Gespenster und geraubte Küsse

Dass Kafka an Jesenská einen Brief schrieb, in dem er davon berichtete, dass bereits dieser Vorgang – »Briefe schreiben« – bedeute, »sich vor den Gespenstern [zu] entblößen, worauf sie gierig warte[te]n«,[*] ist in Zeiten der Mailer-Dæmons in den Kanälen, SMS-Versendungen auf Basis von SS7, der medientechnischen wie -historischen Ahnungslosigkeit der ›publizierenden‹ Schreibknechte und -mägde (wie auch der anderen stets neu in diesen ungeahnten Fährnissen so kläglich zerschellenden Nichtlesenden) bemerkenswert. Dass ebendieser Kafka dann auch noch hinzusetzt: »Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken«, ist nun nicht allein eine kühne Analogie; vielmehr ist es auch die präziseste Hilfestellung und Warnung gerade für zweckdienliche Maßnahmen im elektronischen Liebes-, Geschäfts- und ohnehin Warenverkehr in digitalen Kanalisationen Alles wäre ›auszutrinken‹. Vielleicht hilft es, mit den Gespenstern ins Einvernehmen sich zu setzen & mit dem Dæmon auf ein Bier zu gehen. 


Die leichte Möglichkeit des Briefeschreibens muß – bloß theoretisch angesehn – eine schreckliche Zerrüttung der Seelen in die Welt gebracht haben. Es ist ja ein Verkehr mit Gespenstern und zwar nicht nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst, das sich einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt oder gar in einer Folge von Briefen, wo ein Brief den andern erhärtet und sich auf ihn als Zeugen berufen kann. Wie kam man nur auf den Gedanken, dass Menschen durch Briefe miteinander verkehren können! Man kann an einen fernen Menschen denken und man kann einen nahen Menschen fassen, alles andere geht über Menschenkraft. Briefe schreiben aber heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten. Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken. Durch diese reichliche Nahrung vermehren sie sich ja so unerhört. Die Menschheit fühlt das und kämpft dagegen, sie hat, um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten, und den natürlichen Verkehr, den Frieden der Seelen zu erreichen, die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfunden, aber es hilft nichts mehr, es sind offenbar Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist soviel ruhiger und stärker, sie hat nach der Post den Telegraphen erfunden, das Telephon, die Funkentelegraphie. Die Geister werden nicht verhungern, aber wir werden zugrundegehn.

Kafka > Jesenská: 03/1922