Parterre und Schreibtisch. Kafkaeske Weihnachten 1910

Das Dasein des Schriftstellers ist wirklich vom Schreibtisch abhängig, er darf sich eigentlich, wenn er dem Irrsinn entgehen will, niemals vom Schreibtisch entfernen, mit den Zähnen muß er sich festhalten.

Kafka → Brod, 5. Juli 1922

Kafka verfasst am 24. und 25.12.1910 ein Tagebuch-Notat (andernorts habe ich bereits über die Komplexität des Begriffs “Tagebuch” geschrieben, es gibt v.a. auch hervorragende Arbeiten wie Arno Dusinis “Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung” – wer noch auf den simplen autobiographischen Pakt einen Kredit gibt, möge dies gerne weiterhin tun; ein Tagebuch ist jedoch weder eine reine historische Quelle noch lässt es sich auf eine Phrase à la “alles ist bloß Text” herunterdreschen), das vorbehaltlich der FKA aus dem Haus Stroemfeld (herausgegeben von Peter Staengle und Roland Reuß – nach der Herausgabe des Schloss-Schubers und der Insolvenz von Stroemfeld wechselte der Verlag; die Ausgabe erscheint ab nun bei Wallstein und der nächste Band ist schon erschienen) sich etwa wie folgt ausmacht:

24 [Dezember 1910] Jetzt habe ich meinen Schreibtisch genauer angeschaut und eingesehn, daß auf ihm nichts Gutes gemacht werden kann. Es liegt hier so vieles herum und bildet eine Unordnung ohne Gleichmäßigkeit und ohne jede Verträglichkeit der ungeordneten Dinge, die sonst jede Unordnung erträglich macht. Sei auf dem grünen Tuch eine Unordnung, wie sie will, das durfte auch im Parterre der alten Teater sein. Daß aber aus den Stehplätzen
25 [Dezember 1910] aus dem offenen Fach unter dem Tischaufsatz hervor Broschüren, alte Zeitungen, Kataloge, Ansichtskarten, Briefe, alle zum Teil zerrissen, zum Teil geöffnet in Form einer Freitreppe hervorkommen, dieser unwürdige Zustand verdirbt alles. Einzelne verhältnismäßig riesige Dinge des Parterres treten in möglichster Aktivität auf, als wäre es im Theater erlaubt, daß im Zuschauerraum der Kaufmann seine Geschäftsbücher ordnet, der Zimmermann hämmert, der Officier den Säbel schwenkt, der Geistliche dem Herzen zuredet, der Gelehrte dem Verstand, der Politiker dem Bürgersinn, daß die Liebenden sich nicht zurückhalten u. s. w. Nur auf meinem Schreibtisch steht der Rasierspiegel aufrecht, wie man ihn zum Rasieren braucht, die Kleiderbürste liegt mit ihrer Borstenfläche auf dem Tisch, das Portemonnaie liegt offen für den Fall, daß ich zahlen will, aus dem Schlüsselbund ragt ein Schlüssel fertig zur Arbeit vor und die Kravatte schlingt sich noch teilweise um den ausgezogenen Kragen. Das nächst höhere, durch die kleinen geschlossenen Seitenschubladen schon eingeengte offene Fach des Aufsatzes ist nichts als eine Rumpelkammer, so als würde der niedrige Balkon des Zuschauerraumes, im Grunde die sichtbarste Stelle des Teaters für die gemeinsten Leute reserviert für alte Lebemänner, bei denen der Schmutz allmählich von innen nach außen kommt, rohe Kerle, welche die Füße über das Balkongeländer herunterhängen lassen. Familien mit soviel Kindern, daß man nur kurz hinschaut, ohne sie zählen zu können, richten hier den Schmutz armer Kinderstuben ein (es rinnt ja schon im Parterre) im dunklen Hintergrund sitzen unheilbare Kranke, man sieht sie glücklicherweise nur, wenn man hineinleuchtet u. s. w. In diesem Fach liegen alte Papiere die ich längst weggeworfen hätte, wenn ich einen Papierkorb hätte, Bleistifte mit abgebrochenen Spitzen, eine leere Zündholzschachtel, ein Briefbeschwerer aus Karlsbad, ein Lineal mit einer Kante, deren Holprigkeit für eine Landstraße zu arg wäre, viele Kragenknöpfe, stumpfe Rasiermessereinlagen (für die ist kein Platz auf der Welt), Krawattenzwicker und noch ein schwerer eiserner Briefbeschwerer. In dem Fach darüber –
Elend, elend und doch gut gemeint. Es ist ja Mitternacht, aber das ist, da ich sehr gut ausgeschlafen bin, nur insofern Entschuldigung, als ich bei Tag überhaupt nichts geschrieben hätte. Die angezündete Glühlampe, die stille Wohnung, das Dunkel draußen, die letzten Augenblicke des Wachseins, sie geben mir das Recht zu schreiben und sei es auch das Elendste. Und dieses Recht benutze ich eilig. Das bin ich also.

Was daran irritiert (und mit der Frage eines Freundes, was dies hier bedeute, das alles hier auslöste), ist die in Klammern gesetzte Bemerkung “es rinnt ja schon im Parterre”. Was “rinnt” da? Und weshalb “im Parterre”? Es geht Kafka wohl um die Analogie des Schreibtisches mit einem Theater, hier nun um das Parterre (respektive Parkett) in einem Theater, genauer: im Zuschauerraum. Am 24.12. heißt es bereits: “das durfte auch im Parterre der alten Teater sein”; am 25.12. und knapp davor nochmals “Einzelne verhältnismäßig riesige Dinge des Parterres” – hier erfolgen Verschiebungen, neue Bedeutungszuweisungen: dies trifft sich präzise dann schon mit dem, was Kafka mit seiner Schreibtischbeschreibung macht und wie er denselben dabei verwandelt.

Die Tagebuch-Notate von Kafka stehen (zu lesen wären nur ein paar Tage davor und danach, aber für jetzt genügen die beiden genannten Einträge) in einer bei ihm stetig wiederkehrenden Serie an Klagen, dass er nicht genug schreiben würde; gemeint ist: nichts aus seiner Sicht Publizierbares, das ihn als Schaffenden im Sinne des Autor-Seins ausweisen würde. Briefe und die sog. “Tagebücher” schreibt er ja durchaus intensiv. Sei es wie es sei – sein Schreibtisch wird ihm hier zum großen Theaterraum. Am 24.12. benennt er klar, dass das Parterre das grüne Tuch (gemeint wohl die Filzauflage des Tisches) sei: das ist der Ort seines Schreibens, wobei der Zuschauerraum Parterre/Parkett (Blicke auf sein Schreiben) und die Bühne (sein eigener Schreibakt, dem vielfältige Gegenstände in die Quere zu kommen scheinen, die dort eben nichts verloren haben) in eins gebracht werden. Die Aufbauten und ihre Unordnungen kommen noch hinzu, sind die Balkone und Ränge. Es ist durchaus kein vornehmes, gebildetes Publikum, das zusieht und Zeuge ist, wie unmöglich es aufgrund der zahlreichen Gegenstände am grünen Filz dem Autor sein muss, eine gute und saubere Aufführung zu geben – es stehen zu viele Dinge auf der Schreibfläche, die dort nicht sein sollten (es bei einem ‘ordentlichen’, einem ‚erfolgreichen’ Autor gewiss auch nicht sind).

Kafka schreibt diese Tagebücher wesentlich an seinem Schreibtisch, auf der Schreibfläche – es wäre m.E. nicht auszuschließen, dass bei der fraglichen Stelle weniger das Wasser im Parterre rinnt, als vielmehr Tinte, respektive und genauer: der Schreibfluss. Er, der Tagebuchschreiber Kafka, schreibt sich an einer Darstellung des Schreibtisches ab und notiert im Laufe seines Textierens, dass er doch auch Fortune hat, dass ihm das Bild gelinge und er im Fluss sei.

Die vielen benannten Dinge, die auf der Schreibfläche eingangs des 25.12. liegen, gehören dort nicht hin, es ist ein überaus chaotisches, unordentliches Theater (24.12.: “Parterre der alten Teater”). Aber dies eben ist sein Schreibraum. Er kommt dennoch ins Schreiben, ist plötzlich jemand der “nur kurz hinschaut, ohne sie [die Zusehenden] zählen zu können”, und bemerkt: “es rinnt ja schon im Parterre”. Kafka hat kaum noch Augen für das, was am Balkon und auf den Rängen passiert, was dort noch herumliegt und -steht. Der Schreibfluss und diesen aufrecht zu erhalten erfordert und gewinnt endlich seine ganze Aufmerksamkeit. Hier schreibt jemand vom eigenen Schreiben gegen widrige Umstände (“parterre sein” bedeutet im österreichischen Deutsch durchaus auch: “am Boden zerstört sein”) und richtet sein Schreibgerät auf, plötzlich gelingt etwas und fließt es eigentlich nicht nur im Parterre, sondern aufs Papier und weiter. | πάντα ῥεῖ | Wie eine Bestätigung dieser Annahme liest sich dann auch der letzte zitierte Absatz vom 25.12.1910. Der Autor Franz Kafka hat seine Weihnachtsgeschichte geliefert (eine wohl erstrebenswerte Auszeichnung für AutorInnen ist es nicht erst seit Erfindung des Feuilletons, zu Weihnachten die passende Geschichte aus eigener Feder publiziert zu sehen), im Theater des Tagebuchschreibraums abgegeben. “Das bin ich also.”


Nachtrag: Der Schreibtisch aus dem Tagebuch-Dezember 1910 lässt sich unschwer in einen Zusammenhang mit jenem aus dem Verschollenen (Fragment, 1911–1914) bringen, mit diesem »amerikanischen Schreibtisch bester Sorte«, der Karl Roßmann durch den Onkel vermittelt wird:

Natürlich war dieser Tisch mit jenen angeblich amerikanischen Schreibtischen, wie sie sich auf europäischen Versteigerungen herumtreiben, nicht zu vergleichen. Er hatte z. B. in seinem Aufsatz hundert Fächer verschiedenster Größe […] aber außerdem war an der Seite ein Regulator, und man konnte durch Drehen an einer Kurbel die verschiedensten Umstellungen und Neueinrichtungen der Fächer nach Belieben und Bedarf erreichen. Dünne Seitenwändchen senkten sich langsam und bildeten den Boden neu sich erhebender oder die Decke neu aufsteigender Fächer; schon nach einer Umdrehung hatte der Aufsatz ein ganz anderes Aussehen, und alles ging, je nachdem man die Kurbel drehte, langsam oder unsinnig rasch vor sich. Es war eine neueste Erfindung, erinnerte aber Karl sehr lebhaft an die Krippenspiele, die zu Hause auf dem Christmarkt den staunenden Kindern gezeigt wurden, und auch Karl war oft, in seine Winterkleider eingepackt, davor gestanden und hatte ununterbrochen die Kurbeldrehung, die ein alter Mann ausführte, mit den Wirkungen im Krippenspiel verglichen, mit dem stockenden Vorwärtskommen der Heiligen Drei Könige, dem Aufglänzen des Sternes und dem befangenen Leben im heiligen Stall. […] Der Tisch war freilich nicht dazu gemacht, nur an solche Dinge zu erinnern, aber in der Geschichte der Erfindungen bestand wohl ein ähnlich undeutlicher Zusammenhang wie in Karls Erinnerungen. Der Onkel war zum Unterschied von Karl mit diesem Schreibtisch durchaus nicht einverstanden, nur hatte er eben für Karl einen ordentlichen Schreibtisch kaufen wollen, und solche Schreibtische waren jetzt sämtlich mit dieser Neueinrichtung versehen, deren Vorzug auch darin bestand, bei älteren Schreibtischen ohne große Kosten angebracht werden zu können. Immerhin unterließ der Onkel nicht, Karl zu raten, den Regulator möglichst gar nicht zu verwenden; um die Wirkung des Rates zu verstärken, behauptete der Onkel, die Maschinerie sei sehr empfindlich, leicht zu verderben und die Wiederherstellung sehr kostspielig. Es war nicht schwer einzusehen, daß solche Bemerkungen, nur Ausflüchte waren, wenn man sich auch andererseits sagen mußte, daß der Regulator sehr leicht zu fixieren war, was der Onkel jedoch nicht tat.