Tiefe einzugehen, (weil du ja doch nicht froh wirst, wenn ich es in seinen Tiefen loben würde) kann ich nur sagen, dass es ein sehr unterhaltendes farbiges Buch ist […]
Max Brod
Kafka seinerseits fand Balzac tatsächlich nicht unbedingt prickelnd – was Brod Darstellung in der Biografie zusätzlich befremdlich erscheinen lässt –, dafür jedoch einen biografischen Hinweis auf diesen Lebensführung überaus spannend. Am 26. November 1912 wird er an Felice Bauer einen seiner von Liebesbeteuerungen, Gespenstern, Mediengebrauch, Ängsten, Forderungen und Rupturen jedweder Art – gerade auch jene seines literarischen Arbeitens extrapolierend und einsetzend – gespeisten Briefe schreiben, in dem er u.a. von einer eben stattgehabten Dienstreise nach Kratzau berichtet:
Man soll um keinen Preis wegfahren und den Gehorsam im Bureau lieber verweigern, wenn man zuhause eine Arbeit hat, die alle Kräfte braucht. Diese ewige Sorge, die ich auch jetzt übrigens noch habe, dass die Reise meiner kleinen Geschichte [gemeint sein könnte »Die Verwandlung«; Anm.] schaden wird, dass ich nichts mehr werde schreiben können u.s.w. Und mit diesen Gedanken in ein elendes Wetter hinausschauen zu müssen, durch Kot laufen, im Kot steckenbleiben, um 5 Uhr aufstehn! Um mich an Kratzau zu rächen, kaufte ich dort in der Papierhandlung das einzige gute Buch, das Kratzau augenblicklich besaß. Eine Novelle von Balzac. In der Einleitung steht übrigens, dass Balzac eine besondere Zeiteinteilung jahrelang befolgte, die mir sehr vernünftig scheint. Er ging um 6 Uhr abends schlafen, stand um 12 Uhr nachts auf und arbeitete dann die übrigens 18 Stunden. Unrecht tat er nur, dass er so wahnsinnig viel Kaffee getrunken hat und damit sein Herz ruinierte. – Aber auf so einer Reise ist auch gar nichts gut. Die Balzac’sche Novelle gefiel mir nicht.
Franz Kafka
Der Arbeitsrhythmus der Textmaschine Balzac ist es, in Verbindung mit der Freiheit sich derart Zeit nehmen zu können (in Wahrheit wohl: müssen, um die Schulden halbwegs begleichen zu können), der ihn interessiert. Und auch Willy Haas hat in seinen Erinnerungen – »Franz Kafka war einer von uns« – den Eindruck einer sehr überschaubaren Bewunderung Kafkas für die Literatur Balzacs verstärkt; ebenso, dass dies nicht an der Auseinandersetzung mit den Texten gelegen haben wird:
Kafka selbst war ein feiner, delikater Jüngling, immer etwas schüchtern lächelnd, voll preziöser, merkwürdiger, aphoristischer Äußerungen und nicht ohne den sichtbaren Wunsch, interessant zu erscheinen. Er war gewiss etwas ganz anderes für Max Brod, aber das war er für mich. Er konnte wundervolle Soloszenen spielen. Einmal traf ich ihn auf der Straße. »Wie geht’s denn«, fragte ich rein formell. »Ach, ich könnte meinen Kopf auf Ihre Schultern legen und weinen“, erwiderte er seufzend. [/] Er liebte Balzac nicht. Er liebte Shakespeare noch weniger: weil er das Theater überhaupt nicht liebte. Die Möglichkeit, dass man den »Prozess« und »Das Schloss« auf der Bühne, sogar auf der Opernbühne, spielte, hätte ihn vermutlich fassungslos gemacht. [/] Einmal parodierte er Balzac. »Ich will Ihnen einen Satz sagen, den Balzac hätte schreiben können. ›Um fünf Uhr nachmittags verließ die Herzogin das Palais und streifte ihren Handschuh über, mit derselben leichten Geste, mit der alle Herzoginnen in Paris um fünf Uhr nachmittags ihre Handschuhe überstreifen.‹ Sehen Sie: das ist falsch erzählt. Diese Generalisierung ist falsch. So darf man nicht erzählen.«
Willy Haas
Wie dann? Max Brod notiert im unmittelbaren Umfeld des oben erwähnten Einwurfs Balzacs seiner Biografie von K. (wobei abgesehen von diesen zwei Absätzen B. nie wieder erwähnt wird) einen Satz, den außer Brod vielleicht nie jemand so präzise gehört haben könnte: »Einmal sagte Kafka: ›Balzac trug einen Stock mit der Devise: Ich breche jedes Hindernis, – meine Devise wäre eher: Mich bricht jedes Hindernis.‹« Ob nun der Stiefel des Vaters das Insekt oder den briefschreibenden Sohn zu zerquetschen, zu brechen droht, scheint auf eine Frage von brechen vs. gebrochen werden hinauszulaufen; aktiv vs. passiv, vor das Gesetz stellen oder dorthin gestellt worden sein. Dabei stärken einen vielleicht die eigenen Rhythmen und Regeln, so auch die Routinen, die täglichen Büroarbeiten. Von den kleinen Formen amtlicher Arbeit her erschließt sich das, was Kafka in die große Weltliteratur einschrieb. Was geholfen haben mag: Dass kaum jemand seinen Schreibtisch (cf. Bureau, cf. Parterre und Schreibtisch) so gut kannte wie Kafka, feste Bürozeiten wie ein Balzac. Und: zu lachen.