Eine Fortsetzung des Gedankengangs über Gespenster & Medien bietet sich mit dem ungeheuerlichsten Roman zumindest des 19. Jahrhunderts an, der präzise in seiner Mitte erscheint (wie lang oder kurz man dieses Jahrhundert zu ziehen für erforderlich ansieht): Melvilles Moby-Dick. Es gibt nicht wenig Geisterhaftes an Bord der Pequod und auch das Werk Melvilles nach dem Weißen Wal wird diesem nicht entraten. Es geht wesentlich um blutige Köpfe und weiße Gestalten, Schemen, Irrungen, um das verzweifelte Begehren nach Wahrschau und die Wahrnehmung der unaufhaltsame Anbahnung eines Untergangs.
Niels Werber hat eine der Schnittstellen für den Nahebezug des MD zur schauerromantischen Anwandlung der Manifeste und Kapital-Kritiken geöffnet:
An Bord der Pequod hat sich die Allianz von politischer Gewalt und wirtschaftlichen Interessen aufgelöst, womit nach Marx und Engels die ›Existenzbedingungen‹ der bestehenden Ordnung wegfallen. Die Pequod verschwindet samt Kapitän, Offizieren, Mannschaft und ihrer kostbaren Fracht. Das Phantom, mit dem seine Zukunft verbunden ist, weist Ahab als Lotse den Weg in den Untergang. Mit der Pequod verschwinden zugleich das feudal-absolutistische Staatsschiff und das kapitalistische Unternehmen. Die Phantome an Bord [gemeint ist Ahabs heimlich an Bord gebrachte Spezial-Crew – ›five dusky phantoms‹ – rund um den Parsen Fedallah; Anm.] ziehen ›eine Linie vom Leben in den Tod, ins Umtauschbare und ans Ende aller Transaktionen‹.
Bereits ein exemplarischer Blick in dieses Buch, die Lektüre des 69. Kapitels erweist jedenfalls unschwer eine wesentliche Neuerung Melvilles gegenüber den Bemühungen Kants, Hegels, Schopenhauers (dessen »Parerga und Paralipomena«, damit auch sein »Versuch über das Geisterseher und was damit zusammenhängt«, gleichfalls 1851 erscheinen) und vieler anderer. Es gibt die Geister und es gibt künstlerische Verfahren, sie hervorzurufen. Nicht einfach als Vorstellung von etwas Unbestimmten, sondern durchaus auf Leben und Tod gemünzt. Seine ›Maschine‹ ist ein frisch geflenster Walkadaver, keine Laterna magica – aber sehr eigentlich handelt er basal einmal davon, dass es um Fehldeutungen geht, um Fehllektüren, die aufgrund des je eigen wahrgenommenen Dispositivs sich herleiten. Dabei entlädt er die Geschichte hinsichtlich dieser so banalen wie falschen Wahrnehmungen und lädt sie sogleich mit einem neuen und viel stärkeren Mythos auf, nachdem er den Pakt mit den Lesenden geschlossen hat (denen er das Geheimnis entbarg, das nur die Walfänger richtig zu dechiffrieren wüssten): es gibt selbstverständlich Geister, sie sind jedoch bedeutend spannender und gefährlicher, als man denken möchte.
Denn es geht in dieser »Bestattung« des Wals auf offener See, beim ceteologischen »Funeral«, um die Wahrnehmung durch Andere/Dritte, das Missverständnis von den Phantominseln und die mediale Fixierung derselben, die Einzeichnung in Karten. Zwei verschiedene Systeme treffen aufeinander: die Tranproduktion für das Festland und die nautische Warnzeichenproduktion. Es ist in gewisser Weise ein Entbergen – erschließen, umformen, speichern, verteilen, umschalten –, aber ein Entbergen unter falschen Voraussetzungen. So wird es zu einem Verbergen, die alétheia wird durch die mediale Umsetzung (Wahrnehmung aus der Ferne, Eintragung ohne Prüfung, Verbreitung) verborgen bleiben; hingegen wird etwas, das bis dahin nicht ist, geschaffen. Umgekehrt erfährt das was ist, hingegen nicht vollständig erkannt wird, einen völlig neuen Sinn.
Nor is this the end. Desecrated as the body is, a vengeful ghost survives and hovers over it to scare. Espied by some timid man-of-war or blundering discovery-vessel from afar, when the distance obscuring the swarming fowls, nevertheless still shows the white mass floating in the sun, and the white spray heaving high against it; straightway the whale’s unharming corpse, with trembling fingers is set down in the log—SHOALS, ROCKS, AND BREAKERS HEREABOUTS: BEWARE! And for years afterwards, perhaps, ships shun the place; leaping over it as silly sheep leap over a vacuum, because their leader originally leaped there when a stick was held. There’s your law of precedents; there’s your utility of traditions; there’s the story of your obstinate survival of old beliefs never bottomed on the earth, and now not even hovering in the air! There’s orthodoxy! [/] Thus, while in life the great whale’s body may have been a real terror to his foes, in his death his ghost becomes a powerless panic to a world. [/] Are you a believer in ghosts, my friend? There are other ghosts than the Cock-Lane one, and far deeper men than Doctor Johnson who believe in them.
Die Erwähnung der »Cock Lane« am Ende von MD 69 deutet die Möglichkeit qualitativ unterschiedlicher Geistererscheinungen an; Samuel Johnson, der einer Untersuchungskommission angehörte, die 1762 dem kolportierten Phänomen eines Mediums nachgehen sollte – Melville hatte sich Boswells Biografie besorgt und bei seinem London-Aufenthalt die Cock Lane aufgesucht –, wird sehr ungefähr als jemand bezeichnet, demgegenüber es »far deeper men« gäbe, die so wie Melville den Vorzug dieser Erscheinungen und Existenzen durchaus anzunehmen wüssten. Damit wird die Möglichkeit eines Mediums und seiner Nachrichten deklariert und über eine absolute, rationale Tagseite der Aufklärung gestellt. James Boswell zufolge soll Johnson durchaus differenziert haben:
Er sprach auch vom Gespensterglauben und erklärte, er unterscheide zwischen dem, was man mit Hilfe der Einbildungskraft herausfinden könne und was nicht.
Aber eben selbst noch im Tod – dies wäre das Geisterhafte – kann es (wiewohl fehlverstandene bzw. dann eben vom Geisterhaften so fehlerhaft gelenkte) Kommunikation geben, etwa wenn der zur Weiße hin geschälte Walrumpf über das Meer hinweg leuchtet, ohne Kopf doch immer noch mächtig, dem die Haie zur Gischt werden, er selbst zum Felsen in den Logbüchern und Seekarten. Die aufgeklärten Johnsons fahren über die Meere, doch da sie sich nicht auf andere Ebenen einzulassen vermögen, werden sie die Meere und ihre Tiefen, ihre Bewohner und tatsächlichen Gefahren nicht verstehen. (cf. »Leichentuch« für Meer, unter dem alle bis auf den Erzähler verschwinden)
Bei den Geistern gibt es Analogien zu Oberflächenphänomenen und deren spezifischer Zurichtung für Zwecke der Interpretation zu beobachten. Die auf unterschiedlichen Medienkanälen einschlägig popularisierte ›Literatur‹ sieht für Gespenster und Geister wie zumeist auch Untote eine Art Dematerialisierung der Körper vor. Die Oberfläche ist eine angenommene, einen feststofflichen Kern gibt es eher nicht; das Phänomen ist Träger von Botschaften. Die »Geister« sind akustisch (Klopfgeräusche) oder visuell wahrnehmbar, bevorzugt semi-transparent bis weiß-durchscheinend. (Klopfen und Kratzen im Sinne etwa einer Ja/Nein-Kommunikation könnten an sich alle hören, wohingegen das bei Stimmen komplizierter ist. Der Nebeneffekt wäre jedenfalls, dass die materielosen Geister auf diesem Weg eine feststoffliche mediale Form erhalten, eine Materialitätsqualität zugesprochen erhalten. Auch im MD gibt es Zeichensysteme unterschiedlichster Art, von Tätowierungen bis hin zum Spout des Wals.) Es sind durchaus viele Geister im 18. und 19. Jahrhundert unterwegs, die als präsente Begleiter aufgerufen werden, einige wurden oben erwähnt. Ähnlich scheint es heute mit den Vermittlungsinstanzen der elektronischen Medien sich zu verhalten, sintemal die als »social« apostrophierten bis perhorreszierten und als ›Geistererscheinungsbedürfnisanlagen‹ zu bezeichnenden.
Melvilles Tagebuchaufzeichnungen lassen darauf schließen, dass er
Samstag, 10. Nov. [1849] […] durch die Temple Courts & Gärten, Lincoln’s Inn, New Hall, Gray’s Inn, über Holborn Hill und Cock Lane (Dr. Johnsons Gespenst) nach Smithfield (West) [schlenderte].
Das hatte einen sehr eigenen Grund, denn zur Zeit von Melvilles Aufenthalt in London waren die geisterhaften Gerüchte um die Ereignisse in der Cock Lane erneut ein Thema geworden, es kam sogar zur Exhumierung der vorgeblich ermordeten Wiedergängerin. So berichtet etwa auch Charles Mackay – 1841 war die erste Auflage erschienen, Melville war 1849 in London, die 2. Auflage kam 1852 heraus – im 2. Band seiner »Memoirs of Extraordinary Popular Delusions« unter dem Titel »Haunted Houses« von der Geschichte des Geistes in der Cock Lane. Hintergrund der neuen Popularität des Falls war, dass Mackays Illustrator J.W. Archer die Öffnung des Sargs durchsetzen hatte können. Was man angeblich vorfand, war eine unversehrte Leiche, was messerscharf alle Beteiligten auf eine damals stattgehabte Arsen-Vergiftung schließen ließ. (Natürlich hätte es auch ein erst vor kurzem bestatteter Sarg sein können, da jede Aufschrift fehlte, aber so genau wollte das wohl niemand wissen.) Der schriftliche Bericht ging mit der 2. Auflage in Druck, die insgesamt eine gründliche Überarbeitung und auch Erweiterung gegenüber der ersten aufweist und jedenfalls die medialen Fähigkeiten von Elizabeth Parson extrapolierte, nachdem die Graböffnung die fast 90 Jahre alten Sensationen neu aufleben hatten lassen. Für den touristischen Mehrwert war also zu Melvilles Zeit bestens gesorgt.
Zuvor und wiederum in New York hatten 1848 die »Fox Raps« für einschlägiges Aufsehen gesorgt – Melville konnte also im Bilde sein hinsichtlich derartiger Zeichen und Bedeutungszuschreibungen.
Medienhistorisch festzustellen ist an dieser Stelle, dass die Klopfgeister (so auch jene der Cock Lane) lange vor den Telegrafen im akustischen Raum waren. Hierin lag Friedrich Kittler tendenziell nicht richtig, als er in »Grammophon Film Typewriter« (1985) nur Augen fürs Morsealphabet und Ohren für die Fox Raps hatte, daher fast zwangsläufig annehmen musste, dass diese Klopfgeister »der Erfindung des Morsealphabets« nachgefolgt seien. Vielmehr waren diese Nachrichtenformen (kommunikativ bipolar verdichtet: Ja/Nein, 0/1 geschaltet) schon lange vor den ersten Telegraphen in der Welt. (NB: Eine Geschichte der akustischen Signalements vor dem Aufkommen des Morsens – es wird sich wesentlich um restringierte Vokabularien gehandelt haben, wie sie aus technischen Gründen auf noch bei der Nachrichtenübertragung mittels optischen Telegrafen verwendet wurden – würde ich gerne lesen.)
In Melvilles MD finden sich immer wieder Gespenster, Geister und einschlägig zuordenbare Phänomene. Dies hat auch mit seinen Lektüren zu tun: Sorgfältig verzeichnet er seine Londoner Neuerwerbungen, darunter James Boswells »Johnson«, Abenteuer- und Schauerromane wie Mary Shelleys »Frankenstein«, Werke der englischen Romantik, aber auch Schillers »Geisterseher«. Und gerade dieses Buch wird er während der Abfassung des MD im Kreis der Familie vorlesen, wie Daniel Gösker zusammenfasst:
Von morgens bis fünf Uhr nachmittags arbeitet Melville an seinem immer weiter wuchernden Walbuch. Abends, wenn ihm das Licht fehlt, sitzt man beisammen und liest sich vor: Schillers ›Geisterseher‹ zum Beispiel oder Dickens’ ›David Copperfield‹.
Hershel Parker resümiert:
During the long evenings the family got around to reading aloud a book Melville had brought back from England, Schiller’s ›Ghost-Seer‹. Early in January Augusta reported that they had finished it […]
Auch die Ankäufe und Bibliotheksleihen Melvilles noch 1850 in New York zeigen ein Interesse an deutscher Literatur der letzten Jahrzehnte, insbesondere im Zusammenhang mit Romantik: Goethes »Wilhelm Meister«, Carlyles »German Romances«, eine Sammlung mit Erzählungen von Fouqué, Tieck, Hoffmann und Jean Paul. Die Einschätzungen Göskes (Hermann Melville, 2006, S. 227): »Neben zahlreichen nautischen und walkundlichen Werken bilden viele dieser Werke den Hintergrund des späteren ›Moby-Dick‹«.
Eine Anschlussfähigkeit paranormaler Erscheinungsweisen zeigt auch der Übergang von Kapitel 69 zu 70, »The Sphynx«, wenn Ahab den Walschädel nach den Geheimnisses des Meeres befragt – vom Klopfgeist der Elizabeth Parson (das Medium, das vom Tode Frances Lynes’ – deren unversehrten Leichnam exhumiert zu haben man wähnte – kündete) geht es da zur Sphinx des Walschädels, der »wie das Haupt des gewaltigen Holofernes an Judiths Gürtel« erscheint und über Moby Dick Auskunft geben soll. Geister sind – wenn es um Botschaften geht – offensichtlich medial sehr versierte Erscheinungsideen, die ihre Nachrichten für jene spezifisch codieren, die wiederum die einzigen sind, die diese Codes zu dechiffrieren wissen. Ahab ist einer dieser derart Wissenden und Verstehenden (sein Entbergungs-Fanatismus bringt ihn dazu, mit dem abgetrennten Kopf des Wales zu kommunizieren; eine private Séance), so wie das Mädchen in der Cock Lane oder Melvilles Erzähler.
Ein Zusammenhang von Geistern und Zeichensystemen, die verschieden interpretiert werden, ist evident. Gespenster erzählen etwas aus der Vergangenheit, stellen es damit in der Gegenwart nochmals als ungelöste Aufgabe. Eine wesentliche Funktion ist es somit, ein aktiv verdrängtes oder vergessenes Zeichen zu reiterieren. Damit werden Irritationen generiert, entstehen Rätsel, die nur unter Rückgriff auf Vergangenes in der nunmehr gegenwärtigen Situation eine Möglichkeit auf Lösung haben. Mehr als die Möglichkeit ist es nicht, gerade wenn das vorgestellte Zeichensystem in einem zumindest ersten Schritt nicht als aus vergangenen (auch Schuld-) Zusammenhängen rührend erkannt wird. Gespenster, insbesondere wiederkehrende, machen somit zwei Dinge deutlich: erstens dass nicht geklärt wurde, wofür sie einstehen; zweitens dass keine Dechiffrierung erfolgte. Nimmt man das, was einem als Rätselkomplex vorgestellt wird, nicht unter Bezugnahme auf ein ›Früher‹ an, sondern decodiert es einfach als eine rein heutige Erscheinung, präsentisch ohne ursächlichen Begründungszusammenhang, ist die Fehlinterpretation naheliegend. Dieser Ausgang wird in Kapitel 69 augenscheinlich gemacht.
– Querverweis: Filet № 69
– Querverweis 2: Tatsächlich dürfte es zumindest 1843 genau so einen Fall der maritimen Fehllesart gegeben haben, im Zshg. mit einem Walfänger aus New Bedford. Allerdings lag der Fehler nicht bei der Walfängern und Logbuch-Eintragenden, sondern bei denen, die es auslasen. (S. dazu ›ad 4.‹ bei den Rätseln, eine ›Lösung.)
– Querverweis 3: Verlesen