Chiffre »B«

Robert Musil, Nachlass, Mappe VII-1, S. 52

(Im Zuge der Vorbereitung für einen mündlichen Tagungs-Kommentars zum Kapitel Die Stadt B. in Musils Nachlass, eine Vorstufe aus 1928 zum Mann ohne Eigenschaften, für einen späterhin eventuell zu publizierenden Beitrag im Band 3 der Reihe Teilweise Musil, stellt sich die Vertracktheit des Buchstabens B ein, wie in der Folge angedeutet werden soll. Der thematische Zusammenhang ›Architektur‹ des von Roland Innerhofer und Burkhardt Wolf herauszugebenden Bandes und der darin/damit zu kommentierenden Kapitel des MoE legt eine gewisse Fokussierung der Zugänge nahe. Der beabsichtigte Kommentar Vom Bauwelsch auf der B-Side soll die Bedeutung des Kapitels für die kakanische Motivlage des gedruckten und mithin kanonisch erachteten MoE offenlegen.)

Die Stadt »B.« nennen, weil es zur »Art der Beschreibung« passt, wenn das zunächst auf »Kknien« zielt; dann »Knien, das den Weltkrieg entfesselt hat.« (Nachlass, VII/1/52)

Avant la lettre war das B der Bau. Der zweitgereihte Buchstabe des Alphabets stammt in seiner frühesten nachweisbaren Form bet aus dem Phönizischen, rührt vom Grundriss eines quadratischen Raums mit einer Öffnung her und bezeichnet derart als Bild ein Haus; er gibt Zeugnis vom kulturgeschichtlich so bedeutsamen Medienwechsel vom allein dreidimensional begreifbaren Raumgeschehen zur symbolisch aufzuladenden, damit repräsentativen Schreib-Fläche der Verwaltung und Literatur. Die Hebräer (beth) wie die Griechen übernahmen Buchstaben und Bedeutungszusammenhang, letztere setzten noch ein ›Stockwerk‹ auf (die Vermutung wäre, dass dies zur Unterscheidung von anderen Zeichen und just dann passiert, als Ansiedlungen zu Städtebauten verdichtet werden) und spiegelten, als sie die Schreibrichtung änderten, das Beta mit dieser nach rechts. Robert Musil wird das [be:] als B schreiben und dieses sechzehnthäufigste Graphem der deutschen Sprache im 1928 verfassten Kapitel Die Stadt B. – einer auch im Wortsinn ›Vorstufe‹ für den so umfassend angelegten Bau des Mannes ohne Eigenschaften – rhetorisch bewusst alliterativ setzen (ohne Rücksicht auf Häufigkeitsanalysen und davon abgeleitete Algorithmen unterschiedlicher Entropiekodierungen, die auf Eindeutigkeit im Bezeichnen und Dechiffrieren abzielen; das war nicht sein Geschäft). Die Stadt B. steht – durchaus absichtsvoll – sowohl für Brno als auch Brünn, mit »B« beginnen auch gegenläufige Attribuierungen wie »baumwimpelig« und »bloßfüßig«, vor allem aber (i.a.R) Schlüsselworte wie »Balkanisierung«, »Barock«, »Bauern«, »Bauernland«, »Baukunst«, »Bausprache«, »Bauwelsch«, »Beamtenarmee«, »Beamte«, »Bedacht«, »Bedürfnis«, »Belange«, »Besitz«, »Bewohner«, »Bildung«, »Bildungsanstalten«, »Bischofsresidenz«, »Blitzschlag«, »Blutrache«, »Böhminnen«, »Böhmen« und »Bürger«. In den Umarbeitungen des Kapitels werden zudem noch ›Bevölkerung‹, ›Bild‹, ›Bilderbuch‹, ›Bilderschrift‹, ›Biografie‹, ›Buch‹ und ›Bürokratie‹ ihre Bedeutung haben, teils als Oberbegriffe, teils expressis verbis. Die etwas stupende Alliteration mag sich an dieser Stelle zwar mühsam gehäuft lesen, doch ganz im Gegenteil entfalten die beispielhaft genannten Bezeichnungen durch ihre allenfalls paarweise erfolgende Setzung in den Zusammenhang des Textes, nebst der gehäuften Verwendung in Komposita, eine Sogwirkung, als wäre ein zweiter Kanal eröffnet, der zusätzliche Bedeutung transportiert, würde B als Signalement einer vieldeutigen kakanischen Chiffre genutzt; sozusagen eine zweite Ebene, wie im Beta des Altgriechischen. Beide Geschosse zu besichtigen und zueinander in Beziehung zu setzen, scheint jedenfalls lohnend: »Die geschilderte Stadt hatte also nicht nur die Ehre, der Geburtsort des friedliebenden Lyrikers Feuermaul zu sein [dem ein »Biermaul« gegenübergestellt wird; Anm.], sondern man darf ihr auch nachrühmen, daß sie ein Herd des Weltkriegs war.«


Liest man bloß die letzten Sätze dieses Kapitels, wird die Rede von der B-schreibung deutlich:

Das Bedürfnis, erregt und eindeutig zu sein, ergreift gleich eine solche gewöhnlich ja versagte Gelegenheit. Eine solche nationale  Leidenschaft nennt man Balkanisierung, und sie ist mit der Blutrache verwandt. Was aber Blutrache ist, erkennt man ausgezeichnet, wenn man sich vorstellt, daß man einen Mann, an dem man geschäftlich verdient, erdolchen müßte, weil ein Tunichtgut, mit dem man verwandt ist, von einem Tunichtgut, mit dem er verwandt ist, beleidigt worden ist. Das wäre ja zum Lachen, und so kommt Blutrache nur von dem Mangel an Geschäftsverbindungen, nationaler Geist aber ebenfalls. Den Mangel natürlicher Beziehungen vertreten augenblicklich Ideengespenster, von deren vampyrhaftem Herumfliegen in der heutigen Luft ja schon oftmals die Rede war.


Anmerkungen zum Kapitel:

• Das Kapitel 6 der »Kapitelgruppen (1928)«, Die Stadt B., wie in der Gesamtausgabe Bd. 6 (S. 547–558) aus Abschnitten auf den Nachlassblättern VII/1/52–54, VII/1/58–60 und VII/1/57 zusammengestellt:

… erweist sich hinsichtlich seiner Stichwörter, kakanischen Zusammenhänge und Verweise sowie den diversen Motivlagen als eine 1928 auf zahlreiche der 1930 und 1932 zum Druck gelangenden Kapitel vorausweisende Arbeit. Musil wird sie als solche nicht in die bei Rowohlt erscheinenden Bände einfügen. Gleichzeitig wird er in den Folgejahren in einer Häufigkeit auf die nun in der Stadt B. zusammengeführten Vermessungen dieser kakanischen Stadt zurückkommen, dass man meinen könnte, es wäre von Bedeutung, diesen zu folgen.
• Mit Oktober 1930 führt Musil in seinem Schreib- und Verweisapparat zwei Siglen ein, die den strukturierten Fortsetzungen des MoE verpflichtet sind: »I R Fr« und »II R Fr« – es handelt sich um ›Reinschrift-Fragen‹, bezogen auf die Bände respektive Bücher 1 und 2. In den derart gekennzeichneten (Kanzlei-) Blättern ist es ihm darum zu tun, aufzuarbeiten und zusammenzustellen, was noch berücksichtigt werden muss, welche Verweise, Figuren, Motive und Themenkomplexe noch zu setzen und umzusetzen sind. Unter anderem findet sich in der Mappe II/8/227–236 das »Studienblatt Soziale Fragestellung«; diese Seiten entstanden zwischen Mai 1932 bis 14. Februar 1936 (zur Textgenetik vgl. Klagenfurter Ausgabe).
• Die Seite II/8/233 (beschrieben ab dem Mai 1932) ist im vorliegenden Zusammenhang insofern interessant, weil sie wie ein Exzerpt stichwortartig Motivgruppen und Schlüsselworte der Stadt B. zusammenführt, die noch nicht in einer Druckfassung erschienen. Manche dieser Extrapolierungen, Notizen und Sentenzen werden zusammen mit Abschnitten der Stadt B. 1933 in der Beschreibung einer kakanischen Stadt (GA 5, S. 175–193) Verwendung finden.