Per Gutenberg durch die Turing-Galaxis

Der in der Folge verlinkte Beitrag für die Emergenzen-Reihe der Plattform »Kakanien Revisited« (Amália Kerekes von der ELTE Budapest und ich dachten uns etwas dabei [.pdf]) versucht verschiedene Aspekte zusammenzuspannen: Zum einen soll darauf verwiesen werden, wie sehr sich Muster und medial bedingte Formen der Wahrnehmung, ob nun bei der Beschreibung von Grabsteinen, Cartoons oder dem vom Fernsehen beeinflussten Narrativ an sich, in Fragen der Kunst, Abbildung von „Realität“, der Rezeption von Texten und anderen Kulturphänomenen etc. verändern. Die Frage der Substanz, für die Sichtbarkeit gedruckt bei Gutenberg und in die Unsichtbarkeit elektrifiziert bei Turing, steht immer wieder im Mittelpunkt.

Zum anderen wird anhand des Übergangs vom aus Holz gefertigten Zettelkasten und dem nach Jahrzehnten und Jahrhunderten schließlich halbwegs vereinheitlichten Sortierungssystem hin zu unterschiedlich formatierten Festplatten mit ebenso uneinheitlichen Programmen jene Mischung aus Data Retention und Rauschen angedeutet, die mit als zentrales Probleme aktueller Medienverbünde angesetzt werden muss.

In weiterer Folge wird anhand von Friedrich Kittlers Text Die Nacht der Substanz jene These angesprochen, wonach die Substanz im 19. Jahrhundert mit analogen Aufschreibe- wie Aufzeichnungssystemen wohl noch sichtbar ist, sie im 20. jedoch zunehmend in ihrer Unmittelbarkeit schwindet und im 21. nicht mehr greifbar erscheint (fast so, als hätte sie ihre Materialität verloren). Literatur erweist sich in diesen Zusammenhängen als durchaus hartnäckig, als widerständig. Und nicht jede Technik braucht gleich als Medium deklariert und mit dem passenden Strichcode versehen zu werden, sondern möglicherweise nur jene, deren Funktionen die Kulturtechniken Speichern, Übertragen und Verarbeiten von Informationen umfassen, d.h. anregen und ermöglichen. Paradigmatisch wird in diesem Kontext auf die Enigma des Zweiten Weltkriegs verwiesen, die tatsächlich für die „Nacht der Zeichen“ stehen sollte. Doch bleibt stets ein widerständiges Drittes. Eines, das die Verrechnung und den Warenstrom, das funktionierende Rauschen, stört.

Möglicherweise hilft die Verabschiedung eines rein technikfixierten Zugangs zur Medientheorie zumindest partiell: Gerade beim Katalogsystem und seiner wechselvollen Geschichte obsiegen letztlich nicht ausschließlich technisch-mediale Vorleistungen, entsprechende Eigendynamiken und materielle Bedingungen. Vielmehr treffen derart zu bestimmende Grundlagen auf höchst wirkungsmächtige Anforderungen der Zeit, denen sie unterworfen werden.

Per Gutenberg … [.pdf]


1. Aus dem Zettelkasten geplaudert

Aufgespannt wird dieser Aufsatz, exemplarisch aus dem mit Gutenberg assoziierten Reservoir schöpfend, zum einen mit Heinrich von Kleists Der Griffel Gottes und einem medialen Schöpfungsakt, der in Ermangelung von herbeizuschaffenden Zeugen und bar jedweden Buchdrucks nur durch letzteren übertragen werden kann:

In Polen war eine Gräfin von P…., eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution erteilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet! – Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen. [☞ 1]

von Kleist, Heinrich: Der Griffel Gottes. Berliner Abendblätter Nr. 5 v. 05.10.1810. Hier cit. nach von Kleist, Heinrich: Sämtliche Werke und Briefe Bd. 2, hg. v. Helmut Sembdner. 7. erg. u. revid. Aufl. München: Hanser 1987, p. 263.

Auf der anderen Seite wird im Sinne eines damit korrespondierenden Signals aus der Zeit der damals seit einigen Jahren angebrochenen, so apostrophierten »Turing-Galaxis« [☞ 2] ein Zitat zitiert, das Marshall McLuhan an den Beginn von Understanding Media setzte:

James Reston wrote in The New York Times (July 7, 1957): [/] A health director … reported this week that a small mouse, which presumably had been watching television, attacked a little girl and her fullgrown cat … Both mouse and cat survived, and the incident is recorded here as a reminder that things seem to be changing. [☞ 3]

McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man. Toronto: McGraw-Hill 1964, p.3.

Abgesehen davon, dass sich die Frage nach dem Verbleib des Mädchens stellt, was eben mit die Raffinesse der zitierten Selektion ausmacht und an Anekdoten von Kleist oder Kafka erinnert (lässt man den letzten Halbsatz weg), ändern sich in diesen medial so kurzatmigen eineinhalb Jahrhunderten, die zwischen den beiden Kurztexten zu liegen kamen, tatsächlich Muster und medial bedingte Formen der Wahrnehmung, ob nun bei der Beschreibung von Grabsteinen, Cartoons oder dem vom Fernsehen beeinflussten Narrativ an sich, in Fragen der Kunst, Abbildung von »Realität«, der Rezeption von Texten und anderen Kulturphänomenen [☞ 4] etc. Anhand der beiden zitierten Exempel, einer »Anekdote« vom Beginn des 19. und einem durchwegs seltsamen, ebenfalls anekdotisch anmutenden »Bericht« aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, ließe sich nun vieles über Aufschreibe- und v.a. Wahrnehmungsweisen (aber auch -systeme) berichten. Das Thema der Emergenzen wäre dabei stets eingeschlossen. Doch scheint es vorteilhaft, hiermit zunächst lediglich eine mögliche Ausgangsbasis – »Überlieferung« in Buch- bzw. (damals in den Berliner Abendblättern) Zeitungsform und deren Übertragung in die Buchgestaltung – anzudeuten; und für allfällige Unsicherheiten hinsichtlich der Ausgangs- oder auch Endgestalt von Zeichenformationen wie darauf basierenden Wahrnehmungsmatrices eine taugliche Dechiffrierhilfe heranzuziehen. [☞ 5]

Die Frage der Substanz, für die Sichtbarkeit gedruckt bei Gutenberg und in die Unsichtbarkeit elektrifiziert bei Turing, stellt (und beantwortet als leidenschaftlicher Bibliotheks- und Archivbesucher nur teilweise ironisch) auch Walter Benjamin, wenn er über nach Hegel festhält:

Und heute schon ist das Buch, wie die aktuelle wissenschaftliche Produktionsweise lehrt, eine veraltete Vermittlung zwischen zwei verschiedenen Karthoteksystemen. Denn alles Wesentliche findet sich im Zettelkasten des Forschers, der’s verfaßte, und der Gelehrte, der darin studiert, assimiliert es seiner eigenen Karthotek. [☞ 6]

Benjamin, Walter: Einbahnstraße. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. IV.1: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Hg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991 (stw 934), pp. 83-148.

Der vorliegende Beitrag, ohne Rücksicht auf stilistische Verluste mit einem an Douglas Adams‘ Per Anhalter durch die Galaxis angelehnten Titel versehen, soll vor dem Hintergrund dieses Bandes und mit dem erwähnten Reiseführer im Gepäck also auch den Themenkomplex der Zettelwirtschaft [☞ 7] als Medienphänomen im Sinne der Emergenzen anzudeuten suchen: Der Übergang vom aus Holz gefertigten Zettelkasten und dem nach Jahrzehnten und Jahrhunderten schließlich halbwegs vereinheitlichten Sortierungssystem hin zu unterschiedlichst formatierten Festplatten mit ebenso uneinheitlichen Programmen steht stellvertretend für jene Mischung aus Data Retention und Rauschen, die mit als zentrale Probleme aktueller Medienverbünde angesetzt werden müssen. Natürlich offeriert ein Zettelkasten, sei es ein literaturmächtiger wie der von Arno Schmidt, einer der materialisierten Verweiskraft wie jener einer Staatsbibliothek oder nur der virtuelle des Verfassers, mitunter auch eine Retrospektive; sei es Ergebnis der eigenen Lektüre, ein übernommener Verweis oder auch eine tatsächliche Ausstellung des Unwiederbringlichen. Der Untertitel des Katalogs zur Ausstellung »Der Zettelkatalog. Ein historisches System geistiger Ordnung« [☞ 8] (anlässlich der 1998 abgeschlossenen Digitalisierung wie anschließend weitgehenden Skartierung des realen Zettelkatalogs der Österreichischen Nationalbibliothek) zitiert etwa anspielungsreich aus Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, in dessen Verlauf »General Stumm in die Staatsbibliothek [ein]dringt und Erfahrungen über Bibliothekare, Bibliotheksdiener und geistige Ordnung [sammelt]«. [☞ 9] Diese fördern dann u.U. als klar zutage:

Die Übersichtlichkeit in der Materialität der Dinge, um deren Verschwinden wir in grillenhaften Momenten gerne trauern, ist nicht mehr zu haben, und für eine auf Langsamkeit und Umwege beruhende Produktivität des Denkens besteht – so scheint es zumindest – derzeit keine Nachfrage. [/] So ist der Zettelkatalog heute eine im ästhetischen Sinn schöne Erinnerung. Befreit von seinem ursprünglichen Zweck, wirkt der semiotische Verweisraum des Kataloges in seiner wuchtigen Materialität aus Holz, Kunststoff, Metall und Papier und seinem Gewicht von zehn Tonnen gleichermaßen obsolet wie modern, in seiner Perfektion und seinem Anspruch ebenso lächerlich wie erhaben. [☞ 10]

Strouhal, Ernst: Zettel, Kasten, Katalog. In: Petschar/Strouhal/ Zobernigg 1999, pp. 9-16, hier p. 15.

Ein letztes Zitat noch, aus dem eigenen Zettelkasten, im Rahmen eines Essays vor beinahe 100 Jahren erschienen (1910 in der Neuen Rundschau) und von erstaunlicher wie zweckdienlicher Aktualität hinsichtlich der nächsten Schritte:

Das größte Mißverhältnis in alle Bewegungen hat die Maschine gebracht. Dadurch, daß sie das Bewegende beliebig zusammenschrumpfen ließ, oder gar unsichtbar machte, bewirkte sie eine völlige Anarchie unserer eingepflanzten Proportionalforderungen. Früher erlebte man nur Proportionen, die organische Möglichkeiten ausdrückten, erlebte daher sozusagen immerfort eine Proportion. [☞ 11]

Popper, Leó: Zur Ästhetik des Aeroplans. In: Ders.: Schwere und Abstraktion. Versuche. Übers. v. Anna Gara-Bak. Berlin: Brinkmann & Bose 1987, pp. 50-54, hier p. 52.

Der angesprochene Zettelkasten Arno Schmidts (zu finden auf der Website der Arno-Schmidt-Stiftung [☞ 12] und von Friedrich Forssmann fotografiert) wird lediglich, denn mehr kann es nicht sein wollen, zum Vazieren geöffnet, für den anderen Gedankenstrom, der ein solcher bleibt und sich nicht und nicht den Datenbanken und deren hierarchischen Verfügungsgewalten einordnen lässt (darin durchaus mit Schmidts Werk Zettels Traum vergleichbar). Die nächsten Schritte der öffentlichen Verwaltungen im Sinne der Data Retention werden, was sich anhand der Literaturen paradigmatisch zeigen lassen könnte, mit der Nicht-Homogenisierbarkeit, der Eigenwilligkeit der »Daten«, dem Rauschen zwischen den Spalten und in den Kanälen, gröbere Hürden als nur die Frage passender Datenmigration erfahren.

2. Reise- und Medienführer, Langsamkeit vs. Verschwinden

Von Gutenberg (die ihm zugeschriebene Kulturepoche indizierte Wahrnehmung selbstverständlich ebenfalls medial) und den Bleilettern zur so apostrophierten Turing-Galaxis hin und durch diese vazierend wird nun Friedrich Kittlers längerer Vortrag/Aufsatz [☞ 13] Die Nacht der Substanz, der auch in Buchform [☞ 14] erschienen ist, kritisch als Reiselektüre herangezogen und folglich auf seine entsprechende Tauglichkeit hin zu überprüfen sein. [☞ 15] Dabei werden unweigerlich verschiedene Zettelkästen und Lettern durcheinander geraten; und gerät jene These ins Visier, wonach die Substanz (die Kittler über die Diagnose ihres Verschwindens an vier kulturhistorisch relevanten Stellen16 zu orten versucht) im 19. Jahrhundert mit dessen analogen Aufschreibe- wie Aufzeichnungssystemen wohl noch sichtbar ist, sie im 20. jedoch zunehmend in ihrer Unmittelbarkeit schwindet und im 21. nicht mehr greifbar erscheint (fast so, als hätte sie ihre Materialität verloren). [☞ 17]

Christian Schüle merkte in der Zeit anlässlich des Erscheinens von Friedrich A. Kittlers ersten Band zu seinem neuem Großprojekt über »Musik und Mathematik« an:

Friedrich Kittler ist ein grandioser Synthetiker und ein, bisweilen, gemeiner Autor.
Er vermag es ohne weiteres, Hesiod, Pink Floyd, Pynchon, Plutarch, Spengler und Lacan im Original in einer der zahllosen Nischen seines geheimnisvollen Baukastens zu einem Bündel zu schnüren und den geneigten Leser in ungelichteter Düsternis zurückzulassen. [☞ 18]

Schüle, Christian: Kirke, Kalypso, Kittler. In: Die Zeit Nr. 12 v. 16.03.2006, p. 73.

Vor diesem Hintergrund soll bei allem Respekt entgegen Kittlers möglicher (unterstellt sei: rhetorisch wohlgezielter) Flappsigkeit bei Zitaten und deren in sich schlüssiger Collage darauf verwiesen werden, woher das von ihm eingangs seines Vortrags/Aufsatzes/Buches Die Nacht der Substanz erwähnte »King Crimson«-Album Starless and Bibleblack seinen Titel bezieht (ohne dass er dies anführen dürfte): von Dylan Thomas‘ Under Milk Wood:

It is Spring, moonless night in the small town, starless and bibleblack, the cobblestreets silent and the hunched, courters’-and-rabbits’ wood limping invisible down to the sloeblack, slow, black, crowblack, fishingboat-bobbing sea. […] And all the people of the lulled and dumbfound town are sleeping now. [☞ 19]

Thomas, Dylan: Under Milk Wood: A Play for Voices, ed. Daniel Jones. New York: New Directions 1954, p. 1

Das geht – so die latent gegen einen (teleo?)logischen Technikdeterminismus gewendete und dabei dessen Optionen und Relevanzen nicht missachtende These – natürlich als Motto dann nur mehr schwerlich mit Kittlers Bemühen zusammen, im Rahmen seiner Überlegungen die Nächte in jene des unablässigen Datenstroms überzuführen.

Literatur erweist sich in diesen Zusammenhängen übrigens durchaus hartnäckig als widerständig. Philosophie und Denken vermögen sich, wie Uwe Jochum und Gerhard Wagner unter Verweis auf Hans Blumenberg in »Cyberscience oder Vom Nutzen und Nachteil der neuen Informationstechnologie für die Wissenschaft« ausführen, ohnehin sehr gerne zu sträuben:

Nun ist aber gerade ein solcher Tempogewinn für die Wissenschaft ein zweifelhaftes Ideal. Hans Blumenberg hat vor Jahren darauf hingewiesen, daß die populäre Vorstellung, Denken sei »die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten«, »zwischen einem Problem und seiner Lösung, zwischen dem Bedürfnis und seiner Befriedigung«, eine Generalisierung des biologischen Reiz-Reaktions-Schemas und Motor einer Ökonomie ist, die ausschließlich auf Zwecke abstellt. Demgegenüber zeichnet sich Wissenschaft gerade dadurch aus, daß es ihr gelingt, diese Ökonomie zu suspendieren. […] Nachdenklichkeit wird von Wissenschaftlern sogar mehr oder weniger bewußt inszeniert. So wird etwa in dem für Geistesarbeiter typischen Ritual des Rauchens ein Aufschub erreicht, der das bereits Gedachte noch einmal gründlich zu überlegen erlaubt. […] Ebensolche Gnadenfristen gewähren auch jene Schreibinstrumente, deren Absatz mit der Zahl der verkauften Personalcomputer kontinuierlich wächst: die Füllfederhalter. [☞ 20]

Jochum, Uwe/Wagner, Gerhard: Cyberscience oder vom Nutzen und Nachteil der neuen Informationstechnologie für die Wissenschaft. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 43 (1996), pp. 579-593.

Jochum und Wagner setzen das Rauchen gegen das Rauschen eines ökonomisch taxierten Wissenschaftsbetriebs. Die Einsetzung des Subjekts bringt eine Verlangsamung mit sich, die gegenüber der scheinbaren Objektivierung von Datenströmen ein Hemmnis darstellt. Bei der These vom in den unsichtbaren Daten sich wie das Foucault’sche Gesicht am Meeresufer im Sand verlierenden Subjekt [☞ 21] setzt auch Jens Schröter an:

Mensch zu sein, hieß schon immer, durch die symbolischen Strukturen, das Unbewußte, die Technik und die Ökonomie konstituiert und formiert, wenn auch nicht monokausal ausdeterminiert zu sein. Das »menschliche Wesen« war immer schon nur in Relationen faßbar, die dieses »Wesen« irreduzibel mit der Spur seines Anderen versehren. Was sich historisch wandelt, sind die komplexen Netze, die »Kräfteverhältnisse« (Deleuze), in denen sich dies ereignet. [☞ 22]

Schröter, Jens: Der König ist tot, es lebe der König. Zum Phantasma eines technologischen Subjekts der Geschichte. In: Angermüller, Johannes/Bunzmann, Katharina/Rauch, Christina (Hg.): Reale Fiktionen, fiktive Realitäten: Medien, Diskurse, Texte. Hamburg: LIT 2000, pp. 13-24.

Nur was die Technik betrifft aufzugreifen, könnte sich als zuwenig weitreichend erweisen, um derart komplexe Zusammenhänge und die daraus sich allenfalls ergebenden medialen Emergenzen zu erfassen. Nicht jede Technik braucht gleich als Medium deklariert und mit dem passenden Strichkode versehen zu werden, sondern möglicherweise nur jene, deren Funktionen die Kulturtechniken Speichern, Übertragen und Verarbeiten von Informationen (materiell oder – etwa bei Speicherung im Gedächtnis – nicht materiell) umfassen, d.h. anregen und ermöglichen. Bei Neuen Medien wird in diesem Zusammenhang gerne von »Adressen« gesprochen, Adressen die durch Kittlersche »Aufschreibesysteme« geschickt werden, 1800 wie 1900 wie 2000: [☞ 23]

Gelänge es, diese drei Operationen der Kommunikation – Daten zu speichern, Adressen zu übertragen und Befehle zu verarbeiten – in einem »Aufschreibesystem 2000« zu optimieren und es zugleich im physikalischen Raum Feld zu implementieren […], entstünde tatsächlich ein selbstständig operierendes, globales Informationssystem, das den Datentransfer und seine Geschichte zum Abschluß brächte. Die Zeit des Menschen wäre endgültig abgelaufen, er würde verschwinden »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«, wie Foucault einst in rätselhafter Weise geweissagt hat, im Sand (Silizium), aus dem die Prozessoren gemacht werden. [☞ 24]

Maresch, Rudolf/Werber, Niels: Vorwort. In: Dies. (Hg.) Kommunikation Medien Macht. Frankfurt/M: Suhrkamp 1999, pp. 7-18, hier p. 15.

Tatsächlich ist Kittlers Die Nacht der Substanz ein Text, der ganz wesentlich von der Adressierung handelt. In der stockfinsteren Nacht lassen sich keine Adressen finden, zumindest nicht für den Menschen. Für die Nachtsichtgeräte, die Maschinen (und für sich selbst!) sind sie weiterhin vorhanden. Derart gestaltete Gegensätze bedürfen überdies, um Unterscheidungen deutlich, d.h. auch: sichtbar, zu machen, eines binären Systems – und Claude Shannons Überlegungen, charakterisiert als »0|1«, [☞ 25] sind durchaus nützlich im Sinne einer Hintanstellung des Grau, der Zwischenstufen. So beruht auch der Wissenschaftskode, zumindest wird ihm das gerne nachgesagt, auf »wahr vs. falsch« und kommen erst mit der Zeit, und solange ein endgültiges Ergebnis sich nicht festmachen lässt, Zwischenstufen hinzu. Beobachten ließe sich dies gerade in jenen Jahrzehnten, die der Elektrifizierung von Kommunikation, des Dreiecks Rezeption–Distribution–Produktion, [☞ 26] verschrieben werden, was wiederum mit den Modellen von Shannon, Alan Turing et al. korrespondiert.

Doch sind die von Kittler herangezogenen Nachtsichtgeräte (abgesehen von der simplen Analogieleistung) tatsächlich ein gutes Beispiel für Nacht, Datenströme und die Versuche, die kriegsrelevante Materialität (wenn das schon das Beispiel sein soll) zu erfassen? So wären doch Kodierung bzw. Dekodierung im Zweiten Weltkrieg, auch unter den Prämissen von Kittlers steter Bezugnahme auf kriegstechnologische Einsatzmöglicheiten und deren grundsätzliches mediales Innovationspotenzial, mindestens so interessant, v.a. wenn man damit statt einer Umsetzung Richtung unmittelbarer Waffenapplikationen (Nachtsichtgeräte und Schützenpanzer [☞ 27]) einfach bei dem bleibt, was das Thema ist: Zeichen, deren Verschwinden und das sichtbar machen von Verborgenem. Paradigmatisch bietet sich das weite Feld der Kryptografie [☞ 28] an, das für den Weltenkrieg die Chiffre Enigma [☞ 29] verpasst bekommen hat und hier nicht im einzelnen aufgerollt werden kann. Erinnert sei lediglich daran, dass die Enigma für die Nacht der Zeichen steht (wobei es im Falle dieser Maschine explizit darum geht, »hinters Licht zu führen«, zu täuschen, letztlich dem Feind ein Verständnis zu verunmöglichen), eine Nacht, die von Menschen auf technisch-mathematischem Wege herbeigeführt und errechnet wurde. Diese Finsternis (eine in der Verschlüsselung »lesbare«, aber in Ermangelung entsprechender »Gegenmaschinen« und der richtigen Kodes weitgehend unverständliche) galt es in Bletchley Park und andernorts aufzuhellen, die Zeichen mussten dechiffriert werden, um an die »richtigen« Zeichenketten zu gelangen; was jedoch erst durch Fehler im System wie auch der deutschen Abwehr gelang. Weiters bedurfte es entsprechender Abhörsysteme, der zu diesem Zwecke requirierten, kriegstauglich gemachten [☞ 30] Radio- und Fernsehsender. Und es galt Logik wie Vernunft im Sinne der Kriegstauglichkeit zu radikalisieren, sie in Algorithmen umzusetzen. Nach Dotzler und Kittler läuft das wie folgt:

Immer schon geht die Geschichte der Vernunft in Kriegsgeschichten auf. Kein geringerer als Kant hat so »pragmatisch« klargemacht, was in seiner Kritik der praktischen Vernunft Intelligenz heißt. Turings Intelligence Service im Zweiten Weltkrieg und seine zivilen Fortsetzungen zielen tatsächlich auf Erfüllung der Aufgabe, die Vernunft in Kants emphatischen Sinn definierte. Selbsttätigkeit, diese höchste Bestimmung des Subjekts, ist seit Turing dazu da, um in Maschinen kopiert zu werden. [☞ 31]

Dotzler, Bernhard/Kittler, Friedrich: Alan M. Turing – Nachwort. In: Turing 1987, pp. 209-233, hier p. 223.

Es geht dann jedenfalls um eine Übergabe an die Maschinen; und Kultur- wie Medienwissenschaften verfassen Traktate über die Neue Unsicherheit, die ihrerseits in den Datenstrom eingespeist werden und in einem virtuellen Zettelkasten Verwendung finden.

3. Daten rauschen durch die Nacht

Wie im von Mario Wimmer geführten Weblog histex 2005 berichtet wurde, [☞ 32] hat in Deutschland sogar der Bundesgerichtshof in Karlsruhe eingreifen und ein Urteil in letzter Instanz sprechen müssen (das des Oberlandesgerichtes Harms [☞ 33] aus 2004 ging also in die Berufung), um zu entscheiden, wem der wissenschaftliche Nachlass Niklas Luhmanns zusteht. Das besondere Interesse gilt dabei u.a. dessen Zettelkatalog. Dazu merkt Wimmer an:

Dabei gibt es derzeit mindestens zwei Probleme: zum einen ist der materielle Zustand des Zettelkastens aus konservatorischer Sicht ein Desaster. Luhmann hatte sehr dünnes Papier verwendet, um Platz zu sparen. Die Zettel werden deshalb nicht auf einer Stange geführt. Folge ist, dass die Laden überquellen und einzelne Zettel in den Innenraum des Kastens fallen können. Zum anderen ist angeblich der Index, der die Zeichenketten aufschlüsselt, mit denen die einzelnen Zettel adressiert sind, beim Sohn. – Eine beinahe theoriefähige Konstellation.

Die Tochter bekommt dem Karlsruher Urteil zufolge den Katalog und einer der Söhne hat den Schlüssel dazu. Das Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld (wo der wissenschaftliche Nachlass Luhmanns erschlossen wird [☞ 34]) dürfte seine helle Freude daran haben.

Eine solche brachte auch Jürgen Habermas (der nach wie vor für ein Konzept vom interventionsfähigen Intellektuellen eintritt) in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Bruno Kreisky-Preises 2006 zum Ausdruck. U.a. stechen seine Anmerkungen betreffend der vorgeblichen (i.e. gerne angenommenen) »Subversivität« des Internet hervor:

Die Nutzung des Internet hat die Kommunikationszusammenhänge zugleich erweitert und fragmentiert. Deshalb übt das Internet zwar eine subversive Wirkung auf autoritäre Öffentlichkeitsregime aus. Aber die horizontale und entformalisierte Vernetzung der Kommunikationen schwächt zugleich die Errungenschaften traditioneller Öffentlichkeiten. Diese bündeln nämlich innerhalb politischer Gemeinschaften die Aufmerksamkeit eines anonymen und zerstreuten Publikums für ausgewählte Mitteilungen, sodass sich die Bürger zur gleichen Zeit mit denselben kritisch gefilterten Themen und Beiträgen befassen können. Der begrüßenswerte Zuwachs an Egalitarismus, den uns das Internet beschert, wird mit der Dezentrierung der Zugänge zu unredigierten Beiträgen bezahlt. In diesem Medium verlieren die Beiträge von Intellektuellen die Kraft, einen Fokus zu bilden. [/] Die Aussage, dass
die elektronische Revolution die Bühne für die elitären Auftritte eitler Intellektueller zerstört, wäre allerdings vorschnell. Denn mit dem Fernsehen, das im wesentlichen innerhalb der nationalstaatlich etablierten Öffentlichkeiten operiert, hat sich der Bühnenraum der Presse, der Zeitschriften und der Literatur nur vergrößert. Gleichzeitig hat das Fernsehen die Bühne verwandelt. Es muss in Bildern zeigen, was es sagen will, und hat den iconic turn – die Wende vom Wort zum Bild – beschleunigt. Mit dieser relativen Abwertung verschieben sich auch die Gewichte zwischen zwei verschiedenen Funktionen der Öffentlichkeit. [☞ 35]

Habermas, Jürgen: Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Was den Intellektuellen auszeichnet. In: Der Standard v. 10.03.2006, p.31.

Ein kleiner Einspruch: [☞ 36] Dem momentanen Forschungsstand zum Komplex der Netzwerke [☞ 37] zufolge entstehen diese nicht unbedingt zufällig (randomized), sondern exakt bestimmbaren Kräfteverhältnissen (power laws) folgend, d.h. es geht v.a. um skalenfreie Netzwerke (free-scale-networks). [☞ 38] Die aus unserer Sicht entscheidende Schlussfolgerung geht dahin, dass derartige Netzwerke weder demokratisch noch anarchisch sein können, dabei sich ebenso grundsätzlich dynamisch verhalten. Kurz: Skalenfreie Netzwerke wie das Internet haben eine strikt mafiotische Struktur. Hinzu kommt natürlich (und dies ist wohl der Punkt, an dem Habermas einsetzen möchte), dass Netzwerke unter verschiedenen Aspekten (Aufbau, Partizipation, Wahrnehmung etc.) eine spezifische Kulturtechnik der Moderne darstellen.

Unter Berufung auf bereits Angerissenes (eine mithin etwas zittrige Grundlage) ließe sich mit etwas Mut zum Kurzschluss andenken, dass wenn man etwa von Marcus Krajewski’s Anmerkungen zu Hegels Anlegen von Verzeichnissen [☞ 39] und den erwähnten Kittler’schen Überlegungen zu Hegels Vorgangsweise mit seinen beiden Zettelkatalogen [☞ 40] ausgeht, an den Anfang der von Habermas ausgeführten Periode des neuen und nunmehr möglichen Umgangs von Intellektuellen und der Öffentlichkeit (die Generation nach Hegel und Goethe) eine Konzentration der Quellen, des Gelesenen, der Nachweise zu einer neu eingeführten (einzuführenden) Form der Diskursivität zu setzen ist. Diese würde jedoch, mit Habermas gefolgert, genau zu ihrem eigenen Problem:

Wenn er [der Intellektuelle; Anm.] sich mit Argumenten in eine Debatte einmischt, muss er sich an ein Publikum wenden, das nicht aus Zuschauern besteht, sondern aus potentiellen Sprechern und Adressaten, die einander Rede und Antwort stehen können. Idealtypisch geht es um den Austausch von Gründen, nicht um die inszenierte Bündelung von Blicken.

Habermas geht es natürlich nicht so sehr um eine auf die Materialität von Medien und deren Eigengesetzlichkeiten bezogene Debatte. Und die angeführten Bezugspunkte mögen so nicht zwingend zusammenfinden. Dennoch ließen sich – bis auf Widerruf… – einige dieser Aspekte hinsichtlich einer Querschnittsbetrachtung der letzten 200 Jahre gewiss mit anführen.

Soviel als Zwischenanmerkung, kurz nochmals zurück zu Luhmann und dem Zettelkatalog. Der erwähnte Markus Krajewski hat sich bereits 1997 unter dem Titel Käptn Mnemo. Zur hypertextuellen Wissensspeicherung mit elektronischen Zettelkästen [☞ 41] Gedanken gemacht. Sein synapsen-Projekt [☞ 42] geht bzw. ging in ebendiese Richtung:

synapsen ist ein hypertextueller Zettelkasten, d.h. ein altbewährtes Speichermedium auf Basis einer elektronischen Literaturdatenbank, das Bibliographien zu verarbeiten erlaubt. Doch entgegen herkömmlicher Literaturverwaltungssoftware bietet synapsen einen entscheidenden Vorteil: anhand eingegebener Schlagworte vernetzt das Programm einzelne Zettel automatisch und stellt somit bisweilen vergessene, aber auch gänzlich ungeahnte Verbindungen und Zusammenhänge zwischen den Einträgen her. synapsen ist daher nicht nur eine elektronische Literaturverwaltung, sondern vielmehr noch ein Schreibgehilfe beim Verfassen wissenschaftlicher Texte, der in ständiger Kommunikation mit dem Autor ebenso Argumentationen zu soufflieren in der Lage ist wie er beim Auffinden von Ideen Hilfe leistet.

synapsen, so ließe sich – vielleicht allzu salopp – folgern, ist die zum System gewordene Textprothese.

In einem Brief an Wilhelm Fließ unterscheidet Sigmund Freud [☞ 43] die Beziehungen topografischer, archäologischer oder archivalischer »Aufeinanderschichtung« und definiert mehrere Typen von »Niederschrift« (»drei, wahrscheinlich mehr«). [☞ 44] Hier zeigen sich gedankliche Muster, wie sie auch in der 30 Jahre später erscheinenden Notiz über den Wunderblock zu finden sind. Am Anfang derselben kommt eine Einführung zu stehen, die insofern überrascht und zunächst naiv erscheint, als Freud damit zunächst hinter seine Beobachtungen von 1896 (vorgenommen am Gegenstand der Hysterie und entsprechender Beobachtungs- bzw. Behandlungsmethoden) zurückzufallen scheint:

Die Hilfsapparate, welche wir zur Verbesserung oder Verstärkung unserer Sinnesfunktionen erfunden haben, sind alle so gebaut wie das Sinnesorgan selbst oder Teile desselben (Brille, photographische Kamera, Hörrohr usw.). An diesem Maß gemessen, scheinen die Hilfsvorrichtungen für unser Gedächtnis besonders mangelhaft zu sein, denn unser seelischer Apparat leistet gerade das, was diese nicht können; er ist in unbegrenzter Weise aufnahmsfähig für immer neue Wahrnehmungen und schafft doch dauerhafte – wenn auch nicht unveränderliche – Erinnerungsspuren von ihnen. [☞ 45]

Freud, Sigmund: Notiz über den »Wunderblock« (1925 [1924]). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. XIV: Werke aus den Jahren 1925–1931. Frankfurt/M.: Fischer 1999, p.3–8, hier p.4.

In Das Unbehagen in der Kultur, fünf Jahre später erschienen, weist er erneut auf derart unterstützende Apparaturen hin: Nachdem er Motoren, Schiffe, Flugzeuge, aber auch Brillen, Fernrohre, Mikroskope, Kameras, »Grammophonplatten«, das Telefon und die Schrift aufgezählt hat, hält er fest (nicht ohne die Problematik zu benennen), dass der Mensch »sozusagen eine Art Prothesengott geworden« sei. [☞ 46] Es geht um eine artifizielle Erweiterung des Körpers, damit um den Gewinn zusätzlicher Möglichkeiten, auch für die Auslagerung von Speicherfunktionen.

Der von Arnold Schwarzenegger verkörperte Cyborg T 100 steht dann wohl am Ende dieser maschinellen Nahrungskette (im übrigen wird dieser in den weiteren Sequels der Terminator-Reihe mit noch fortschrittlicheren Bauserien konfrontiert, was naturgemäß nicht sehr gut ausgeht). Alan Turings 1959 erschienene Prognose vom anbrechenden Maschinenzeitalter, zumeist seinen Studien und Arbeiten entkleidet, hat inzwischen – wohl auch durch derartige Kulturerscheinungen motiviert – fast schon ein Eigenleben entwickelt (nicht umsonst betitelte er seinen kurzen Beitrag Intelligent Machinery, a heretical theory), verabschiedet sie doch auf radikale Weise selbst noch die zittrige, humanbasierte Möglichkeit vom »Prothesengott«: »Ab einem bestimmten Zeitpunkt müßten wir daher damit rechnen, daß die Maschinen die Macht übernehmen, so wie es in Samuel Butlers Erewhon beschrieben wird.« [☞ 47]

Die Herausgeber von Turings Schriften auf Deutsch, Bernhard Dotzler und Friedrich Kittler, vermuten in ihrem Nachwort, dass entgegen den Anmutungen von Hans Magnus Enzensberger (der Turing ein Leben als dieser selbst oder als »Simulacrum« »in der Umgebung von Cambridge, auf abgemähten Stoppelfeldern, […] im Nebel« zuspricht) in dessen Balladenband Mausoleum: »Aber seitdem es Künstliche Intelligenz gibt, wird auch die intelligenteste Poesie Mythos oder Anekdote. Viel wahrscheinlicher als auf den Wiesen englischer Romantik geht Turings Gespenst oder Simulakrum in jedem Kaufhauscomputer um.« [☞ 48]

Zurück zum Beginn: Kleists Griffel Gottes und McLuhans Reston sind für beides gut: Mythos und Anekdote. Ihre textuellen Simulakren werden, produziert nach der Manier Gutenbergs, beim Erwerb von Kaufhauscomputern verrechnet (oder der Provider zieht beim Download aus dem Internet seinen Vorteil). Doch es bleibt ein widerständiges Drittes. Eines, das die Verrechnung und den Warenstrom, ein einerseits nicht sichtbares aber dafür andererseits umso effizienter gesteuertes ›Rauschen‹, stört. Dies wiederum, soviel Vertracktheit bleibt, wird noch zu beweisen sein. Oder auch gar nicht, denn hier liegt der Vorteil des gedruckten Reiseführers an sich gegenüber der ihren eigenen, längst erfolgten Aufbruch schon gar nicht mehr einmahnenden Turingmaschine: Er muss nichts beweisen.

4. Wozu noch Licht am Ende?

Jedes Medium hat an der Frage des Rauschens sich abzuarbeiten. Eine scheinbare Störung, Vergrößerung der Intervalle, Änderung von Frequenzen, ein Stocken im nur augenscheinlichen Fluss der Signifikanten evoziert erst die Möglichkeit, einen Reflexionsprozess in Gang zu bringen. Dieser kann nun seinerseits eine Umsetzung erfahren. Und alles geht von Neuem los.

Franz Kafka notierte in seinem so genannten »Reisetagebuch«:

Wir sind, mit dem irdisch befleckten Auge gesehn, in der Situation von Eisenbahnreisenden, die in einem langen Tunnel verunglückt sind undzwar an einer Stelle wo man das Licht des Anfangs nicht mehr sieht, das Licht des Endes aber nur so winzig, daß der Blick es immerfort suchen muß und immerfort verliert wobei Anfang und Ende nicht einmal sicher sind. Rings um uns aber haben wir in der Verwirrung der Sinne oder in der Höchstempfindlichkeit der Sinne lauter Ungeheuer und ein je nach der Laune und Verwundung des Einzelnen entzückendes oder ermüdendes kaleidoskopisches Spiel. [☞ 49]

Kafka, Franz: Oktavheft G. In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. 6: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß in der Fassung der Handschrift. Hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt/M.: Fischer 1994, pp. 160–199, hier p.163.

Wo vom Rauschen die Rede ist, soll dieses zumindest (wenn auch nur aus der Sicht des vorliegenden Beitrags) annähernd geklärt werden. Und wenn schon die »Nacht der Substanz« gewärtig wird, speisen wir etwas Licht ein. Nicht vermessen im Sinne des Diogenes und der Aufklärung, sondern im Sinne eines weiteren Beispiels für Medienphänomene mit emergentem Charakter.

Am Anfang jeder optischen Wahrnehmung, jedweden medialen Gebrauchs, steht das Licht (und in dialektischer Relation dazu das Dunkel). Es kann als Inbegriff des Medialen aufgefasst werden, obwohl es eigentlich keinen »Inhalt« hat (wird es nicht im Zuge eines Mediums zur Übermittlung von Kodes, wie etwa beim Morsen, verwendet); mithin stellt es sich als ›reines Medium‹ dar, als Kondensat, das zwar für diverseste visuelle Vermittlungen herangezogen, selbst aber nicht wirklich sichtbar zu machen ist. [☞ 50] Als derart vermittelnde Instanz, als Werkzeug, erfährt es jedoch, wie angedeutet, vielfältigste Anwendung und wird dadurch zum Thema, sei es im Zusammenhang mit Effekten oder Steuerungsabsichten.

Bereits in Platons – so oft für die rhetorische Dekorierung der Filmgeschichte zitiertem (und in dieser Verwendung eher unbrauchbarem) – Höhlengleichnis wird der Weg des Lichts dargestellt, ein vermittelter Weg, der vom Schatten der beleuchteten Dinge zum Schein des Feuers und dann in die Helle des Lichts selbst führt. Brauchbar ist dieses Gleichnis in mediengeschichtlicher Hinsicht aber insofern, als es hilft, entsprechende Differenzierungen vorzunehmen. Es geht um die Differenz, die das Medium setzt und die es zum Medium macht: Im Anblick des Mediums erblickt man nichts Sichtbares, an den sichtbaren Dingen aber nicht das Medium. Eine Frage nach dem so reinen Medium des Lichts verschränkt in sich zwangsläufig all die in der Literatur zu findenden Geschichten von Sehen und Blendung, Sichtbarem und Unsichtbarem, Immaterialität und Materialität, Löschung und Einblendung. Wahrscheinlich verhält es sich angesichts dieser Überfülle an Ein- wie Zuschreibungen und der daraus resultierenden Unmöglichkeit, einen kohärenten Schluss zu finden, mit dem Licht wie mit dem Rauschen, den Störungseffekten eines Mediums.

Ist das Licht (wenn es denn etwas für sich sein, sich selbst repräsentieren kann…) das ungegenständlichste, weil reinste und damit absenteste (zugleich präsenteste) Medium überhaupt, und zwingt es insofern mit jedem Einfall zur Reflexion, zumindest aber zur Nachjustierung des Wahrnehmungsapparats, so ist auch mit jedem Rauschen, jeder Unterbrechung, jedweder Störung eines bis dahin als kontinuierlich gedachten Wahrnehmungsvorgangs die Produktivität des Gedankens gefordert. Noch etwas ist beiden gemeinsam: Das Problem der Leitung, das beiden stets vorausgelagert ist. Erst eine störungsfreie, durchgehende Leitung kann das Licht zur eigentlichen Vermittlungsinstanz hin übertragen und so das Rauschen zumindest soweit unterbinden, als es unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleibt. Seit dem 19. Jahrhundert lässt sich eine Entwicklung vom konstanten Zwielicht der Gasbeleuchtungen zum Dispositiv des Lichtspieltheaters und weiter zur Halogenröhre verfolgen. [☞ 51]

Es ließe sich schlussfolgern: Je mehr unterschiedliche Personen medial eingebunden und in der Folge tätig sind, je mehr sie in den selben Medienverbünden sich bewegen, d.h. je mehr crossover und vorgebliche Konkurrenz zwischen früher als getrennt angesehenen Bereichen besteht, umso stärker werden Kapazitäten beansprucht und umso intensiver werden die Nebengeräusche, wird das Rauschen [☞ 52] (das seinerseits produktiv sein kann). [☞ 53] Der Vorteil davon findet sich bei der Analyse: Denn erst das Nebengeräusch und die Störung – scheinbar Gegensätze zu Ordnung, Struktur oder Information, wobei das eine nicht ohne dem anderen zu denken ist – erlauben diese. Eine Unordnung wie das Rauschen, etwa wenn es in einem Naheverhältnis zur differánce gefasst wird, kann somit als konstitutiver Bestandteil jedweden Erkenntniszugangs angesehen werden und ließe sich insofern im Rahmen medien- bzw. informationstheoretischer Diskurse fruchtbar einbringen. Hier wäre, wenn das denn stimmt, die Möglichkeit anzusetzen, mit einer kleinen Kerze in die große Nacht der Datenströme, der vorgeblichen »Substanzen«, hineinzuleuchten.

Mit einem Rückgriff auf die Frage des Zettelkastens und der mit den Jahrhunderten seines Entstehens verbundenen »Update-Logik« (Markus Krajewski [☞ 54]) ist genau so ein Akt notwendigerweise verbunden: Eine Sichtung, inwieweit zu speicherndes Material bereits eingespeist wurde, eine Fortführung und Ausweitung des Datenbestands unter den Prämissen größtmöglicher Effizienz (und auch Erschließbarkeit) ist oberstes Gebot, es muss also sehr wohl gelegentlich ein Teil der Datenströme »ausgeleuchtet« werden. Hier kommen ökonomische Verwaltungsprinzipien, kapitalistische Zielsetzungen und mediale Bedingungen dergestalt zusammen, dass etwa die Krajewskis Abhandlung über Die Geburt der Kartei aus dem Geist der Bibliothek nahe legt, einen rein technikfixierten Zugang zur Medientheorie zumindest partiell zu verabschieden: Gerade beim Katalogsystem und seiner wechselvollen Geschichte obsiegen letztlich nicht ausschließlich technisch-mediale Vorleistungen, entsprechende Eigendynamiken und materielle Bedingungen. Vielmehr treffen derart zu bestimmende Grundlagen auf höchst wirkungsmächtige Anforderungen der Zeit, denen sie unterworfen werden. Es herrscht eine Form der Wechselseitigkeit vor.

5. Alles Rätsel …

Arno Schmidt schreibt 1948 oder 1949 und wahrscheinlich von Hand, bevor er ihn mittels einer geborgten Schreibmaschine eintippen kann, einen fiktiven Brief an die Führer der nach 1945 neuen atomaren Weltmächte, die »Exzellenzen«. Die Auflösung dieses Schriftstücks, die auch mit entsprechenden Maschinen angestrebt wurde, steht bis heute aus.

An die Exzellenzen Herren
Truman (Roosevelt), Stalin,

Churchill (Attlee)
Jalta, Teheran, Potsdam.

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Glent 31, glent 14 Po
Arno Schmidt [☞ 55]

Schmidt, Arno: An die Exzellenzen. In: Ders.: Arno Schmidt‘s Wundertüte. Eine Sammlung fiktiver Briefe aus den Jahren 1948/49. Hg. v. Bernd Rauschenbach. Zürich: Haffmanns 1992, p.13.

☞ 1 von Kleist, Heinrich: Der Griffel Gottes. Berliner Abendblätter Nr. 5 v. 05.10.1810. Hier cit. nach von Kleist, Heinrich: Sämtliche Werke und Briefe Bd. 2, hg. v. Helmut Sembdner. 7. erg. u. revid. Aufl. München: Hanser 1987, p. 263.

☞ 2 Cf. zu diesem etwa deutschsprachige Ausgabe Turing, Alan: Intelligence Service. Schriften. Hgg. v. Bernhard Dotzler u. Friedrich Kittler. Berlin: Brinkmann & Bose 1987. Darin findet sich p. 236f. eine Bibliografie der veröffentlichten Schriften Turings.

☞ 3 In: McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man. Toronto: McGraw-Hill 1964, p.3. (Auf Deutsch: »James Reston schrieb in der ›New York Times‹ vom 7. Juli 1957: [/] Ein Direktor des Gesundheitsdienstes … berichtete diese Woche, dass eine kleine Maus, die vermutlich ferngesehen hatte, ein kleines Mädchen und eine ausgewachsene Katze angegriffen habe … Katze und Maus blieben am Leben, und der Vorfall wird hier erwähnt, um daran zu erinnern, dass manche Dinge sich zu ändern scheinen.« In: Ders.: Die magischen Kanäle. »Understanding Media«. Übers. v. Meinrad Amann. Düsseldorf et al.: ECON 1992, p. 11).

☞ 4 Cf. stellvertretend Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Übers. v. Anne Vonderstein. Dresden, Basel: Verl. der Kunst 1996 und Ders.: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Übers. v. Heinz Jatho. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.

☞ 5 Eingestandenermaßen wird die mindestens so relevante Frage der Bildmedien hier marginalisiert. Diesbezüglich sei in dieser Serie (der Emergenzen) auf Beiträge wie jene von (i.a.R.) Silvia Horváth, Herbert Hrachovec, Nadežda Kinsky, Ursula Reber und Marc Ries verwiesen.

☞ 6 Benjamin, Walter: Einbahnstraße. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. IV.1: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Hg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991 (stw 934), pp. 83-148.

☞ 7 Eine zugleich lesbare wie informierte Darstellung dieses Themas findet sich in Krajewski, Markus: Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek. Berlin: Kadmos 2002 (Copyrights 4). Der elektronische »Waschzettel« dazu findet sich online unter http://www.uni-weimar.de/medien/kulturtechniken/ publikationen/zw.html. NB: Krajewski zitiert auch eine (u.a. auf Grund des Beharrens auf der Unveränderlichkeit) nicht unspannende Definition von 1908, was denn ein Buch sei: »Nach sachgemäßer Auffassung und vor allem der letzten Gerichtsinstanz dürfte unter einem gebundenen Buche, dessen Seiten bezw. Blätter fortlaufend paginiert (foliiert) sind, nur ein solches zu verstehen sein, in dem die Zahlen der Seiten vor Benutzung fortlaufend eingetragen sind und das derart gebunden ist, daß niemanden die Entfernung eines Blattes aus dem Buche ohne sichtbare Verletzung des Einbandes und der Folge der Zahlen möglich ist.« (Krajewski 2002, p. 157).

☞ 8 Petschar, Hans/Strouhal, Ernst/ Zobernigg, Heimo (Hg.): Der Zettelkatalog. Ein historisches System geistiger Ordnung. Wien, New York: Springer 1999.

☞ 9 Das so überschriebene Kapitel aus dem Ersten Buch findet sich auch in besagtem Katalog abgedruckt.

☞ 10 Strouhal, Ernst: Zettel, Kasten, Katalog. In: Petschar/Strouhal/ Zobernigg 1999, pp. 9-16, hier p. 15.

☞ 11 Popper, Leó: Zur Ästhetik des Aeroplans. In: Ders.: Schwere und Abstraktion. Versuche. Übers. v. Anna Gara-Bak. Berlin: Brinkmann & Bose 1987, pp. 50-54, hier p. 52.

☞ 12 http://www.arno-schmidt-stiftung.de

☞ 13 Erschienen etwa als Kittler, Friedrich: Die Nacht der Substanz. In: Pias, Claus et al (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: DVA 42002, pp. 507-524.

☞ 14 Kittler, Friedrich: Die Nacht der Substanz. Bern: Benteli 1990.

☞ 15 Um es mit dem Douglas Adams zufolge wichtigsten Hilfsmittel bei einem Ausflug durch die Galaxis zu formulieren: kann Kittlers Text das Handtuch heutiger medientheoretischer Überlegungen sein?

☞ 16 »Die europäische Nacht, im Unterschied zur amerikanischen, zählt also zwischen 1925 und dem Jetztpunkt vier Phasen: erstens ein göttliches Alphabet [1295: Ein Schüler des Afulabias gerät nächtens seinen Operationen anhand der 22 Konsonanten des hebräischen Alphabets zur »schieren Weisheit« statt dem »Wahnsinn« kombinatorischer Mechanik; Anm.], zweitens eine menschlich philosophische Tiefe [1806: Hegel rettet seine aus dem Zettelkasten und seinem Kopf destillierte Philosophie des Geistes in einer »Nacht der Aufbewahrung«; Anm.], drittens eine Analogtechnik aus Medien und Sensoren [1945: Schützenpanzer werden mit Nachtsichtgeräten ausgestattet, deren Wärmesensoren Infrarot-Frequenzen in sichtbare Informationen umwandeln helfen; Anm.] und schließlich jene Digitaltechnik, die nach Turings Beweis seit 1936 alle anderen Maschinen (oder Menschen) ersetzen kann, weil sie diskret und damit universal ist.« (Kittler 2002, p. 510)

☞ 17 Vielleicht läuft es auf ein Rauschen der Informationen, eine Überlastung, hinaus, bei der wir erst lernen müssen, jene Bild- wie Tonfrequenzen herauszufiltern, auf die es uns ankommen kann.

☞ 18 Schüle, Christian: Kirke, Kalypso, Kittler. In: Die Zeit Nr. 12 v. 16.03.2006, p. 73. Online unter http://www.zeit.de/2006/12/ST-Kittler-neu.

☞ 19 Thomas, Dylan: Under Milk Wood: A Play for Voices, ed. Daniel Jones. New York: New Directions 1954, p. 1 [Orig.: The Town that was Mad, 1953/54].

☞ 20 Jochum, Uwe/Wagner, Gerhard: Cyberscience oder vom Nutzen und Nachteil der neuen Informationstechnologie für die Wissenschaft. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 43 (1996), pp. 579-593. Online bei Abfassung als lokale Kopie unter http://www.hist.net/htb/doku/kolloquium/material/jochum_ wagner_1996.html zu finden.

☞ 21 Zwei weitere Einschübe aus dem Zettelkasten: Foucault schreibt gegen Ende seiner Ordnung der Dinge: »Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet, wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, p. 462) Kittler notiert wiederum: »Foucaults berühmte, aber noch immer philosophische Wette, daß ›der Mensch verschwinden wird, wie am Ufer des Meeres ein Gesicht im Sand‹, wiederholt nur die mathematische Gewißheit Alan Turings, ›wir sollten damit rechnen, daß die Maschinen eines Tages die Macht übernehmen‹.« (Kittler, Friedrich: Die Nacht der Substanz. Bern: Benteli 1990, p.32).

☞ 22 Schröter, Jens: Der König ist tot, es lebe der König. Zum Phantasma eines technologischen Subjekts der Geschichte. In: Angermüller, Johannes/Bunzmann, Katharina/Rauch, Christina (Hg.): Reale Fiktionen, fiktive Realitäten: Medien, Diskurse, Texte. Hamburg: LIT 2000, pp. 13-24. Online auf: http://www.theorie-der-medien.de/text_detail.php?nr=9. (Diesem Text entstammt auch der folgende Hinweis auf Rudolf Maresch und Niels Werber.)

☞ 23 Wobei hinzugefügt werden muss, dass eben die von Schröter angeführten »komplexen Netze« mit eine der wichtigen Scheidungslinien zwischen den Aufschreibesystemen von 1900 und jenen von 2000 darstellen können. Ein weiteres derart distinktes Merkmal wäre die Unterscheidung von analogem und digitalem Rauschen.

☞ 24 Maresch, Rudolf/Werber, Niels: Vorwort. In: Dies. (Hg.) Kommunikation Medien Macht. Frankfurt/M: Suhrkamp 1999, pp. 7-18, hier p. 15.

☞ 25 Cf. Claude E. Shannon: Ein | Aus. Ausgewählte Schriften zur Kommunikations- und Nachrichtentheorie. Hg. v. Friedrich Kittler et al. Berlin: Brinkmann & Bose 2000.

☞ 26 Die einstmals schärfer zu ziehende Trennlinie von Produktion, Distribution und Rezeption löst sich auf (wenn es sie überhaupt noch festzumachen gibt). Produzenten rezipieren, produzieren und distribuieren, Distribuenten erhalten und formatieren Inhalte und produzieren damit ihrerseits, Rezipienten schließen den Kreis, innerhalb dessen die Inhalte zirkulieren, nehmen Inhalte auf und geben diese weiter etc. Wir haben es also mit denn doch neuen Formen von Netzwerken zu tun, die mit unterschiedlichen Auslösern auf verschiedenen Kanälen funktionieren – und doch Gemeinsamkeiten aufweisen.

☞ 27 Die natürlich hervorragend sich eignen, insofern als die elektrische Energie Unsichtbares bringt, nicht Fassbares sichtbar werden zu lassen. Es ist ähnlich wie mit Röntgenstrahlen, die verborgen Verborgenes sichtbar machen. Insofern sind diese auch eine typische Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, das (wie schon in Kleists Anekdote vom »Griffel Gottes«) seine Blitze einsetzen will, um die Wahrheit erscheinen zu lassen. Umgekehrt (und überaus salopp formuliert) wäre im Sinne Kittlers das 19. Jahrhundert bestrebt, den Kot von den Straßen verschwinden zu lassen, während das 20. Jahrhundert den Code in die Nacht schicken will.

☞ 28 Als grundsätzliche Einführung empfiehlt sich das sehr verständlich und zugleich differenziert gehaltene Buch Singh, Simon: Geheime Botschaften. Die Kunst der Verschlüsselung von der Antike bis in die Zeiten des Internet. Übers. v. Klaus Fritz. München: Hanser 2000.

☞ 29 Diese Maschine wird literarisch etwa aufgenommen in Harris, Robert: Enigma. Übers. v. Christel Wiemken. München: Heyne 1995.

☞ 30 Kittler würde mit Recht darauf verweisen, dass derartige Anlagen ganz eigentlich für den Krieg entworfen waren, ihre zivile Nutzung lediglich ein Aussetzen (Umsetzen?) ursprünglicher Verwendungsprämissen darstellt/e: »Fernsehen aber ist als hochtechnisches Medium dasjenige unter den optischen Medien, das seinem eigenen Prinzip nach als Waffe fungiert. Weshalb es ohne den Zweiten Weltkrieg nicht zur Weltmacht aufgestiegen wäre.« (Kittler, Friedrich: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve 2002, p. 301; cf. weiters u.a. p. 302ff.)

☞ 31 Dotzler, Bernhard/Kittler, Friedrich: Alan M. Turing – Nachwort. In: Turing 1987, pp. 209-233, hier p. 223.

☞ 32 http://histex.twoday.net/ stories/1709289

☞ 33 OLG Hamm Urteil v. 29.07.2004, Aktenzeichen 10 U 132/03 (http:// www.olg-hamm.nrw.de/presse/archiv/2004/luhmann.htm).

☞ 34 Cf. dazu Luhmanns eigene Ausführungen, u.a. in: Luhmann, Niklas: Kommunikation mit Zettelkästen. Ein Erfahrungsbericht. In: Kieserling, André (Hg.): Universität als Milieu. Bielefeld: Haux 1993, pp. 53-61. Eine nicht so sehr um den Zettelkatalog kreisende als vielmehr um das Gesamtwerk und die Bedeutung Luhmanns bemühte, aktuelle Würdigung findet sich in Gumbrecht, Hans Ulrich: Über Niklas Luhmanns intellektuelles Vermächtnis. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken H. 8, 60 Jg. (August 2006), pp. 696-706.

☞ 35 Habermas, Jürgen: Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Was den Intellektuellen auszeichnet. In: Der Standard v. 10.03.2006, p.31. Online (kostenpflichtig!) unter http://derstandard.at/?url=/?id=2372165. Der zweite Teil der Rede, »Über die Zukunft Europas«, findet sich in Der Standard v. 11./12.03.2006, p.34.

☞ 36 Cf. im Sinne einer ausführlicheren Entwicklung des Folgenden u.a.: Plener, Peter: Zehn Thesen zum Umgang mit »Medien« und »Netzwerken« In: Ders.: Medien Konstrukte Literatur. Miszellen zur österreichischen Kultur um 1900. Wien: Peter Lang 2004 (Budapester Studien zur Literaturwissenschaft 5), p.210-215; cf. weiters Ders.: Publishing a new Europe. Possibilities and Limits of the Use of Networking and New Media. Kakanien revisited 2003 (http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/PPlener2.pdf)

☞ 37 Cf. Barabási, Albert-László: Linked. The New Science of Networks. Cambridge/Mass.: Perseus 2002; Buchanan, Mark: Nexus. Small Worlds and the Groundbreaking Science of Networks. New York: W.W. Norton 2002, Manovich, Lev: The Language of New Media. Cambridge/Mass: MIT Press 2001, sowie Watts, Duncan J.: Six Degrees. The Science of a Connected Age. New York: W.W. Norton 2003. Cf. weiters und weniger aus einem naturwissenschaftlich motivierten Kontext heraus Weber, Stefan: Medien, Systeme, Netze. Elemente einer Theorie der Cyber-Netzwerke. Bielefeld: Transcript 2001.

☞ 38 Den Schlüssel zum Verständnis der natürlichen Netzwerke fand Barabási, als er die typische Zahl von Verbindungen zu bestimmen versuchte, die ein beliebiger Knoten besitzt, d.h. die so genannte »Skala« des Netzwerks. Das Ergebnis war: Eine solche Skala existiert nicht. Denn es gilt ein mathematisches Gesetz, wonach es wenige Knoten mit sehr vielen Verbindungen gibt – die »Zentren« – und eine wachsende Zahl von Knoten mit immer weniger Verbindungen. Dies ist die Skalenfreiheit natürlicher Netzwerke.

☞ 39 Krajewski, Markus: Papier als Passion. Zur Intimität von Codierung. Unveröffentlichtes Typoskript 1998, 25 pp. Online unter http:// www.verzetteln.de/Passion.pdf.

☞ 40 Der erste Zettelkatalog diente Hegel grundsätzlich für das geordnete Exzerpieren aus Quellen; der zweite wurde jeweils für die daraus erfolgende Neuzusammenstellung der Grundlagen des je aktuell zu schreibenden Werks angelegt – aus der Kombination dieser jeweiligen operativen Handlungen ergab sich die erstaunlich geringe Zitatdichte Hegels, insofern als er ein neues, sein, System zu schaffen vermochte.

☞ 41 Krajewski, Markus: Käptn Mnemo. Zur hypertextuellen Wissensspeicherung mit elektronischen Zettelkästen. In: Rost, Martin (Hg.): PC und Netz effektiv nutzen. Kaarst: bhv 1997, pp. 90-102. Online unter http://www.verzetteln.de/Mnemo.pdf.

☞ 42 Cf. http://www.verzetteln.de/ synapsen/synapsen.html.

☞ 43 Der so wie Wilhelm Röntgen dafür steht, dass der Mensch »durchschaut« werden kann. Bei Maschinen stehen wir – insofern passt Kittlers technizistischer Ansatz sehr gut – in einer Nacht der Ahnungslosigkeit und Unbehaglichkeit, als würden wir im frühen 19. Jahrhundert konstatieren müssen, dass man halt in einen Menschen nicht hineinschauen kann.

☞ 44 Brief Sigmund Freuds an Wilhelm Fließ vom 06.12.1896. In: Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Hg. v. Jeffrey Moussaieff Masson. Frankfurt/M.: Fischer 1986, p. 226.

☞ 45 Freud, Sigmund: Notiz über den »Wunderblock« (1925 [1924]). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. XIV: Werke aus den Jahren 1925–1931. Frankfurt/M.: Fischer 1999, p.3–8, hier p.4. Die von Freud erwähnten Apparate stellen oft eine Vorbedingung für Evokation und in weiterer Folge Unterstützung der Gedächtnis- und später Erinnerungsleistung dar.

☞ 46 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. XIV: Werke aus den Jahren 1925-1931. Frankfurt/M.: Fischer 1999, pp. 419–506, hier p.450f. Cf. für den Kontext dieses Buches die zahlreichen Beiträge zum Verhältnis von Schnittstellen und (auch medialen) Prothesen in Keck, Annette/Pethes, Nicolas (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen. Bielefeld: Transcript 2001. Cf. als im deutschen Sprachraum vermutlich wichtigste frühe Referenz für derartige Fragen der »Organprojektion« (Vergleich des Eisenbahnnetzes mit dem Nervensystem etc.), mithin auch einer Zusammenführung von Emergenz-Phänomenen (die solange ersten Grades sind, als der Körper eine Rolle spielt) Kapp, Ernst: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten. Braunschweig: Westermann 1877.

☞ 47 Turing, Alan: Intelligente Maschinen, eine häretische Theorie. In: Turing 1987, pp. 7-15, hier p.15.

☞ 48 Dotzler/Kittler 1987, p.233.

☞ 49 Kafka, Franz: Oktavheft G. In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. 6: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß in der Fassung der Handschrift. Hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt/M.: Fischer 1994, pp. 160–199, hier p.163 [früher veröffentlicht unter dem Titel Eisenbahnreisende]

☞ 50 Insofern wirft es möglicherweise für Marshall McLuhans berühmtes Diktum, demzufolge alle Medien das Medium als solches zum Inhalt hätten, eben dies ihre Message (McLuhans Ironie zufolge später irgendwann einmal auch die Massage) sei (McLuhan, Marshall: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Düsseldorf, Wien: ECON 1968; Ders.: Das Medium ist die Botschaft/The Medium is the Message. Hg. u. übers. v. Martin Baltes et al. Dresden: Verlag der Kunst 2001 [Fundus-Bücher 154], einige Probleme auf.

☞ 51 Das, was die Aufklärung noch anstrebte, die Erleuchtung, ist inzwischen gewissermaßen elektrifiziert. Diogenes findet sein Fass nun gewisslich ohne gröbere Probleme.

☞ 52 Zur ersten und bis heute wohl wesentlichsten Theoriebildung hinsichtlich der Kommunikationskanäle und den Möglichkeiten, diese zu schreiben cf. Shannon 2000.

☞ 53 Als rein auf das Material bezogener Seitenverweis lässt sich anführen, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Produktion von Speicherchips an eine sog. »thermische Mauer« stößt, d.h. »Moore’s Law«, wonach alle 18 Monate doppelt so leistungsfähige Prozessoren auf den Markt kämen, mit dem momentanen Stand der Technik erstmals nicht mehr argumentierbar ist. Denn zwar lassen sich nach wie vor immer mehr Transistoren immer dichter auf einen Chip packen, bloß erhitzt sich das derart hochgetunte Silizium (eines der von Ecos zumindest in der Metaphorik mitgedachten »mineral memories«; cf. Eco, Umberto: Vegetal and mineral memory: The future of books. In: Al-Ahram Weekly Online No. 665 v. 20.–26.11.2003 (http://weekly.ahram.org.eg/2003/665/bo3.htm) inzwischen zu stark und sind entsprechende Produkte in weiterer Folge deutlich langsamer als die Vorgängermodelle. Die Technologie der Zukunft wird also gerade im Hochleistungsbereich und unter Rücksicht auf die verwendeten Materialien eine gekühlte sein müssen; dieser Umstand wird die Kulturwissenschaften freuen.

☞ 54 Krajewski 2002, p.154.

☞ 55 Schmidt, Arno: An die Exzellenzen. In: Ders.: Arno Schmidt‘s Wundertüte. Eine Sammlung fiktiver Briefe aus den Jahren 1948/49. Hg. v. Bernd Rauschenbach. Zürich: Haffmanns 1992, p.13. Die Frage beantworten zu können, inwieweit es zunächst eine handschriftliche Abfassung gegeben haben mag, erschiene vor dem Hintergrund des sonst so überzeugenden Kittlerschen Verdikts von der sich auf die Formatierung und d.h. Gestaltung der Textur auswirkenden Suggestivkraft der Maschine nicht unerheblich. Spärliche Hinweise zur Entstehung der »Wundertüte« insgesamt ibid.: Rauschenbach, Bernd: Nachwort, pp.213-222.