»Weil nicht normal Hilfsausdruck.« Simon Brenner und Das ewige Leben
[Rezension in Wespennest : Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder 131 (2003), S. 93f.]
»No matter how I struggle and strive, I’ll never get out of this world alive« – auf den Tag genau 50 Jahre, nachdem sich Hank Williams’ Prophezeiung auf dem Rücksitz eines pinkfarbenen Cadillac als self-fullfilling erwiesen hatte, erwacht Simon Brenner auf der Intensivstation in Graz zu seinem großen Finale. Denn: »Jetzt ist schon wieder was passiert«.
Deshalb und nur kurz danach, am 11. Jänner 2003, tritt Wolf Haas in der 3sat-Show Graz 2003 (Live aus der Stadthalle Graz) gemeinsam mit Henning Mankell auf, dessen Auftragswerk Butterfly Blues luzide belegt, daß der Kulturhauptstadt-Slogan »Graz darf alles« wirklich stimmt. Haas wird zur Kürzestlesung aus seinem zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichten Roman Das ewige Leben angehalten, was die bekannte Literaturkritikerin und Nebenerwerbs-Moderatorin Desirée Nosbusch zu der Feststellung veranlaßt: »[…] bei Ihnen ist sogar ein Koma komisch!«
Überhaupt ist in gewisser Weise alles wie gehabt: der neueste Roman der Kriminal-Serie von Wolf Haas mit dem Anti-Helden Simon Brenner setzt sich an der Spitze der Bestsellerlisten fest, die Kritiken sind – verdientermaßen – durch die Bank glänzend, die unterschiedlichsten LeserInnen höchst angetan, die Lesungen ausverkauft und auch die Hörbuchversion verkauft sich bestens; im Falter wird Haas taxfrei zu »dem Sexsymbol der lesenden Österreicherinnen« gekürt und Bei Stöckl muß er Marianne Mendt über Grundbegriffe der Demokratie aufklären. »Und da sieht man wieder einmal die gesunde Konstitution vom [Haas; Ersatzprobe]. Dass er das in seinem Zustand überlebt hat. Weil das war ein emotionaler Stress, Kugel nichts dagegen.«
So sehr sich die Bilder beim Erscheinen eines neuen Haas-Romans also zu gleichen scheinen: Vieles ist diesmal anders, bleibt man erst einmal beim Roman selbst. Mit dem jüngsten ›Brenner-Krimi‹ erfährt das von den meisten RezensentInnen damit identifizierte Schreiben einen wahrlich radikalen Abbruch, wie er in der deutschsprachigen Literatur kaum zu finden sein dürfte. Der Schluß soll natürlich auch hier nicht verraten werden, denn: »Ich sage, man muss nicht alles vom Ende her betrachten. Man kann auch einmal eine gute Sekunde einfach gelten lassen. Einfach nicht zu weit Richtung Ende schauen, dann geht es schon.«
Von Anfang an: Mit einem Einschußloch im Kopf aus dem Koma erwacht, geht Simon Brenner auf die Suche nach der Vergangenheit, spürt jenen Ereignissen nach, die ihm einen Schußkanal wie die Mur bescherten: Der Fluß mit seinen dunklen Geheimnissen am richtigen (dem Puntigamer) wie falschen Ufer tritt in Analogie zum Schußkanal, nimmt dieser seinen Weg an allen möglichen Hirnsträngen, Nerven und Adern vorbei und hindurch: »Weil damals ist ihm die Aufnahme von seinem Gehirn auf dem Leuchtkasten genau wie der Stadtplan von Graz vorgekommen.«
Alle bekannten Qualitäten der ›Brenner-Serie‹ kommen zum Tragen: Orts- und Personenarchive werden aufgerufen, stramme Bürgerwehren sichern die Stadt vor Diebsgesindel, Arnold Schwarzeneggers größtes Geheimnis wird gelüftet, das nach ihm benannte Stadion fungiert als Umschlagplatz für »Haarwuchsmittel« (und ein bundesdeutscher Fußballtrainer mit roten Haaren und weit aufgerissenen Augen interessiert sich lebhaft dafür), sämtliche Brücken von Graz und seine Krankenhäuser sehen einen übel wie noch in keinem Roman zugerichteten Detektiv in eigener Sache herumirren, eine Wahrsagerin gibt Auskunft über Zugfahrpläne, »Handlesen, Horoskop, Feng Sushi« sind »heute weit verbreitete Krankheiten, wo man aufpassen muss, dass man sich nichts holt.« und selbstverständlich spielt Jimi Hendrix eine Rolle.
Graz – der Roman ist ein Auftragswerk im Rahmen des ›Kulturhauptstadteuropajahres2003‹ – fliegt, außer Simon Brenner beim Mopedfahren um die Ohren, mitnichten, woran nicht nur die Migräne schuld ist, die ihm in Wie die Tiere beinahe schon die Frühpension beschert hätte: »Ob du es glaubst oder nicht, das Haus war es, was ihn so deprimiert hat. Das Haus von seinen Großeltern, in das er letzten Herbst wieder eingezogen ist. Weil so ein Haus, das ist unten am Boden angewachsen, und das hat etwas Deprimierendes. Wenn du das nicht verstehst, kann ich dir auch nicht helfen.«
Wie es genau ausgeht, bleibt hier dahingestellt, dass dies der letzte Roman der Serie sein soll, wurde jedoch schon mehrfach annonciert. Zeit für einen kurzen Rückblick.
Am 28. April 2001 stellt die Moderatorin Barbara Stöckl in der ORF-Show Millionenquiz die 320.000-Schilling-Frage: »Welcher Roman ist nicht von Wolf Haas? A) Der Knochenmann B) Komm, süßer Tod C) Mittsommermord D) Silentium!« Die Kandidatin kennt Wolf Haas zwar nicht, hat aber Henning Mankells Roman gelesen und besteht diese Runde verdient. Bei der darauffolgenden Frage scheidet sie aus.
Zu diesem Zeitpunkt ist sie fast schon Angehörige einer Minderheit, hat doch Wolf Haas mit Auferstehung der Toten (1996), Der Knochenmann (1997), Komm, süßer Tod (1998) und Silentium! (1999) die Figur des Simon Brenners fest in der Kriminalliteratur etabliert, steht die Publikation von Wie die Tiere (2001) kurz bevor und gibt es mit Die Liebe in den Zeiten des Cola-Rausches (1993) und Ausgebremst (1998) auch noch zwei zwar sehr anders geartete, nichts desto weniger aber hervorragende Romane (überdies ein wissenschaftliches Standardwerk über Sprachtheoretische Grundlagen der Konkreten Poesie und mehrere Kurzgeschichten wie Essays). Beachtung finden jedoch in erster Linie die Erzählungen rund um die Ermittlungen des Privatdetektivs Brenner.
Von Anbeginn gibt es neben diesem eine mindestens gleichwertige Hauptfigur, ohne deren präzisen Einsatz, deren »hysterische Dauerpräsenz« (Haas in einem Interview) der Erfolg nur bedingt möglich gewesen wäre und die dennoch in den Rezensionen selten mehr als oberflächliche Beachtung findet: die Stimme aus dem Off. Der Erzähler und die an diesen gebundene Sprachführung ist, scheints, statt Anlaß für erzähltheoretische und sprachkritische Überlegungen eine einzige Versuchung, aus diesen Romanen irgendeine Form des »Österreichischen« zu destillieren, Haas pflichtschuldigst in die Ecke der österreichischen Literatur zu stellen und ansonsten an den Romanen seine Hetz zu haben – als wäre das in Österreich nicht Warnung genug. Tatsächlich aber dürfte es nicht so sehr von Belang sein, wo (wenn überhaupt) so gesprochen wird – es ist vielmehr von Relevanz, wie man ›spricht‹ und erzählt.
Es geht in diesen Romanen nicht um Erlösung, es sind keine großen Tragödien, Mitleid kommt nicht wirklich zum Tragen – und das »rauhe Gelächter eines starken Mannes« (Raymond Chandler) fehlt in jedem Fall. Die Räume um seine Figuren sind nicht anrüchig, scheinen vielmehr territorialen Banalitäten des Alltags angeglichen. Dabei wird gesprochen, ständig, unablässig wird gesprochen, geredet, getratscht, mitgeteilt, räsoniert, wiederholt und all das immer wieder. Regie führt ein Autor, der sich seiner sprachlichen Mittel sehr bewußt ist.
Wer spricht, ist nur sehr bedingt ein Detektiv. Zumeist erzählt eine Figur, deren Qualitäten weniger in der Konzentration zu liegen schein und deren primäre Motivation ein ihr als übermächtig eingeschriebenes Mitteilungsbedürfnis ist. Die Entscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem wird immer wieder unterlaufen, der Erzähler weiß alles und läßt die Fäden, fast bis zum Schluß, nicht aus der Hand. Das läßt sich – bei allen strukturellen Differenzen – anhand des Formel 1-Romans Ausgebremst genauso verfolgen wie in den nunmehr sechs Krimis der ›Brenner-Serie‹: Dort ist der Erzähler (dem Erzähler zufolge!) »immer so still, dass die Großmutter ihn ›Hausgeist‹ genannt hat« und kann sein Tratschen folgerichtig nur eines auf dem Papier sein: große Literatur. Die eingangs zitierte Feststellung von Hank Williams läßt sich für Schweiger Simon Brenner vielleicht transponieren: »Wer redet, bleibt. Wer schweigt, geht.«
Wolf Haas: Das ewige Leben. Hamburg: Hoffmann und Campe 2003. ISBN 3-455-02559-5