Goldadern

Um auf die Bibliothek als Lagerstätte des Gehirnphosphors, ihre Reih’-&-Glied-Ordnung in Katalog und Regal nebst dem Kopf des Bibliothekars zurückzukommen: In Jean Pauls Komischem Anhang zum Titan (in der Folge zitiert nach Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 3: Titan, Komischer Anhang zum Titan, Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana. Hg. v. Norbert Miller. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1996, S. 831–1010), im so betitelten »Pestitzer Realblatt« (»8ter Jenner, Erhardusblatt«) findet sich im Zuge der »Fortsetzung der Bibliographie von Hukelum« eine Stelle, die sich mit Musils Mann ohne Eigenschaften unmittelbar erschließt – und umgekehrt; über einen Schulbibliothekar heißt es:

In der Tat ist vielleicht in diesem Säkul nichts so wichtig als Bücher und deren Katastra. […] Mein erster bibliothekarischer Gang war zum Schulmeister und zur Schulbibliothek; beide waren nicht zu Hause. […] Die wie ein Regiment stückweise im Dorfe einquartierte Schulbibliothek konnt‘ ich da freilich nicht durchgehen. Wie nämlich in manchen Lesegesellschaften jedes Mitglied ein Buch beisteuert: so kaufte von jeher jedes Mitglied der hukelumschen Abc-, Buchstabier- und Lesegesellschaft ein kleines Werk, das insofern zur Schule gehört, als der kurze greinende Käufer selber dazugehört; wenn aber abends die Schule aus ist, so trägt jeder Schulgenoß und Interessent der Bibliothek sein Exemplar wieder heim nebst dem darangeketteten Griffel und sorgt nicht für den andern Morgen, was werden wir essen und lesen. Ich untersuchte indes die Katalogen dieser Universitätsbibliotliek genauer – […] Ich tat dem Bibliothekar Halß die Frage nach der Lesestube dieser Leseanstalt; er sagte, ich sei darin und hier sei die Lesebank, ja noch die Buchstabier- und Abc-Bank dazu. [E]r mache Prozeßschriften für die Bauern, während die Kinder aus den Büchern herläsen, weil er in keine zu sehen brauche und alle schon auswendig könne. Selten kann ein Bibliothekar seine Bibliothek auswendig. Wie edle Staatsbediente alle Goldadern des Staates durch ihre Hände laufen lassen, und doch diese nicht damit füllen, sondern tugendhaft verarmen: so werfen und beuteln gute Rats- und Universitätsbibliothekare die literarischen Schätze treu durch ihre Hände, ohne etwas davon in ihrem Kopf beiseite zu bringen; sie sind Schießpulver, durch dessen Drahtleitung das elektrische Licht, ohne anzuzünden, schießet. –

Jean Paul, SW I/3, S. 852ff.

Bei Musil liest man im 100. Kapitel des MoE – »General Stumm dringt in die Staatsbibliothek ein und sammelt Erfahrungen über Bibliothekare, Bibliotheksdiener und geistige Ordnung« –, in einem Bericht des Generals an den MoE (was hie und da schon angesprochen wurde):

[D]a wird er geradezu unheimlich höflich und bietet mir an, mich ins Katalogzimmer zu führen und dort allein zu lassen, obgleich das eigentlich verboten ist, weil es nur von den Bibliothekaren benützt werden darf. Da war ich dann also wirklich im Allerheiligsten der Bibliothek. Ich kann dir sagen, ich habe die Empfindung gehabt, in das Innere eines Schädels eingetreten zu sein; rings herum nichts wie diese Regale mit ihren Bücherzellen, und überall Leitern zum Herumsteigen, und auf den Gestellen und den Tischen nichts wie Kataloge und Bibliographien, so der ganze Succus des Wissens, und nirgends ein vernünftiges Buch zum Lesen, sondern nur Bücher über Bücher: es hat ordentlich nach Gehirnphosphor gerochen, und ich bilde mir nichts ein, wenn ich sage, daß ich den Eindruck hatte, etwas erreicht zu haben! […] ›Herr Bibliothekar,‹ rufe ich aus ›Sie dürfen mich nicht verlassen, ohne mir das Geheimnis verraten zu haben, wie Sie sich in diesem‹ – also ich habe unvorsichtigerweise Tollhaus gesagt, denn so war mir plötzlich zumute geworden – ›wie Sie sich‹, sage ich also, ›in diesem Tollhaus von Büchern selbst zurechtfinden.‹ Er muß mich mißverstanden haben; nachträglich ist mir eingefallen, daß man behauptet, Wahnsinnige sollen mit Vorliebe anderen Menschen vorwerfen, daß sie wahnsinnig seien; jedenfalls hat er immerzu auf meinen Säbel geschaut und war nicht zu halten. Und dann hat er mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Wie ich ihn nicht gleich loslasse, richtet er sich plötzlich auf, er ist förmlich aus seinen schwankenden Hosen herausgewachsen, und sagt mit einer Stimme, die jedes Wort bedeutungsvoll gedehnt hat, als ob er jetzt das Geheimnis dieser Wände aussprechen müßte: ›Herr General,‹ sagt er ›Sie wollen wissen, wieso ich jedes Buch kenne? Das kann ich Ihnen nun allerdings sagen: Weil ich keines lese!‹ […] Es ist das Geheimnis aller guten Bibliothekare, daß sie von der ihnen anvertrauten Literatur niemals mehr als die Büchertitel und das Inhaltsverzeichnis lesen. ›Wer sich auf den Inhalt einläßt, ist als Bibliothekar verloren!‹ hat er mich belehrt. ›Er wird niemals einen Überblick gewinnen!‹

Robert Musil: GA Bd. 2, S. 236ff.

Hinsichtlich des Weißen Phosphors aka Bibliothek- und Katalograum ließ sich schon einiges klären, mit dem in Relation dazu stellbaren Intertext Jean Pauls, der ein ebenso explosives Spannungsverhältnis berichtet – »Schießpulver, durch dessen Drahtleitung das elektrische Licht, ohne anzuzünden, schießet« –, ist militärtechnologisch zwar um gut 100 Jahre zurückzugehen, allerdings erweist sich eine bibliothekarische Idee, durch den Aggregatzustand einer abrufbaren Wissensordnung brisant zu sein und unabsehbar darin zu wachsen, als fortgesetzt fix. Verzettelter weißer Gehirnphosphor, Schießpulver und elektrische Leitungen, Lichtfunken. (Die Leitungen von Gutenberg zu Turing [.pdf] sind recht stabil.) Das ist auch insofern notwendig, als man die Goldadern in der Nacht der Substanz – wenn mit Dylan Thomas es »starless and bibleblack« hergeht – sonst nicht so einfach ausmachen kann. Selbsttätigkeit, als höchste Bestimmung des Kantschen (dann:) Subjekts, bedarf Übertragung einer in Maschinen und Systemen (Formaten, Katalogen, Zettelkästen, Maschinen,…). Erst im Phosphorlicht funkeln die Goldadern.


(Und für die Spieleecke: ein Zusammenlesen von Melville »Cetology«-Kapitel im MD mit Jean Pauls oben zitiertem »Erhardusblatt« hinsichtlich der Buchformate…)